"Reisende auf einem Bein" (Herta Müller): Unterschied zwischen den Versionen

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Thomas‘ Traum kann unter dem Blickwinkel seiner Homosexualität interpretiert werden. Er geht keine Beziehungen mit Männern ein. Wegen seiner Bindungsphobie und der Furcht vor der Aufdeckung kann er seine homoerotische Neigung nur auf dem Strich ausleben. Zwei Interpretationsansätze bieten sich an: Im Traum manifestiert sich seine Angst und Ekel vor der weiblichen Vereinnahmung sowie dem Verlust seiner sowohl männlichen als auch homosexuellen Identität. Die aufgerollten Lakritzschnecken, verknüpft mit dem Eisenbahnspiel ließen sich im Sinne einer freudianischen Umkehrung interpretieren. Das Zugmotiv stellt ein klassisches Phallussymbol dar wie beispielsweise am Ende von Alfred Hitchcocks Film ''Der unsichtbare Dritte'' (''North by Northwest''; USA 1959). Im Traum formen die Mädchen aus den Lakritzschnecken - aus einer klebrigen, süß-bitteren, schneckenförmigen Masse, die sich eine Vagina assoziieren lässt - die Eisenbahnschienen. In dieser Metamorphose vom weiblichen zum männlichen Genital tritt einerseits ein Transgenderaspekt zu Tage - auch Thomas Sohn wechselt sein Geschlecht - andererseits repräsentieren die ausschließlich weiblichen Protagonistinnen die Omnipräsenz und Dominanz des Weiblichen. Thomas erlebt den Geschlechterwechsel nicht als ein lustvolles Spiel, er gerinnt für ihn zum Alptraum, in dem das Weibliche aus der Verdrängung auftaucht und die weibliche Lust seine männliche und homosexuelle Identität gleich in doppelter Weise bedroht: zum einen durch die völlige Absenz männlicher Subjekte, zum anderen weil das Männliche auf die Genitalien reduziert und objektiviert wird und lediglich als verformbares Sexualobjekt für den weiblichen Blick fungiert. Thomas' Traum ließe sich aber, entgegen seiner eigener emotionalen Abwehr, auch als ein Wunschtraum interpretieren. Trotz des artikulierten Ekels gegenüber Irene („jetzt wirst Du welken, zuerst dein Magen, dann dein Hals, dann dein Gesicht“, RB 110) geht Thomas eine sexuelle Beziehung mit ihr ein: „Ich musste Dich doch rasch noch lieben, bevor du welkst“ (RB 111). Thomas stößt ab, was er begehrt. Dieser Verdrängung und Absenz des Weiblichen in Thomas‘ Wachleben steht die Omnipräsenz des Weiblichen in seinem Traum gegenüber.
Thomas‘ Traum kann unter dem Blickwinkel seiner Homosexualität interpretiert werden. Er geht keine Beziehungen mit Männern ein. Wegen seiner Bindungsphobie und der Furcht vor der Aufdeckung kann er seine homoerotische Neigung nur auf dem Strich ausleben. Zwei Interpretationsansätze bieten sich an: Im Traum manifestiert sich seine Angst und Ekel vor der weiblichen Vereinnahmung sowie dem Verlust seiner sowohl männlichen als auch homosexuellen Identität. Die aufgerollten Lakritzschnecken, verknüpft mit dem Eisenbahnspiel ließen sich im Sinne einer freudianischen Umkehrung interpretieren. Das Zugmotiv stellt ein klassisches Phallussymbol dar wie beispielsweise am Ende von Alfred Hitchcocks Film ''Der unsichtbare Dritte'' (''North by Northwest''; USA 1959). Im Traum formen die Mädchen aus den Lakritzschnecken - aus einer klebrigen, süß-bitteren, schneckenförmigen Masse, die sich eine Vagina assoziieren lässt - die Eisenbahnschienen. In dieser Metamorphose vom weiblichen zum männlichen Genital tritt einerseits ein Transgenderaspekt zu Tage - auch Thomas Sohn wechselt sein Geschlecht - andererseits repräsentieren die ausschließlich weiblichen Protagonistinnen die Omnipräsenz und Dominanz des Weiblichen. Thomas erlebt den Geschlechterwechsel nicht als ein lustvolles Spiel, er gerinnt für ihn zum Alptraum, in dem das Weibliche aus der Verdrängung auftaucht und die weibliche Lust seine männliche und homosexuelle Identität gleich in doppelter Weise bedroht: zum einen durch die völlige Absenz männlicher Subjekte, zum anderen weil das Männliche auf die Genitalien reduziert und objektiviert wird und lediglich als verformbares Sexualobjekt für den weiblichen Blick fungiert. Thomas' Traum ließe sich aber, entgegen seiner eigener emotionalen Abwehr, auch als ein Wunschtraum interpretieren. Trotz des artikulierten Ekels gegenüber Irene („jetzt wirst Du welken, zuerst dein Magen, dann dein Hals, dann dein Gesicht“, RB 110) geht Thomas eine sexuelle Beziehung mit ihr ein: „Ich musste Dich doch rasch noch lieben, bevor du welkst“ (RB 111). Thomas stößt ab, was er begehrt. Dieser Verdrängung und Absenz des Weiblichen in Thomas‘ Wachleben steht die Omnipräsenz des Weiblichen in seinem Traum gegenüber.


===Irenes Metamorphosentraum===
===Irenes Metamorphosentraum===
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====Analyse und Interpretation====
====Analyse und Interpretation====
Verglichen mit den anderen Träumen ist diese Textsequenz weniger deutlich als Traum markiert und ließe sich auch als ein postmodernes Spiel mit Fiktion und Intertextualität interpretieren. Jedoch weist der Satz, der den Traum einleitet „In dieser Nacht trug Irene in der Spanne zwischen Stirn und Mund, auf dem Kissen, Leute zusammen, die sich nicht kannten“ (ebd., 163) auf ein nächtliches Geschehen hin. Die Passage referiert auf Calvinos Roman ''Die unsichtbaren Städte'', in dem eine der Städte den Namen Irene trägt. Bei Calvino ist Irene die einzige Stadt, die für Kublai Khan unerreichbar bleibt und die gleichzeitig über keine konstanten Eigenschaften verfügt, sondern sich stetig wandelt: „Irene ist der Name einer Stadt in der Ferne, die sich ändert, wenn man ihr näher kommt“ (Calvino 2007, 134). Diese Unschärfe der Stadt äußert sich im „Rosa der Häuser […], das sich verdünnt“ und in den diversen Deutungen der Geräusche, die von der Stadt ausgehen: „Die Hinunterblickenden ergehen sich in Mutmaßungen über das, was in der Stadt vorgehen mag“ (Calvino 2007, 133), „Manchmal trägt der Wind Musik von Pauken und Trompeten“ (ebd.), „manchmal das Rattern von Maschinengewehren“ (ebd.). Auch Herta Müller greift diese flüssige, sich wandelnde Form auf: „Kaum hab ich den Bahnhof verlassen, merk ich, wie mir Asphalt durch die Zehen rinnt. All die Schuhe mit ledernen Rosen. Die nackten Armhöhlen der Frauen, in denen sich die Stadt zusammenzieht“ (RB 164). Bereits bei Calvino wird die Stadt Irene als Projektionsfläche demaskiert, sie bietet eine Leerstelle für männliche Imagination und erscheint austauschbar: „vielleicht habe ich von Irene schon unter anderen Namen gesprochen; vielleicht habe ich von nichts anderem als von Irene gesprochen“ (Calvino 2007, 134). In Kublai Kahns Träumen repräsentiert die symbolisch-allegorische Archetypik der Städte den weiblichen Körper. Verglichen mit Calvino verknüpft Herta Müller das Stadtmotiv mit der exponierten weiblichen Körperlichkeit, gleichzeitig wird der Text als Fiktion entlarvt: „Ich weiß, es ist nur Einbildung, nur Schwindel […] Ja, alles nur Schwindel, sagte Steffen zur Irene. Weshalb glaubst Du daran. Das ist erfunden, und Du glaubst daran“ (RB 164). Im Gegensatz zur Alptraumhaftigkeit der ersten beiden Träume, bietet hier die Fiktion jedoch ein erlösendes poetisches Potential. Der Traum wird zu einem Ort der Imagination, der die gleichzeitige Anwesenheit von Männern aus Irenes Leben ermöglicht. Auffallend an diesem letzten Traum sind die narrativreflexiven Passagen und der lustbesetzte humoreske Stil, der mit dem beklemmenden Grundton des übrigen Textes kontrastiert: „Wer von euch beiden ist denn die Attrappe“ (ebd., 165). Wer als Subjekt und wer als Objekt des Begehrens fungiert, verbleibt ebenfalls in der Uneindeutigkeit: „Zwischen Mond und Schatten hatte das Gesicht, das Irene küßte eine bläuliche Farbe“ (ebd.). In dieser ambigen Konstruktion kann Irene grammatikalisch sowohl eine Subjekt- als auch eine Akkusativposition besetzen. Der Satz ließe sich in ‚von Irene geküsstes Gesicht‘ sowie in ‚Irenes Gesicht, das geküsst wird‘, auflösen. Die Farbe ‚bläulich‘ repräsentiert im Gesamtgefüge des Traumes die Treue. Gleichzeitig reagiert Irene auf das männliche Treueverlangen „Du sollst Augen haben nur für mich“ (ebd., 165) mit Verdruss: „Das macht müde“ (ebd.). Projiziert Calvino die weiblichen Körper in die Stadtarchitektonik, die auf diese Weise vergegenständlicht werden, erlangt das Weibliche bei Herta Müller eine Subjekthaftigkeit und Körperlichkeit. Der Traum wird vom weiblichen Begehren dominiert, auch wenn diese Demaskierung der männlich konstruierten Weiblichkeit im imaginierten Raum des Traumes sich ereignet und sich daher ihrerseits als eine weibliche Wunschprojektion entpuppt.
Verglichen mit den anderen Träumen ist diese Textsequenz weniger deutlich als Traum markiert und ließe sich auch als ein postmodernes Spiel mit Fiktion und Intertextualität interpretieren. Jedoch weist der Satz, der den Traum einleitet „In dieser Nacht trug Irene in der Spanne zwischen Stirn und Mund, auf dem Kissen, Leute zusammen, die sich nicht kannten“ (RB 163) auf ein nächtliches Geschehen hin. Die Passage referiert auf Calvinos Roman ''Die unsichtbaren Städte'', in dem eine der Städte den Namen Irene trägt. Bei Calvino ist Irene die einzige Stadt, die für Kublai Khan unerreichbar bleibt und die gleichzeitig über keine konstanten Eigenschaften verfügt, sondern sich stetig wandelt: „Irene ist der Name einer Stadt in der Ferne, die sich ändert, wenn man ihr näher kommt“ (Calvino 2007, 134). Diese Unschärfe der Stadt äußert sich im „Rosa der Häuser […], das sich verdünnt“ und in den diversen Deutungen der Geräusche, die von der Stadt ausgehen: „Die Hinunterblickenden ergehen sich in Mutmaßungen über das, was in der Stadt vorgehen mag“ (Calvino 2007, 133), „Manchmal trägt der Wind Musik von Pauken und Trompeten“ (ebd.), „manchmal das Rattern von Maschinengewehren“ (ebd.). Auch Herta Müller greift diese flüssige, sich wandelnde Form auf: „Kaum hab ich den Bahnhof verlassen, merk ich, wie mir Asphalt durch die Zehen rinnt. All die Schuhe mit ledernen Rosen. Die nackten Armhöhlen der Frauen, in denen sich die Stadt zusammenzieht“ (RB 164). Bereits bei Calvino wird die Stadt Irene als Projektionsfläche demaskiert, sie bietet eine Leerstelle für männliche Imagination und erscheint austauschbar: „vielleicht habe ich von Irene schon unter anderen Namen gesprochen; vielleicht habe ich von nichts anderem als von Irene gesprochen“ (Calvino 2007, 134). In Kublai Kahns Träumen repräsentiert die symbolisch-allegorische Archetypik der Städte den weiblichen Körper. Verglichen mit Calvino verknüpft Herta Müller das Stadtmotiv mit der exponierten weiblichen Körperlichkeit, gleichzeitig wird der Text als Fiktion entlarvt: „Ich weiß, es ist nur Einbildung, nur Schwindel […] Ja, alles nur Schwindel, sagte Steffen zur Irene. Weshalb glaubst Du daran. Das ist erfunden, und Du glaubst daran“ (RB 164). Im Gegensatz zur Alptraumhaftigkeit der ersten beiden Träume, bietet hier die Fiktion jedoch ein erlösendes poetisches Potential. Der Traum wird zu einem Ort der Imagination, der die gleichzeitige Anwesenheit von Männern aus Irenes Leben ermöglicht. Auffallend an diesem letzten Traum sind die narrativreflexiven Passagen und der lustbesetzte humoreske Stil, der mit dem beklemmenden Grundton des übrigen Textes kontrastiert: „Wer von euch beiden ist denn die Attrappe“ (RB 165). Wer als Subjekt und wer als Objekt des Begehrens fungiert, verbleibt ebenfalls in der Uneindeutigkeit: „Zwischen Mond und Schatten hatte das Gesicht, das Irene küßte eine bläuliche Farbe“ (ebd.). In dieser ambigen Konstruktion kann Irene grammatikalisch sowohl eine Subjekt- als auch eine Akkusativposition besetzen. Der Satz ließe sich in ‚von Irene geküsstes Gesicht‘ sowie in ‚Irenes Gesicht, das geküsst wird‘, auflösen. Die Farbe ‚bläulich‘ repräsentiert im Gesamtgefüge des Traumes die Treue. Gleichzeitig reagiert Irene auf das männliche Treueverlangen „Du sollst Augen haben nur für mich“ (RB 165) mit Verdruss: „Das macht müde“ (ebd.). Projiziert Calvino die weiblichen Körper in die Stadtarchitektonik, die auf diese Weise vergegenständlicht werden, erlangt das Weibliche bei Herta Müller eine Subjekthaftigkeit und Körperlichkeit. Der Traum wird vom weiblichen Begehren dominiert, auch wenn diese Demaskierung der männlich konstruierten Weiblichkeit im imaginierten Raum des Traumes sich ereignet und sich daher ihrerseits als eine weibliche Wunschprojektion entpuppt.


==Einordnung==
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