"Kassandra" (Christa Wolf): Unterschied zwischen den Versionen

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Am Vorabend der Übergabe der Priesterbinde träumt Kassandra von Apollon, dem Gott der Seher, der in einer verschobenen Form dem Priester Panthoos ähnelt, zu dem sie ein konfliktreiches Verhältnis hat:
Am Vorabend der Übergabe der Priesterbinde träumt Kassandra von Apollon, dem Gott der Seher, der in einer verschobenen Form dem Priester Panthoos ähnelt, zu dem sie ein konfliktreiches Verhältnis hat:


<Der Traum die Nacht zuvor kam ungerufen, und er hat mich sehr verstört. Daß es Apollon war, der zu mir kam, das sah ich gleich, trotz der entfernten Ähnlichkeit mit Panthoos, von der ich kaum hätte sagen können, worin sie bestand. Am ehesten im Ausdruck seiner Augen, die ich damals noch »grausam«, später, bei Panthoos Apoll! - nur »nüchtern« nannte. Apollon im Strahlen- nie wieder sah ich glanz, wie Panthoos ihn mich sehen lehrte. Der Sonnengott mit der Leier, blau, wenn auch grausam, die Augen, bronzefarben die Haut. Apollon, der Gott der Seher. Der wußte, was ich heiß begehrte: die Sehergabe, die er mir durch eine eigentlich beiläufige, ich wagte nicht zu fühlen: enttäuschende Geste verlieh, nur um sich mir dann als Mann zu nähern, wobei er sich - ich glaubte, allein durch meinen grauenvollen Schrecken - in einen Wolf verwandelte, der von Mäusen umgeben war und der mir wütend in den Mund spuckte, als er mich nicht überwältigen konnte. So daß ich beim entsetzten Erwachen einen unsagbar widerwärtigen Geschmack auf der Zunge spürte und mitten in der Nacht aus dem Tempel- bezirk, in dem zu schlafen ich zu jener Zeit verpflichtet war, in die Zitadelle, in den Palast, ins Zimmer, ins Bett der Mutter floh.> (K22-23)
>Der Traum die Nacht zuvor kam ungerufen, und er hat mich sehr verstört. Daß es Apollon war, der zu mir kam, das sah ich gleich, trotz der entfernten Ähnlichkeit mit Panthoos, von der ich kaum hätte sagen können, worin sie bestand. Am ehesten im Ausdruck seiner Augen, die ich damals noch »grausam«, später, bei Panthoos Apoll! - nur »nüchtern« nannte. Apollon im Strahlen- nie wieder sah ich glanz, wie Panthoos ihn mich sehen lehrte. Der Sonnengott mit der Leier, blau, wenn auch grausam, die Augen, bronzefarben die Haut. Apollon, der Gott der Seher. Der wußte, was ich heiß begehrte: die Sehergabe, die er mir durch eine eigentlich beiläufige, ich wagte nicht zu fühlen: enttäuschende Geste verlieh, nur um sich mir dann als Mann zu nähern, wobei er sich - ich glaubte, allein durch meinen grauenvollen Schrecken - in einen Wolf verwandelte, der von Mäusen umgeben war und der mir wütend in den Mund spuckte, als er mich nicht überwältigen konnte. So daß ich beim entsetzten Erwachen einen unsagbar widerwärtigen Geschmack auf der Zunge spürte und mitten in der Nacht aus dem Tempel- bezirk, in dem zu schlafen ich zu jener Zeit verpflichtet war, in die Zitadelle, in den Palast, ins Zimmer, ins Bett der Mutter floh. (K22-23)


Man erfährt, dass Kassandra nach ihrem entsetzten Erwachen einen ekelerregenden Geschmack auf der Zunge hat und dass sie mitten in der Nacht aus dem Tempelbezirk, der Zitadelle, dem Palast und ihrem Zimmer geflohen ist, um schließlich im Bett ihrer Mutter Zuflucht zu finden (K 23). Die Angst vor der Vereinigung mit dem Sonnengott Apollon erweist sich als Auslöser des Alptraums. Merkwürdigerweise versucht die Mutter Hekabe nicht, den Traum ihrer Tochter zu deuten, obwohl sie sich über die wolfsähnliche Gestalt Apollons Sorgen macht. Denn für sie gibt es nichts Ehrenhafteres als den Willen eines Gottes, sich mit einer »Sterblichen« zu vereinen (ebd.). Angesichts der Zweifeln und Gleichgültigkeit von Panthoos der Grieche an der Berufung von Kassandra zum Priestertum, lässt Kassandra ihren Traum schließlich von Marpessa deuten. »Wenn Apollon dir in den Mund spuckt (…) bedeutet das: Du hast die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Doch niemand wird dir glauben« (K 33).
Man erfährt, dass Kassandra nach ihrem entsetzten Erwachen einen ekelerregenden Geschmack auf der Zunge hat und dass sie mitten in der Nacht aus dem Tempelbezirk, der Zitadelle, dem Palast und ihrem Zimmer geflohen ist, um schließlich im Bett ihrer Mutter Zuflucht zu finden (K 23). Die Angst vor der Vereinigung mit dem Sonnengott Apollon erweist sich als Auslöser des Alptraums. Merkwürdigerweise versucht die Mutter Hekabe nicht, den Traum ihrer Tochter zu deuten, obwohl sie sich über die wolfsähnliche Gestalt Apollons Sorgen macht. Denn für sie gibt es nichts Ehrenhafteres als den Willen eines Gottes, sich mit einer »Sterblichen« zu vereinen (ebd.). Angesichts der Zweifeln und Gleichgültigkeit von Panthoos der Grieche an der Berufung von Kassandra zum Priestertum, lässt Kassandra ihren Traum schließlich von Marpessa deuten. »Wenn Apollon dir in den Mund spuckt (…) bedeutet das: Du hast die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Doch niemand wird dir glauben« (K 33).
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<Gegen Abend schlief ich ein, ich weiß noch, ich träumte von einem Schiff, das den Aineias über glattes blaues Wasser von unserer Küste wegführte, und von einem ungeheuren Feuer, das sich, als das Schiff sich gegen den Horizont hin entfernte, zwischen die Wegfahrenden und uns, die Daheimgebliebenen, legte. Das Meer brannte. Dies Traumbild seh ich heute noch, so viele andre, schlimmere Wirklichkeitsbilder sich auch darübergelegt haben. Gern wüßte ich (was denk ich da! gern? wüßte? ich? Doch. Die Worte stimmen), gern wüßte ich, welche Art Unruhe, unbemerkt von mir, mitten im Frieden, mitten im Glück: so redeten wir doch! solche Träume schon heraufrief. Schreiend erwachte ich […].> (K26)
 
 
>Gegen Abend schlief ich ein, ich weiß noch, ich träumte von einem Schiff, das den Aineias über glattes blaues Wasser von unserer Küste wegführte, und von einem ungeheuren Feuer, das sich, als das Schiff sich gegen den Horizont hin entfernte, zwischen die Wegfahrenden und uns, die Daheimgebliebenen, legte. Das Meer brannte. Dies Traumbild seh ich heute noch, so viele andre, schlimmere Wirklichkeitsbilder sich auch darübergelegt haben. Gern wüßte ich (was denk ich da! gern? wüßte? ich? Doch. Die Worte stimmen), gern wüßte ich, welche Art Unruhe, unbemerkt von mir, mitten im Frieden, mitten im Glück: so redeten wir doch! solche Träume schon heraufrief. Schreiend erwachte ich […]. (K26)


Nach dem Alptraum wacht sie schreiend auf und wird von Aneias getröstet, der sie zu ihrer Mutter trägt. Das brennende Meer bleibt ein prägendes Traumbild, das Kassandra nicht loslässt. Ihre Fragen und Träume lösen sich auf, nachdem ihre Mutter ihr ein Getränk verabreicht hat. In diesem Zusammenhang lässt sich der Alptraum von Kassandra einigermaßen als eine spannungssteigernde Prolepse im Hinblick auf die späteren Kriegserlebnisse in Troja lesen. Sich an ihre Jugendzeit erinnernd wird der Ursprung ihrer Angstträume ans Licht gebracht (K 50). In diesen Träumen empfindet sie Lust für Aneias, der sie aber bedroht. Doch diese Träume, die bei ihr Schuldgefühl, Verzweiflung und Selbstentfremdung hervorrufen, erinnern an dem ersten Anfall Kassandras, als sie die Wahrheit über das zweite Schiff von Aineas erfährt. Das zweite Schiff wurde ausgesandt, angeführt von Aineas Vater Anchises und dem Seher Kalchas. Die Mission bestand darin, Hesione, die Schwester von Priamos, zurückzubringen, die angeblich von Telamon, dem König von Sparta, entführt wurde. Die Mission scheitert jedoch auf zweierlei Weise. Das zweite Schiff kehrt nicht nur ohne Hesione zurück, die mittlerweile Telamons Frau und Königin von Sparta geworden ist, sondern auch ohne den Seher Kalchas. Dieser bleibt freiwillig in Griechenland, doch aus Staatsräson wird die Propagandalüge verbreitet, Kalchas werde von den Griechen als Geisel festgehalten (K 44-47). Kassandra muss feststellen, dass sich ein Kreis des Schweigens (K 46) um sie schließt, dass man ihr die Wahrheit vorenthält. Von Aineas erfährt sie die Wahrheit und zum ersten Mal entladen sich ihr Schmerz, ihre Wut, ihre Angst und ihre Verzweiflung in einem Anfall.
Nach dem Alptraum wacht sie schreiend auf und wird von Aneias getröstet, der sie zu ihrer Mutter trägt. Das brennende Meer bleibt ein prägendes Traumbild, das Kassandra nicht loslässt. Ihre Fragen und Träume lösen sich auf, nachdem ihre Mutter ihr ein Getränk verabreicht hat. In diesem Zusammenhang lässt sich der Alptraum von Kassandra einigermaßen als eine spannungssteigernde Prolepse im Hinblick auf die späteren Kriegserlebnisse in Troja lesen. Sich an ihre Jugendzeit erinnernd wird der Ursprung ihrer Angstträume ans Licht gebracht (K 50). In diesen Träumen empfindet sie Lust für Aneias, der sie aber bedroht. Doch diese Träume, die bei ihr Schuldgefühl, Verzweiflung und Selbstentfremdung hervorrufen, erinnern an dem ersten Anfall Kassandras, als sie die Wahrheit über das zweite Schiff von Aineas erfährt. Das zweite Schiff wurde ausgesandt, angeführt von Aineas Vater Anchises und dem Seher Kalchas. Die Mission bestand darin, Hesione, die Schwester von Priamos, zurückzubringen, die angeblich von Telamon, dem König von Sparta, entführt wurde. Die Mission scheitert jedoch auf zweierlei Weise. Das zweite Schiff kehrt nicht nur ohne Hesione zurück, die mittlerweile Telamons Frau und Königin von Sparta geworden ist, sondern auch ohne den Seher Kalchas. Dieser bleibt freiwillig in Griechenland, doch aus Staatsräson wird die Propagandalüge verbreitet, Kalchas werde von den Griechen als Geisel festgehalten (K 44-47). Kassandra muss feststellen, dass sich ein Kreis des Schweigens (K 46) um sie schließt, dass man ihr die Wahrheit vorenthält. Von Aineas erfährt sie die Wahrheit und zum ersten Mal entladen sich ihr Schmerz, ihre Wut, ihre Angst und ihre Verzweiflung in einem Anfall.
==='''3.3. Traum III: Kassandras (Alp)traum von dem Kind der Asterope und des Aisakos (K 59)'''===
==='''3.3. Traum III: Kassandras (Alp)Traum von dem Kind der Asterope und des Aisakos (K 59)'''===
Kassandra träumt von dem Kind der Asterope und des Aisakos, das mit ihrer Mutter zusammen bei der Geburt gestorben ist:
Kassandra träumt von dem Kind der Asterope und des Aisakos, das mit ihrer Mutter zusammen bei der Geburt gestorben ist:


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Kassandra lässt ihren Traum von Merops, dem uralten Traumdeuter, deuten. Dieser Letzere erklärt ihr den Traum nicht, sondern warnt er Kassandras Mutter Hekabe vor den Männern, die Aisakos ähnlich sähen und empfehlt ihr, diese aus der Nähe der Tochter zu entfernen. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass diesem Albtraum ein erschütterndes Ereignis vorausgeht, der Kassandra zum ersten Mal in einen anfallähnlichen Zustand versetzt: Der Tod ihres meistgeliebten Bruders Aisakos in der Vorkriegszeit. Er wird als einen kräftigen, warmhäutigen Mann mit dem braunen Kraushaar beschrieben, der anders als alle ihre Bruder zu ihr war (Vgl. K 58). Aisakos versucht mehrfach, sich das Leben zu nehmen, nachdem ihre junge und schöne Frau Asterope im Kinderbett stirbt. Er wird von seinen Bewachern gerettet, bis er nicht mehr gefunden wird und später verzweifelt ins Meer eintaucht. Der schwarze Vogel mit roten Hals, der nach dem Eintauchen Aisakos auftaucht, wird allerdings von dem Orakeldeuter Kalchas als eine verwandelte Gestalt Aisakos ausgelegt. Als dieser Alptraum eintritt, trauert Kassandra um den Tod ihres Bruders Aisakos. Darüber hinweg erscheint die Interpretation des toten Kindes als Kassandras mangelnder Wille, Mutter zu werden, plausibel.  
Kassandra lässt ihren Traum von Merops, dem uralten Traumdeuter, deuten. Dieser Letzere erklärt ihr den Traum nicht, sondern warnt er Kassandras Mutter Hekabe vor den Männern, die Aisakos ähnlich sähen und empfehlt ihr, diese aus der Nähe der Tochter zu entfernen. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass diesem Albtraum ein erschütterndes Ereignis vorausgeht, der Kassandra zum ersten Mal in einen anfallähnlichen Zustand versetzt: Der Tod ihres meistgeliebten Bruders Aisakos in der Vorkriegszeit. Er wird als einen kräftigen, warmhäutigen Mann mit dem braunen Kraushaar beschrieben, der anders als alle ihre Bruder zu ihr war (Vgl. K 58). Aisakos versucht mehrfach, sich das Leben zu nehmen, nachdem ihre junge und schöne Frau Asterope im Kinderbett stirbt. Er wird von seinen Bewachern gerettet, bis er nicht mehr gefunden wird und später verzweifelt ins Meer eintaucht. Der schwarze Vogel mit roten Hals, der nach dem Eintauchen Aisakos auftaucht, wird allerdings von dem Orakeldeuter Kalchas als eine verwandelte Gestalt Aisakos ausgelegt. Als dieser Alptraum eintritt, trauert Kassandra um den Tod ihres Bruders Aisakos. Darüber hinweg erscheint die Interpretation des toten Kindes als Kassandras mangelnder Wille, Mutter zu werden, plausibel.  
==='''3.4. Traum IV: Hekabes (Alp)traum von dem verfluchten Kind Paris (K 66)'''===
==='''3.4. Traum IV: Hekabes (Alp)Traum von dem verfluchten Kind Paris (K 66)'''===
Die Spekulationen um die Geburt von Paris, der Verursacher des Untergangs Trojas, stehen im Mittelpunkt der Erzählung. Der Geburt des Knaben geht eine Prophezeiung Aisakos voraus. Er verkündet damit, dass ein Fluch auf dem Kind liegt. Aber ausschlaggebend ist der Traum der Hekabe:
Die Spekulationen um die Geburt von Paris, der Verursacher des Untergangs Trojas, stehen im Mittelpunkt der Erzählung. Der Geburt des Knaben geht eine Prophezeiung Aisakos voraus. Er verkündet damit, dass ein Fluch auf dem Kind liegt. Aber ausschlaggebend ist der Traum der Hekabe:


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