"Körper und Seele" (Ildikó Enyedi): Unterschied zwischen den Versionen
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Die ungarische Filmemacherin Ildikó Enyedi schrieb das Drehbuch und führte Regie in diesem Film von 2017, der mit einer Traumsequenz beginnt und einer bedeutungsvollen Traumlosigkeit endet. Im Film wird eines der wichtigsten Merkmale dessen aufgehoben, was man unter einem während des Schlafs erlebten Traum versteht, nämlich das absolut individuelle Erlebnis, an dem andere nicht teilnehmen können. Stattdessen teilen zwei Personen denselben Traum. Beide, eine Frau und ein Mann, begegnen sich dabei stets in einer nicht-menschlichen Gestalt. Obwohl diese körperliche Wandelbarkeit ins Repertoire eines fantastischen Traumgeschehens gehört, erscheinen Form und Inhalt des wiederkehrenden Traums sehr realistisch. Es gibt weder irreale Settings noch unlogische Entwicklungen. | Die ungarische Filmemacherin Ildikó Enyedi schrieb das Drehbuch und führte Regie in diesem Film von 2017, der mit einer Traumsequenz beginnt und mit einer bedeutungsvollen Traumlosigkeit endet. Im Film wird eines der wichtigsten Merkmale dessen aufgehoben, was man unter einem während des Schlafs erlebten Traum versteht, nämlich das absolut individuelle Erlebnis, an dem andere nicht teilnehmen können. Stattdessen teilen zwei Personen denselben Traum. Beide, eine Frau und ein Mann, begegnen sich dabei stets in einer nicht-menschlichen Gestalt. Obwohl diese körperliche Wandelbarkeit ins Repertoire eines fantastischen Traumgeschehens gehört, erscheinen Form und Inhalt des wiederkehrenden Traums sehr realistisch. Es gibt weder irreale Settings noch unlogische Entwicklungen. | ||
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| style="text-align: left;" colspan="2" align="center"|* Réka Tenki: Klára | | style="text-align: left;" colspan="2" align="center"|* Réka Tenki: Klára | ||
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==Werkentstehung== | ==Werkentstehung== | ||
Das Drehbuch schrieb die Regisseurin 2005 innerhalb weniger Wochen. Bis zur filmischen Umsetzung aber vergingen zehn Jahre, weil Probleme bei der Finanzierung überwunden werden mussten (Filmclip Cineuropa, 25.9.2017). Auf dem Portal Cineuropa heißt es, dass die Dreharbeiten vom 13. April bis zum 14. Juni 2015 in Budapest und Hajdúnánás stattfanden (ebd.). Einige Drehtage, vermutlich die der Traumsequenzen, waren für den folgenden Winter geplant. Im Sommer wurde eine Woche lang in einem Schlachthof gefilmt. Was bedeutet, dass die Szenen, in denen eingepferchte Kühe, ihre Tötung und das Zerteilen ihres Fleisches gezeigt werden, authentisch und dokumentierend sind. Den Schlachthof versteht die Regisseurin als Ort der Ehrlichkeit (Peitz, Der Film „Körper und Seele“, Tagesspiegel, 20.9.2017). An anderer Stelle spricht sie vom Schlachthof als einem Ort des Alltags, der in unserer Gesellschaft dennoch versteckt wird (Katzenberger, Interview "Bitte, hab' keine Angst", Süddeutsche Zeitung, 23.9.2017). Die Dreharbeiten für die Traumsequenzen nahmen ebenfalls eine Woche in Anspruch. Gedreht wurden diese im Bükk-Gebirge (Dreharbeiten zu ''Testről és lélekről'', https://www.youtube.com/watch?v=kDtQcnEmaE8, 19.01.2016). Die Regisseurin berichtete, dass sie mit ihrer Crew von der Morgen- bis zur Abenddämmerung filmte, unter anderem, um das blaue Dämmerlicht nutzen zu können (''Körper und Seele'' 2017, Interview mit Ildikó Enyedi im Bonusmaterial der DVD, 00:26:39 - 00:28:43). Der Regisseurin war es wichtig, in einem echten Wald mit echten Tieren zu drehen, um eine „traumhafte Verzerrung“ zu vermeiden (Katzenberger, Interview "Bitte, hab' keine Angst", Süddeutsche Zeitung, 23.9.2017). Dennoch erscheinen, wie sie sagt, diese Sequenzen märchenhaft schön, weil die Natur selbst so ist (ebd.). Nach Meinung der Regisseurin gibt es nur graduelle Unterschiede zwischen Menschen und Tieren, und beide haben eine Seele (ebd.). Dazu, dass sie Hirsche auswählte, um Wildtiere zu repräsentieren, meinte sie, diese seien quasi die Entsprechung zu den Kühen, es bestehe ein beinahe geschwisterliches Verhältnis zwischen den domestizierten Kühen und den freien Hirschen. Beides seien Tiere, mit denen die Menschen seit langer Zeit zusammenleben (Burg / Wellinski, Interview mit Ildikó Enyedi, Deutschlandfunk Kultur, 18.2.2017). | Das Drehbuch schrieb die Regisseurin 2005 innerhalb weniger Wochen. Bis zur filmischen Umsetzung aber vergingen zehn Jahre, weil Probleme bei der Finanzierung überwunden werden mussten (Filmclip Cineuropa, 25.9.2017). Auf dem Portal Cineuropa heißt es, dass die Dreharbeiten vom 13. April bis zum 14. Juni 2015 in Budapest und Hajdúnánás stattfanden (ebd.). Einige Drehtage, vermutlich die der Traumsequenzen, waren für den folgenden Winter geplant. Im Sommer wurde eine Woche lang in einem Schlachthof gefilmt. Was bedeutet, dass die Szenen, in denen eingepferchte Kühe, ihre Tötung und das Zerteilen ihres Fleisches gezeigt werden, authentisch und dokumentierend sind. Den Schlachthof versteht die Regisseurin als Ort der Ehrlichkeit (Peitz, Der Film „Körper und Seele“, Tagesspiegel, 20.9.2017). An anderer Stelle spricht sie vom Schlachthof als einem Ort des Alltags, der in unserer Gesellschaft dennoch versteckt wird (Katzenberger, Interview "Bitte, hab' keine Angst", Süddeutsche Zeitung, 23.9.2017). Die Dreharbeiten für die Traumsequenzen nahmen ebenfalls eine Woche in Anspruch. Gedreht wurden diese im Bükk-Gebirge (Dreharbeiten zu ''Testről és lélekről'', https://www.youtube.com/watch?v=kDtQcnEmaE8, 19.01.2016). Die Regisseurin berichtete, dass sie mit ihrer Crew von der Morgen- bis zur Abenddämmerung filmte, unter anderem, um das blaue Dämmerlicht nutzen zu können (''Körper und Seele'' 2017, Interview mit Ildikó Enyedi im Bonusmaterial der DVD, 00:26:39 - 00:28:43). Der Regisseurin war es wichtig, in einem echten Wald mit echten Tieren zu drehen, um eine „traumhafte Verzerrung“ zu vermeiden (Katzenberger, Interview "Bitte, hab' keine Angst", Süddeutsche Zeitung, 23.9.2017). Dennoch erscheinen, wie sie sagt, diese Sequenzen märchenhaft schön, weil die Natur selbst so ist (ebd.). Nach Meinung der Regisseurin gibt es nur graduelle Unterschiede zwischen Menschen und Tieren, und beide haben eine Seele (ebd.). Dazu, dass sie Hirsche auswählte, um Wildtiere zu repräsentieren, meinte sie, diese seien quasi die Entsprechung zu den Kühen, es bestehe ein beinahe geschwisterliches Verhältnis zwischen den domestizierten Kühen und den freien Hirschen. Beides seien Tiere, mit denen die Menschen seit langer Zeit zusammenleben (Burg / Wellinski, Interview mit Ildikó Enyedi, Deutschlandfunk Kultur, 18.2.2017). | ||
==Der Traum== | ==Der Traum== | ||
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Publikum keinen Einblick mehr hat. Zugleich träumen sie noch, womit angezeigt ist, dass sie dieses Hilfsmittel benötigen, sich also in der Realwelt nicht so nahe gekommen sind, dass sie sich ohne die Auslagerung ihrer Wünsche und Sehnsüchte in die transformierende Traumwelt begegnen könnten. Trotz ihrer wachsenden Vertrautheit im Traum, behalten beide in ihrer realen Gestalt als Menschen das „Sie“ als distanzierende Anrede bei. Endres Traum, in dem er allein unterwegs ist, manifestiert hingegen die Störung in ihrer Beziehung. | Publikum keinen Einblick mehr hat. Zugleich träumen sie noch, womit angezeigt ist, dass sie dieses Hilfsmittel benötigen, sich also in der Realwelt nicht so nahe gekommen sind, dass sie sich ohne die Auslagerung ihrer Wünsche und Sehnsüchte in die transformierende Traumwelt begegnen könnten. Trotz ihrer wachsenden Vertrautheit im Traum, behalten beide in ihrer realen Gestalt als Menschen das „Sie“ als distanzierende Anrede bei. Endres Traum, in dem er allein unterwegs ist, manifestiert hingegen die Störung in ihrer Beziehung. | ||
Den Störungen folgt schließlich deren Auflösung, die sowohl in der Real- als auch in der Traumwelt geschieht. Die Traumwelt am Ende des Films ist, wie jene am Anfang, nicht direkt als Traum gekennzeichnet, sondern lässt sich als solcher nur über das bekannte Setting als ein Raum, der parallel zur Realwelt existiert, deuten. Dass der bekannte Raum, der nun zu sehen ist, von den Tieren verlassen wurde, zeigt, gemeinsam mit der morgendlichen Diskussion, dass Maria und Endre ihn nicht mehr benötigen. Der Winterwald ihres gemeinsamen Traums ist darum geleert, steht jedoch als potenzieller Raum offen: innerfilmisch für einen möglichen Wiedereintritt oder außerfilmisch für das Publikum allgemein. Während der erste Traum aus einem Schwarzfilm entsteht, geht dieser letzte in ein vollkommen weißes Bild über. Der Film führte also aus dem Dunkeln in ein alles Weitere ausblendendes Licht, symbolisch daher vom Unklaren zum Erhellten und Überstrahlten. Die erzählerische Funktion des Traums, die darin bestand, zwei Menschen zueinander finden zu lassen, ihre jeweiligen Beeinträchtigungen zu überwinden und diese Liebe (wie verallgemeinerbar jede Liebe) in einen Status des Wunderbaren zu versetzen, ist vollzogen. | Den Störungen folgt schließlich deren Auflösung, die sowohl in der Real- als auch in der Traumwelt geschieht. Die Traumwelt am Ende des Films ist, wie jene am Anfang, nicht direkt als Traum gekennzeichnet, sondern lässt sich als solcher nur über das bekannte Setting als ein Raum, der parallel zur Realwelt existiert, deuten. Dass der bekannte Raum, der nun zu sehen ist, von den Tieren verlassen wurde, zeigt, gemeinsam mit der morgendlichen Diskussion, dass Maria und Endre ihn nicht mehr benötigen. Der Winterwald ihres gemeinsamen Traums ist darum geleert, steht jedoch als potenzieller Raum offen: innerfilmisch für einen möglichen Wiedereintritt oder außerfilmisch für das Publikum allgemein. Während der erste Traum aus einem Schwarzfilm entsteht, geht dieser letzte in ein vollkommen weißes Bild über. Der Film führte also aus dem Dunkeln in ein alles Weitere ausblendendes Licht, symbolisch daher vom Unklaren zum Erhellten und Überstrahlten. Die erzählerische Funktion des Traums, die darin bestand, zwei Menschen zueinander finden zu lassen, ihre jeweiligen Beeinträchtigungen zu überwinden und diese Liebe (wie verallgemeinerbar jede Liebe) in einen Status des Wunderbaren zu versetzen, ist vollzogen. | ||
==Traumdarstellungen im Werk der Regisseurin== | ==Traumdarstellungen im Werk der Regisseurin== | ||
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Heike Endter]]</div> | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Heike Endter]]</div> | ||
==Literatur== | ==Literatur== | ||
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* Peitz, Christiane: Der Film ''Körper und Seele'': Die Rettung der Menschlichkeit. Tagesspiegel, 20.9.2017; https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-rettung-der-menschlichkeit-5503285.html (12.10.2022). | * Peitz, Christiane: Der Film ''Körper und Seele'': Die Rettung der Menschlichkeit. Tagesspiegel, 20.9.2017; https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-rettung-der-menschlichkeit-5503285.html (12.10.2022). | ||
* Türschmann, Jörg: poetischer Realismus. In: Lexikon der Filmbegriffe; https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/p:poetischerrealismus-6406 (20.10.2022). | * Türschmann, Jörg: poetischer Realismus. In: Lexikon der Filmbegriffe; https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/p:poetischerrealismus-6406 (20.10.2022). | ||
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