"Ett drömspel" (August Strindberg): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 20. März 2017, 05:44 Uhr
Ett drömspel (dt. Ein Traumspiel) ist ein Theaterstück des schwedischen Schriftstellers August Strindberg (1849–1912) und gilt als erstes Theaterstück, das versucht, die Form des Traums nachzubilden und Handlung und Szenenabfolge einer Traumlogik folgen zu lassen. Es ist im Jahr 1902 erschienen und wurde am 17. April 1907 in der Regie von Victor Castegren in Stockholm (Svenska Teatern) uraufgeführt; die deutschsprachige Erstaufführung fand am 17. März 1916 im Berliner Theater in der Königgrätzer Straße statt (Regie: Rudolf Bernauer).
Autor
August Strindberg wurde am 22. Januar 1849 in Stockholm geboren und ist dort am 14. Mai 1912 gestorben. Er zählt zu den bedeutendsten schwedischen Schriftstellern und hat mit seinem umfassenden Dramenwerk auf die Entwicklung von Drama und Theater im 20. Jahrhundert nachhaltig eingewirkt. Insbesondere die von ihm in Dramen wie Till Damaskus I–III (1898–1904, dt. Nach Damaskus), Ett drömspel (1901) und Stora landsvägen (1909, dt. Auf der großen Landstraße) entwickelte Form des Stationendramas wurde für die expressionistische Dramatik zum maßgeblichen Vorbild. Neben der Schriftstellerei betrieb Strindberg umfassende naturwissenschaftliche Studien und beschäftigte sich intensiv mit Fotografie und Malerei sowie Mystik, Okkultismus und Alchemie, was vor allem auf sein späteres Werk ab der Jahrhundertwende Einfluss nahm.
Ett drömspel
Inhalt und Form
Ett drömspel handelt vom Abstieg der Gottestochter Agnes auf die Erde und ihrem Aufenthalt dort. In einem im Jahr 1906 nachträglich anlässlich der Uraufführung verfassten Vorspiel wird der Grund für Agnes‘ Abstieg auf die Erde erläutert: Ihr Vater Indra hat sie damit beauftragt herauszufinden, ob die Menschen zu Recht über ihr Leben auf der Erde klagen. Auf ihrer Reise ist Agnes sowohl Betrachtende des menschlichen Lebens bzw. Leidens, als auch unmittelbar daran Teilhabende. Zu Beginn ihrer Reise befreit sie beispielsweise einen Offizier aus einem aus dem Boden wachsenden Schloss und beobachtet im Anschluss, wie dieser offenbar jahrelang vergeblich vor einem Theater auf und ab geht und auf seine Angebetete, eine Schauspielerin, wartet. Am menschlichen Leben selbst teil hat Agnes, als sie einen Advokaten heiratet und eine eigene Familie gründet. Enttäuscht von der Armut, dem Schmutz und der drückenden Enge dieses Lebens, verlässt Agnes ihre Familie. Angesichts des von ihr wiederholt beobachteten und auch selbst erlebten Leidens am Dasein kommt sie schnell zu der von ihr im Laufe ihres Aufenthaltes auf der Erde noch häufig wiederholten Feststellung „Es ist schade um die Menschen“ (TS 19).
Neben einigen im Stück vorkommenden traumhaft-surrealen Elementen (das prägnanteste von ihnen ist das wachsende Schloss, vor dem Agnes ihre Reise beginnt und in das sie am Ende ihrer Reise wieder eintritt, während dieses in Flammen aufgeht), verweisen vor allem der Titel sowie eine dem Stück vorangestellte und mit ‚Erinran‘ (Erinnerung) überschriebene Vorbemerkung auf den Traumcharakter des Stückes. Der erste Satz dieser Vorbemerkung macht auf die Programmatik aufmerksam, die dem Stück zugrunde liegt: „Im Anschluß an sein früheres Traumspiel Nach Damaskus hat der Verfasser in diesem Traumspiel versucht, die unzusammenhängende, doch scheinbar logische Form des Traumes nachzubilden“ (TS 7). Diese Traumform spiegelt sich in der Form des Stationendramas wider, das sich auf formaler Ebene durch die lose, nicht zwangsläufig kausale Aneinanderreihung einzelner Szenen und Bilder auszeichnet und so die für einen Traum typischen Handlungsinkohärenzen, abrupten Ortswechsel und auch seine besondere Zeitlichkeit zu repräsentieren vermag.
Analyse und Interpretation der raum-zeitlichen Struktur
Die Funktionsweise der Traumform lassen sich besonders gut an den Analysekategorien von Zeit und Raum verdeutlichen, über die es in der Vorbemerkung heißt: „Zeit und Raum existieren nicht“ (TS 7). Wie im Traum sind auch in Ett drömspel die Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt und einer Traumlogik unterworfen. So kann weder ein konkreter Zeitpunkt der Handlung eindeutig bestimmt werden, noch lässt sich ermessen, wie viel Zeit überhaupt vergeht. Dass Zeit nicht ihren gewohnten Gang nimmt, ist allerdings offensichtlich: Jahreszeiten existieren nicht, und Tage, Nächte und Jahre vergehen wie im Flug. Auf Figurenebene steht für dieses besondere Zeitvergehen exemplarisch die Figur des Offiziers, der zuerst sieben Jahre lang auf seine Angebetete, die Schauspielerin Victoria, wartet und unterdessen innerhalb kürzester Zeit zum Greis wird, während alle anderen Figuren keinem derartigen Alterungsprozess ausgesetzt sind. Wie im Traum selbst hat Zeit in Ett drömspel also ihre sinn- und ordnungsstiftende Funktion verloren.
Neben der Zeit unterliegt auch der Raum anderen, ganz eigenen Gesetzen. Durch den Verzichts auf Kausalität und Kontinuität erlaubt die innovative Form des Stationendramas viele plötzliche Ortswechsel zwischen den einzelnen Szenen. Scheinbar übergangslos verwandeln sich Räume von einer Szene zur nächsten. So wird z.B. eine Kirchenorgel durch einen Beleuchtungswechsel zur schottischen Basalthöhle Fingal’s Cave oder ein Theatervorplatz zum Anwaltsbüro, was im Nebentext wie folgt beschrieben wird: „Offene Verwandlung in das Büro des Advokaten: die Gittertür bleibt stehen und dient als Tür einer Schranke, die sich über die ganze Breite der Bühne erstreckt. Die Loge der Pförtnerin öffnet sich vorn und wird zur Schreibstube des Advokaten. Die entlaubte Linde ist Hut- und Kleiderständer; die Anschlagtafel ist mit Kundmachungen und Prozeßentscheidungen behängt; die Tür mit dem Kleeblatt gehört jetzt zu einem Aktenschrank“ (TS 32). Im Traumkontext ist hervorzuheben, dass sich der Raum nicht durch einen verdeckten Umbau oder Kulissenwechsel ändert, sondern stattdessen die sich in ihm befindenden Gegenstände bei offenem Vorhang von einer Szene zur nächsten neue Funktionen erhalten (Rokem 1988). Wie das Beispiel der Linde zeigt, die zum Hut- und Kleiderständer wird (und sich von diesem in der darauffolgenden Szene in einen Kandelaber weiterverwandelt), sind diese neuen Funktionen den Gegenständen weder zwangsläufig inhärent, noch erscheinen sie unbedingt zweckgemäß. An solchen Übergängen zwischen Räumen wirkt die dem Stück zugrundeliegende Traumlogik: Auf den ersten Blick willkürlich und zufällig erscheinende Verwandlungen erweisen sich aus der Perspektive des Traums als assoziativ. Dabei sind die Verwandtschaften, die zwischen den einzelnen Gegenständen bestehen, keine funktionalen. Besonders das Bild der Kirchenorgel, die zu Fingal’s Cave wird, demonstriert, dass es sich um strukturelle und optisch-visuelle Verwandtschaften handelt, die auf Ähnlichkeiten von Form und Gestalt beruhen.
Fazit und Einordnung
Indem Strindbergs Ett drömspel einer Logik folgt, die der im Traum herrschenden ähnelt, ist es das erste Drama, das in einer solch konsequenten Art und Weise die Form des Traums für die Dramenform produktiv macht. Als Ett drömspel erschien, schrieb Strindberg am 13. Juni 1902 in einem Brief an seinen deutschen Übersetzer Emil Schering daher zu Recht: „Das ‚Traumspiel‘ ist eine neue Form, die meine Erfindung ist“ (Strindberg 1924, 75). Im Traumkontext sollte die Betonung hier tatsächlich deutlich auf die Form gelegt werden, die insbesondere durch die Außerkraftsetzung und Neubestimmung der Kategorien von Raum und Zeit mit der Traumform in Verbindung gebracht werden kann. Um die Darstellung eines tatsächlichen Traums, im Sinne eines Schlaf- oder Nachttraums, handelt es sich bei Ett drömspel jedoch nicht. Dies zunächst einmal nicht, weil der Traum als das Modell eines Wahrnehmungsmodus von Realität eher auf einer metaphorischen Ebene im Zusammenhang mit einer Traum/Leben-Analogie zum Einsatz kommt: Die Realität bzw. das Leben werden wie ein Traum wahrgenommen. So weist etwa Richard Bark darauf hin, dass Strindberg in Ett drömspel, aber auch in seinen ebenfalls als Traumspiele zu bezeichnenden Stücken Till Damaskus und Spöksonaten (1907, dt. Die Gespenstersonate), keinen tatsächlichen Traum dargestellt, sondern die Realität so abgebildet habe, wie er sie auch selbst zu dieser Zeit wahrgenommen hat, nämlich als traumhaft bzw. traumähnlich (Bark 1988, 99). Und auch Strindberg selbst äußert sich dahingehend an verschiedenen Stellen, u.a. in seinem Okkulten Tagebuch, in dem er am 18. November 1901 über die Welt notierte: „[S]ie ist nur ein Traumbild. (Darum ist mein Traumspiel nur ein Bild des Lebens)“ (Strindberg 1964, 67).
Von diesen Forschungstendenzen und Selbstaussagen Strindbergs abgesehen, fehlt in Ett drömspel darüber hinaus etwas, das sowohl für einen Traum als auch für eine Traumdarstellung die womöglich unabdingbare Voraussetzung ist: nämlich eine träumende Instanz. Zwar ist es laut der Vorbemerkung das Bewusstsein des Träumenden, das über allem steht (TS 7). Allerdings kann weder ein Bewusstsein des Träumenden, noch überhaupt ein Träumender im Stück selbst ausgemacht werden. Eher handelt sich dabei um jene verborgene Instanz, die im Stationendrama die einzelnen und unverbunden aneinandergereihten Stationen zu einem Ganzen zusammenfügt. Dass eine solche Instanz im Stück nur unterschwellig vorhanden und nicht sichtbar ist, zeigen auch die teilweise unternommen Versuche, den oder die Träumende entweder im Autor (Gilman 1974, Holm 1988) oder im Zuschauer (zeitgenössisch: Landauer 1983 [1918/19], vergleichend zur Aufführungspraxis: Törnqvist 1988) zu verorten – und damit in genuin extratextuellen Instanzen. Hervorgebracht werden durch diese Verortungen des oder der Träumenden im Autor oder Zuschauer zwei weitere mögliche Analogiesetzungen, nämlich die von Dichtung und Traum sowie die von Theater und Traum, sodass Ett drömspel auch aus dieser Perspektive keinen tatsächlichen Traum darstellt, sondern der Traum ebenfalls als eine Vergleichsgröße herangezogen wird.
Strindbergs Ett drömspel ist somit weniger ein Traum oder eine Traumdarstellung, als mehr ein produktives Spiel mit dem Traum und der Traumform. Gleichwohl ist das Stück im Kontext dramatischer Traumdarstellungen wegweisend, indem es das ‚Traumspiel‘ als ein dramatisches Genre etabliert (Bark 1988, Conrad 2004) und als wichtiger Referenzpunkt Impulse für nachfolgende dramatische Traumdarstellungen liefert.
Literatur
Ausgaben und Selbstzeugnisse
- Strindberg, August: Kronbruden. Svanevit. Ett drömspel. Stockholm: Gernandt 1902. (= Erstausgabe)
- Strindberg, August: Samlade Skrifter. Hg. v. John Landquist. 55 Bde. Stockholm 1912–1921 (= Gesamtausgabe)
- Strindberg, August: Briefe an Emil Schering. Strindbergs Werke, Abt. 8, Briefe, Bd. 3. München: Georg Müller 1924.
- Strindberg, August: Okkultes Tagebuch. Die Ehe mit Harriet Bosse. Hamburg: Claassen Verlag 1964.
Übersetzungen
- Strindberg, August: Märchenspiele. Ein Traumspiel. Strindbergs Werke, Abt. 1, Dramen, Bd. 8, verdeutscht von Emil Schering. München: Georg Müller 1913.
- Strindberg, August: Ein Traumspiel. Übersetzung und Nachwort von Willi Reich. Basel: Verlag Benno Schwabe & Co 1946.
- Strindberg, August: Ein Traumspiel. Aus dem Schwedischen von Will Reich. Mit einem Nachwort von Walter A. Berendsohn. Stuttgart: Reclam 1957.
- Strindberg, August: Ein Traumspiel. Deutsch von Peter Weiss. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1963. (= zitierte Ausgabe, zitiert als TS)
- Strindberg, August: Ein Traumspiel. Übersetzt von Christl Hildebrandt. Nachwort von Joachim Grage. Stuttgart: Reclam 2013.
Forschungsliteratur
- Bark, Richard: Strindberg’s Dream-Play Technique. In: Göran Stockenström (Hg.): Strindberg’s Dramaturgy. Minneapolis: University of Minnesota Press 1988, 89–106.
- Bergman, Bo: Stindbergs Traumspiel. In: Hans-Peter Bayerdörfer / Hans Otto Horch / Georg-Michael Schulz: Strindberg auf der deutschen Bühne. Eine exemplarische Rezeptionsgeschichte der Moderne in Dokumenten (1890 bis 1925). Neumünster: Karl Wachholtz Verlag 1983, 179–181. [erstmals veröffentlicht in: Die Schaubühne 3, 1 (1907), 513 f.]
- Conrad, Bettina: Gelehrtentheater. Bühnenmetaphern in der Wissenschaftsgeschichte zwischen 1870 und 1914. Tübingen: Niemeyer 2004.
- Gilman, Richard: The Making of Modern Drama. A study of Büchner, Ibsen, Strindberg, Chekhov, Pirandello, Brecht, Beckett, Handke. New York: Farrar, Straus and Giroux 1974.
- Hennig, Gerda: Traumwelten im Spiegel der Dichtung. Jean Paul. Dostojewski. Neval. Strindberg. Frankfurt am Main: R. G. Fischer Verlag 1995.
- Hockenjos, Vreni: Phantom, Schein, Traumbild. Zur visuellen Wahrnehmung bei August Strindberg. In: Walter Baumgartner (Hg.): August Strindberg. Der Dichter und die Medien. München: Fink 2003, 236–252.
- Holm, Ingvar: Theories and Practice in Staging A Dream Play. In: Göran Stockenström (Hg.): Strindberg’s Dramaturgy. Minneapolis: University of Minnesota Press 1988, 245–255.
- Landauer, Gustav: Strindbergs Traumspiel. Zur Erstaufführung im Düsseldorfer Schauspielhaus. Oktober 1918. In: Hans-Peter Bayerdörfer / Hans Otto Horch / Georg-Michael Schulz: Strindberg auf der deutschen Bühne. Eine exemplarische Rezeptionsgeschichte der Moderne in Dokumenten (1890 bis 1925). Neumünster: Karl Wachholtz Verlag 1983, 276–290. [erstmals veröffentlicht in: Masken. Halbmonatsschrift des Düsseldorfer Schauspielhauses 14 (1918/19) 4, 49–64.]
- Malekin, Theo: Strindberg and the Quest for Sacred Theatre. Amsterdam / New York: Rodopi 2010.
- Müssener, Helmut: August Strindberg. Ein Traumspiel. Struktur- und Stilstudien. Meisenheim am Glan: Verlag Anton Hain 1965.
- Mussari, Mark: „Färg, färg!“ – Strindbergs’s Chromatic Language in Ett drömspel. In: Scandinavian Studies 77 (2005), 479–500.
- Rokem, Freddie: The Camera and the Aesthetics of Repetition: Strindberg’s Use of Space and Scenography in Miss Julie, A Dream Play, and The Ghost Sonata. In: Göran Stockenström (Hg.): Strindberg’s Dramaturgy. Minneapolis: University of Minnesota Press 1988, 107–128.
- Törnqvist, Egil: Strindbergian Drama. Themes and Structure. Uppsala: Almqvist & Wiksell 1982.
- Törnqvist, Egil: Staging A Dream Play. In: Göran Stockenström (Hg.): Strindberg’s Dramaturgy. Minneapolis: University of Minnesota Press 1988, 256–290.
- Voilley, Pascale: August Strindberg’s A Dream Play: Day-marks for a Journey in the Clouds. In: Orbis Litterarum 47 (1992), 170–177.
- Wennerscheid, Sophie: Das Leben, ein Traum? Lust am Schein in Strindbergs Traumspiel (1902). In: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), 87–98.
Zitiervorschlag für diesen Artikel: Höfer, Kristina: "Ett drömpsel" (August Strindberg). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2017; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Ett_dr%C3%B6mspel%22_(August_Strindberg) . |