"Eyes Wide Shut" (Stanley Kubrick): Unterschied zwischen den Versionen
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==Traum als Theater== | ==Traum als Theater== | ||
Die nächtliche Zusammenkunft einer maskierten Geheimgesellschaft in einem abgelegenen Haus auf dem Land ist als von de Sade inspiriertes sexuelles Theater in Szene gesetzt. Die Sequenz dauert rund 18 Minuten und folgt der Dramaturgie des vieraktigen Dramas (und damit C. | Die nächtliche Zusammenkunft einer maskierten Geheimgesellschaft in einem abgelegenen Haus auf dem Land ist als von de Sade inspiriertes sexuelles Theater in Szene gesetzt. Die Sequenz dauert rund 18 Minuten und folgt der Dramaturgie des vieraktigen Dramas (und damit C.G. Jungs struktureller Einteilung von Träumen in vier Phasen; Jung 1976). Durch verschiedene Masken, durch räumliche Anordnungen und Blickrichtungen sowie die klare Trennung zwischen Handelnden und Zuschauenden wird eine Theatersituation etabliert. | ||
Nach der Einführung des Ortes, der Vorstellung der handelnden Personen und dem ersten Hinweis, dass Bill ein ungebetener Gast ist – nach Jung die 1. Traumphase, die Exposition – schreitet Bill in der zweiten Phase durch die Räumlichkeiten. Aus seiner Perspektive blicken auch die Filmzuschauer:innen auf die kopulierenden Paare und Gruppenkonstellationen, die als erotische ''tableaux vivant'' arrangiert sind. | Nach der Einführung des Ortes, der Vorstellung der handelnden Personen und dem ersten Hinweis, dass Bill ein ungebetener Gast ist – nach Jung die 1. Traumphase, die Exposition – schreitet Bill in der zweiten Phase durch die Räumlichkeiten. Aus seiner Perspektive blicken auch die Filmzuschauer:innen auf die kopulierenden Paare und Gruppenkonstellationen, die als erotische ''tableaux vivant'' arrangiert sind. | ||
Die Kameraführung suggeriert ein traumhaftes, surreales Erleben, da die konventionelle, an der Alltagswahrnehmung orientierte Formsprache der Kamera für Bewegungen im Raum aufgehoben ist. Die Kamera ‚fährt‘ nicht durch das Labyrinth der Räume, sie gleitet wie schwebend. Wenn Bill ein neues Zimmer betritt, verbindet Kubrick die Einstellungen durch Überblendungen. Die Filmzuschauer:innen verlieren dadurch die Orientierung, da die Schauplatzänderungen sich nicht zwangsläufig aus der abgebildeten Architektur ergeben, sondern willkürlich scheinen. Dies erinnert an die keiner physikalischen Logik folgenden Ortswechsel im Traum; der Gang durch das Haus – selbst schon Traumsymbol – ist auf einen ‚Tagesrest‘ zurückzuführen, nämlich | |||
Das erotisch-pornografische Stationendrama endet in einer Bibliothek; maskierte Zuschauer:innen sitzen vor hohen Bücherregalen, es hat sich ein Kreis gebildet, in der Mitte vollführt ein Paar einen Geschlechtsakt auf dem Rücken eines knieenden Dritten. Der hier aufgebaute Kontrast von kultureller Zivilisation und sexueller Begierde ist überdeutlich. In diesem Setting wird Bill zum zweiten Mal gewarnt, dann schlägt die Handlung um | Die Kameraführung suggeriert ein traumhaftes, surreales Erleben, da die konventionelle, an der Alltagswahrnehmung orientierte Formsprache der Kamera für Bewegungen im Raum aufgehoben ist. Die Kamera ‚fährt‘ nicht durch das Labyrinth der Räume, sie gleitet wie schwebend. Wenn Bill ein neues Zimmer betritt, verbindet Kubrick die Einstellungen durch Überblendungen. Die Filmzuschauer:innen verlieren dadurch die Orientierung, da die Schauplatzänderungen sich nicht zwangsläufig aus der abgebildeten Architektur ergeben, sondern willkürlich scheinen. Dies erinnert an die keiner physikalischen Logik folgenden Ortswechsel im Traum; der Gang durch das Haus – selbst schon Traumsymbol – ist auf einen ‚Tagesrest‘ zurückzuführen, nämlich den Aufbruch des Paares zu der Weihnachtsparty am Anfang des Films, der durch die Räume ihres Apartments geführt hat. | ||
Das erotisch-pornografische Stationendrama endet in einer Bibliothek; maskierte Zuschauer:innen sitzen vor hohen Bücherregalen, es hat sich ein Kreis gebildet, in der Mitte vollführt ein Paar einen Geschlechtsakt auf dem Rücken eines knieenden Dritten. Der hier aufgebaute Kontrast von kultureller Zivilisation und sexueller Begierde ist überdeutlich. In diesem Setting wird Bill zum zweiten Mal gewarnt, dann schlägt die Handlung um; er wird quasi verhaftet, noch einmal durch das Haus geleitet – diesmal sind es lange Flure ohne Türen – und vor ein Tribunal aus Maskenträgern gestellt. Diese dritte Phase ist relativ kurz, so dass die Handlung mit dem Verhör Bills zum Höhepunkt der Sequenz und zur Auflösung des Dramas strebt. | |||
Bill wird als Eindringling enttarnt und gezwungen, die Maske abzunehmen und ist nun als einzige Person im Raum individualisiert. Nacktheit und Entblößung sind einerseits universelle Traumsymbole, andererseits markiert die Abnahme der Maske auch das Ende des Spiels, den Übergang vom Theater in die soziale Realität. | Bill wird als Eindringling enttarnt und gezwungen, die Maske abzunehmen und ist nun als einzige Person im Raum individualisiert. Nacktheit und Entblößung sind einerseits universelle Traumsymbole, andererseits markiert die Abnahme der Maske auch das Ende des Spiels, den Übergang vom Theater in die soziale Realität. | ||
Die Stimme von Bills Retterin ertönt in dem Moment, als Bill aufgefordert wird, sich auszuziehen. Es bleibt offen, ob er sich dieser Drohung beugen würde oder nicht, da sich eine schöne Unbekannte an seiner statt anbietet. Das Opfer wird akzeptiert und Bill des Raumes verwiesen. Die letzte Einstellung der Sequenz ist eine Nahaufnahme Bills | |||
Die Stimme von Bills Retterin ertönt in dem Moment, als Bill aufgefordert wird, sich auszuziehen. Es bleibt offen, ob er sich dieser Drohung beugen würde oder nicht, da sich eine schöne Unbekannte an seiner statt anbietet. Das Opfer wird akzeptiert, und Bill des Raumes verwiesen. Die letzte Einstellung der Sequenz ist eine Nahaufnahme Bills; es folgt ein harter Schnitt, und die nächste Halbtotale zeigt Bill, wie er seine Wohnungstür öffnet. | |||
==Traum als Erzählung== | ==Traum als Erzählung== | ||
Als Bill nachts wieder nach Hause kommt, versteckt er zunächst sein Kostüm, eine Blende leitet über zur nächsten Szenerie: dem Schlafzimmer der Harfords. Alice lacht im Schlaf. Bill weckt sie. Nach einem kurzen Dialog beginnt Alice mit ihrer Traumerzählung. Ihre erotischen Traumerlebnisse, die sado-masochistische Anklänge haben, sind eine Art Mimikry der Orgie. Inszenatorisch steht das gesprochene Wort im Mittelpunkt. Die etwa 6,5 Minuten lange Traumerzählung löst Kubrick in 15 Einstellungen auf; nach einem Establishing Shot in der Halbtotalen überwiegen die Nah- und Großaufnahmen. Schnitt und Montage sind der Erzählung untergeordnet, das eher konventionelle Schuss-Gegenschuss-Verfahren, das Kubrick hier verwendet, ist ganz auf den Dialog bzw. Alice’ Monolog abgestimmt. Die Sequenz endet mit einer Abblende, was eine deutliche innerfilmische Zäsur markiert: Die Geschehnisse der Nacht sind vorüber, nach einem kurzen Schwarzbild folgt die Aufblende und zeigt eine Totale von einer belebten Straße. Bill steigt aus dem Taxi. Im hellen Licht des Tages unterzieht er nun seine Erlebnisse einem ‚Realitätstest‘. | Als Bill nachts wieder nach Hause kommt, versteckt er zunächst sein Kostüm, eine Blende leitet über zur nächsten Szenerie: dem Schlafzimmer der Harfords. Alice lacht im Schlaf. Bill weckt sie. Nach einem kurzen Dialog beginnt Alice mit ihrer Traumerzählung. Ihre erotischen Traumerlebnisse, die sado-masochistische Anklänge haben, sind eine Art Mimikry der Orgie. Inszenatorisch steht das gesprochene Wort im Mittelpunkt. Die etwa 6,5 Minuten lange Traumerzählung löst Kubrick in 15 Einstellungen auf; nach einem Establishing Shot in der Halbtotalen überwiegen die Nah- und Großaufnahmen. Schnitt und Montage sind der Erzählung untergeordnet, das eher konventionelle Schuss-Gegenschuss-Verfahren, das Kubrick hier verwendet, ist ganz auf den Dialog bzw. Alice’ Monolog abgestimmt. Die Sequenz endet mit einer Abblende, was eine deutliche innerfilmische Zäsur markiert: Die Geschehnisse der Nacht sind vorüber, nach einem kurzen Schwarzbild folgt die Aufblende und zeigt eine Totale von einer belebten Straße. Bill steigt aus dem Taxi. Im hellen Licht des Tages unterzieht er nun seine Erlebnisse einem ‚Realitätstest‘. | ||
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Sandra Nuy]]</div> | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Sandra Nuy]]</div> | ||
==DVD-Veröffentlichung== | ==DVD-Veröffentlichung== | ||
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===Kontexte=== | ===Kontexte=== | ||
* Jung, Carl Gustav: Vom Wesen der Träume. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8: Die Dynamik des Unbewussten. Hg. von Marianne Niehus-Jung u.a. Olten,Freiburg: Rascher 1976, 311-327. | * Jung, Carl Gustav: Vom Wesen der Träume. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 8: Die Dynamik des Unbewussten. Hg. von Marianne Niehus-Jung u.a. Olten, Freiburg: Rascher 1976, 311-327. | ||
===Forschungsliteratur=== | ===Forschungsliteratur=== | ||
* Botz-Bornstein, Thorsten: Films and Dreams. Tarkovsky, Bergman, Sokurov, Kubrick, and Wong Kar-Wai. Plymouth: Lexington 2007. | * Botz-Bornstein, Thorsten: Films and Dreams. Tarkovsky, Bergman, Sokurov, Kubrick, and Wong Kar-Wai. Plymouth: Lexington 2007. | ||
* Benthien, Claudia: Albertines Traum. Paradoxien des Handlungsbegriffs in Schnitzlers ''Traumnovelle'' [1925] und Kubricks ''Eyes Wide Shut'' [1999]. In: Paragrana 18 (2009), 230-241. | * Benthien, Claudia: Albertines Traum. Paradoxien des Handlungsbegriffs in Schnitzlers ''Traumnovelle'' [1925] und Kubricks ''Eyes Wide Shut'' [1999]. In: Paragrana 18 (2009), 230-241. | ||
* Dupont, Jocelyn: Rêve et fantasme dans | * Dupont, Jocelyn: Rêve et fantasme dans ''Traumnovelle'' et ''Eyes Wide Shut''. In: Journal of the Short Story in English/Les Cahiers de la nouvelle 59 (2012); [https://journals.openedition.org/jsse/1327 online] (12.8.22) | ||
* Farese, Giuseppe: Arthur Schnitzler – Stanley Kubrick. Ein Duell ohne Sieger. In: Achim Aurnhammer/Barbara Beßlich/Rudolf Denk (Hg.): Arthur Schnitzler und der Film. Würzburg: Ergon 2010, 359-371. | * Farese, Giuseppe: Arthur Schnitzler – Stanley Kubrick. Ein Duell ohne Sieger. In: Achim Aurnhammer/Barbara Beßlich/Rudolf Denk (Hg.): Arthur Schnitzler und der Film. Würzburg: Ergon 2010, 359-371. | ||
* Freytag, Julia: Verhüllte Schaulust. Die Maske in Schnitzlers ''Traumnovelle'' und in Kubricks ''Eyes Wide Shut''. Bielefeld: transcript 2007; [https://www.transcript-verlag.de/ | * Freytag, Julia: Verhüllte Schaulust. Die Maske in Schnitzlers ''Traumnovelle'' und in Kubricks ''Eyes Wide Shut''. Bielefeld: transcript 2007; [https://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-425-6/verhuellte-schaulust/ online] (12.8.22). | ||
* Hahn, Henrike: Verfilmte Gefühle: Von ''Fräulein Else'' bis ''Eyes Wide Shut''. Arthur Schnitzlers Texte auf der Leinwand. Bielefeld: transcript 2014. | * Hahn, Henrike: Verfilmte Gefühle: Von ''Fräulein Else'' bis ''Eyes Wide Shut''. Arthur Schnitzlers Texte auf der Leinwand. Bielefeld: transcript 2014. | ||
* Hans-Thies Lehmann: Film-Theater. Masken/Identitäten in ''Eyes Wide Shut''. In: Bernd Eichhorn (Hg.): Stanley Kubrick. Frankfurt/M. 2004 (= Kinematograph Nr. 19. Katalog zur Ausstellung „Stanley Kubrick“ des Deutschen Filmmuseums und des Deutschen Architektur Museums), 232-243. | * Hans-Thies Lehmann: Film-Theater. Masken/Identitäten in ''Eyes Wide Shut''. In: Bernd Eichhorn (Hg.): Stanley Kubrick. Frankfurt/M. 2004 (= Kinematograph Nr. 19. Katalog zur Ausstellung „Stanley Kubrick“ des Deutschen Filmmuseums und des Deutschen Architektur Museums), 232-243. | ||
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* [https://www.stanleykubrick.de/ Webseite zur Stanley-Kubrick-Ausstellung (internationale Ausstellungstournee)] | * [https://www.stanleykubrick.de/ Webseite zur Stanley-Kubrick-Ausstellung (internationale Ausstellungstournee)] | ||
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