"Der Platz der Gehenkten" (Hubert Fichte)

Aus Lexikon Traumkultur
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Als sechster Band der Geschichte der Empfindlichkeit ist Der Platz der Gehenkten (1989) das letzte Buch, das Hubert Fichte (1935-1986) kurz vor seinem Tod im März 1986 druckfertig abgeschlossen hat. In ihm ist der Ich-Erzähler Jäcki das erste Mal seit längerer Zeit ohne seine Begleiterin Irma unterwegs. Während Jäcki nach Marrakesch fährt, will Irma mit einem Flugzeug der Linie Royal Air Maroc von Agadir nach Paris und von da aus nach Hamburg reisen. Als Jäcki in Marrakesch in der Zeitung davon liest, dass ebendieses Flugzeug abgestürzt ist, befürchtet er, dass auch Irma dabei ums Leben gekommen sei. Die daraus entstehenden Träume und Albträume durchziehen den gesamten Roman und thematisieren die Erinnerung, das Schreiben und die soziopolitische Situation.

Informationen zu Autor und Werk

Hubert Fichte wurde am 21. März 1935 in Perleberg geboren. Seinen Vater, der als Jude nach Schweden emigrierte, um vor den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten sicher zu sein, lernt er nie kennen. Von seiner Mutter Dora mit Hilfe ihrer Großeltern in Lokstedt großgezogen, verbringt Fichte als Kind ein Jahr (1942/43) im Waisenhaus der Stadt Schrobenhausen. Bereits in seiner Jugend ist Fichte als Kinderdarsteller aktiv. 1949 lernt der damals vierzehnjährige den Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn (1894-1959) kennen. Ein Jahr danach trifft er die Fotografin Leonore Mau (1916-2013). Nach einer Landwirtschaftslehre in Holstein verbringt Fichte ein Jahr in einem Heim für schwererziehbare Kinder in Järna, Schweden. Durch einen Aufenthalt in Frankreich, lernt er den Maler Serge Fioro kennen, mit dem er einige Zeit zusammenlebt. Ab 1962 arbeitet er als freier Schriftsteller und zieht 1963 mit Leonore Mau in eine Wohngemeinschaft nach Othmarschen. Im Jahr 1968 erscheint Fichtes Roman Die Palette. In den folgenden Jahren reisen Fichte und Mau zum Studium der afrobrasilianischen Religionen nach Bahia des Todos os Santos und nach Haiti, um den Vadou zu studieren. Die kommenden Jahrzehnte sind von weiteren ethnologischen Forschungsreisen bestimmt, die Fichte zum Material für seine Bücher werden. Als unheimlich produktiver Autor war er nicht nur als Verfasser von Büchern und Artikeln für Zeitschriften und Zeitungen tätig; er zeichnet auch als Radioautor (in Kooperation mit Peter Michael Ladiges) für die Texte einer Vielzahl von Hörspielen und Features verantwortlich.

Hubert Fichte starb am 8. März 1986 im Alter von 51 Jahren im Hafenkrankenhaus in Hamburg an den Folgen einer AIDS-Erkrankung.


Zur Form des Romans

Das formale Programm des Platz der Gehenkten wird von Fichte zu Anfang des Romans transparent gemacht:

Ich übersetze aus der Pléiade-Ausgabe.
Im Kopf eine Art Luther-Deutsch.
Koran auf Bibelpapier ist unpraktisch.
Die Tinte schlägt durch.
Die Texte des Koran werden kürzer von Sure zu Sure.
Die Texte des Platzes der Gehenkten werden länger.
Ich möchte das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder
ausgleichen.
Wie messe ich Länge und Kürze?
Wie die Griechen, durch Längen und Kürzen.
Und die Pausen?
Das Nichts?
Dr. Bahlmann sagte, die Wiederholung sei das poetische Prinzip
der Bibel.
Schade, daß er es nicht weiter ausführte (PG 13).

Der Roman ist in seinem formalen Aufbau somit eine Gegenthese zum "Gesetz der schrumpfenden Glieder" des Korans. Dass sich dieses Anschreiben gegen den Koran auch auf inhaltlicher Ebene wiederfinden lässt, soll nicht Teil dieses Artikels sein, lässt sich aber im gesamten Text belegen.[1]

Für Teichert kann Der Platz der Gehenkten als "Höhepunkt jener kompositorischer Prinzipien" (Teichert 1987, 277) gesehen werden, die Fichte in früheren Werken bereits entwickelt und erprobt hat. Dass es sich dabei um musikalische und kompositorische Prinzipien handeln könnte, legt Teichert in seinen weiteren Ausführungen zwar nahe, führt es aber nicht weiter aus. Der Der Platz der Gehenkten weist zwar eine ganz eindeutige Form auf, orientiert sich jedoch weniger an den von Teichert nur vage angedeuteten kompositorischen Prinzipien, sondern stärker an der Suren-Struktur des Korans, als dessen formale Antithese sich der Roman versteht.

Dieser Lesart entspricht auch die Anmerkung der Herausgeberin des Romans Gisela Lindemann, wenn sie schreibt, dass der Roman "mit deren zentraler literarischer Manifestation: dem Koran" (Lindemann, in: Fichte 1989b, 21) korrespondiere. Die Übersetzung des Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe wird dabei zum Anlass der narrativen Instanz genommen, nicht nur über das Verhältnis der Bibel und des Korans nachzudenken, sondern auch die formale Struktur des Korans in den Fokus zu rücken. Aus der Einsicht, dass die Texte, aus denen der Koran besteht, von Sure zu Sure kürzer werden, stellt Fichte das Strukturprinzip seines eigenen Romans entgegen, der ebenso aus Texten besteht, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen: "Ich möchte das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13). Verknüpft mit der Frage nach Kürze oder Länge sowohl der Suren als auch der Texte des eigenen Romans steht Fichte aber vor der Frage, wie sich diese Kürze und Länge metrisch bestimmen lasse. Mit einem Verweis auf einem Dr. Bahlmann, erwähnt er zudem, dass "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) sei. Ein Blick in den Roman zeigt, dass dieses hier nur angerissene poetische Prinzip der Wiederholung im Rahmen eines Fünfzeilers einer Traumdarstellung als strukturierendes Element auftaucht.

Interpretationen des Romans

Das Forschungsinteresse an Hubert Fichte, der allgemeinhin als Vorreiter postkolonialer Forschung und der Queer Studies in der Bundesrepublik Deutschland gilt, konzentriert sich auf die Themenfelder der Ethnologie und Ethnopoesie (ein Begriff, der von Fichte selbst stammt), der postkolonialen Literatur und dem Pop. Manfred Weinberg zufolge ist es sogar ein auszeichnendes Kriterium der Fichte'schen Texte, dass alles mit allem zusammenhängt oder wenigstens mit allem in Verbindung gebracht werden kann. Das Verständnis der Texte Fichtes lässt sich damit immer schon nur mit Rekurs auf andere Texte Fichtes erlangen. Gleichzeitig, so Weinberg, liegt darin aber bereits eine grundlegende Unmöglichkeit eingeschrieben, denn:

Niemand wird all die Verweisungen, die Fäden, das Geflecht, die Netze der Pfeile und Adern, der Anspielungen in Fichtes Gesamtwerk jemals beschreiben können (ich verwende hier vorsätzlich den Begriff von Fichtes Dementi der ›Verwendbarkeit‹ des Schreiens der Fischer in Cezimbra). Wie geht man also dann interpretierend mit diesen Texten um? (Weinberg 2021, 137)

Wenn diese These plausibel befunden wird (und das wird sie hier), wie also im Rahmen eines Wikipedia-Artikels mit dem Umstand umgehen, dass Fichtes Roman Der Platz der Gehenkten als Teil des roman fleuve der Geschichte der Empfindlichkeit immer schon das Verständnis und die Lektüre jedes weiteren Texts voraussetzt? Die pragmatische und hermeneutisch redliche Lösung kann dabei nur sein, transparent zu kommunizieren, inwieweit sich die Interpretation selbst beschneiden muss, um weiterhin verständlich und lesbar zu bleiben.

Es ist daher aber vielleicht nicht verwunderlich, dass es kaum eine Monografie zu spezifischen Werken Hubert Fichtes gibt. Vollkommen abwesend sind zudem literaturwissenschaftliche Analysen, welche die Fichte'schen Texte auf den Traum und spezifische Traumästhetiken hin befragen. Die hier verwendete Sekundärliteratur beschäftigt sich daher nicht ausschließlich mit dem Platz der Gehenkten, sondern bespricht den Text immer im Kontext des gesamten Werks Hubert Fichtes.

So beschäftigt sich das neunte Kapitel der Dissertation Torsten Teicherts (1987) zwar mit Der Platz der Gehenkten. Da die Dissertation jedoch zwei Jahre vor der Veröffentlichung des Romans erschienen ist, basiert seine Analyse nicht auf der Druckausgabe, die als Grundlage für diesen Artikel herangezogen wird, sondern auf dem Typoskript des Romans, das er als Freund Hubert Fichtes bereits vor der Veröffentlichung einsehen konnte. Das stellt vor einige Probleme: einerseits kann Teichert zwar aus dem Text zitieren, tut dies aber der Sache geschuldet ohne Quellen- und Seitenangaben. Gibt sich sein Text mitunter thetisch ohne angeschnittene Gedankengänge weiter zu verfolgen, so ist sich Teichert dennoch sicher, dass das Wagnis über einen noch nicht veröffentlichten Text zu reden "vielleicht schon allein deshalb zum jetzigen Zeitpunkt legitim [ist], weil eine jede Interpretation auch Lust machen sollte aufs Lesen des Besprochenen" (Teichert 1987, 276).

Teicherts Interpretation versteht Fichtes ethnopoetisches Schreiben jedoch analog zur Form des Haiku und damit nicht als sinnvolle Beschreibung eines Sachverhalts, sondern als dezidiert anti-deskriptive Momentaufnahme. Teicherts Haiku-Verständnis basiert dabei jedoch auf Barthes Interpretation, die ihrerseits nicht unproblematisch ist. [2]

Hans-Jürgen Heinrichs Studie (1991) andererseits erweckt aufgrund ihres Titels, der ein direktes Zitat aus Fichtes Roman darstellt ("Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch"), im ersten Moment den Eindruck, dass es sich dabei hauptsächlich um die Lektüre des Platz der Gehenkten handelt. Allerdings widmet er sich dem Roman tatsächlich nur in einem Kapitel am Ende des Buchs, das größtenteils einen anderen Roman Fichtes, nämlich Forschungsbericht, bespricht (der Vollständigkeit halber soll Heinrichs Buch hier trotzdem erwähnt werden).

Bewusst abseits der Fichte-Forschung, die sich wie oben erwähnt vorrangig mit der Frage der Verortung des Fichte'schen Werks in den Kontext der Disziplinen Postcolonial Studies und Queer Studies und dem autobiographischen Gehalt der Fichte‘schen Texte beschäftigt (ein Themenfeld, das sich in zeitgenössischen ethnologischen und kulturanthropologischen Debatten unter dem Stichwort life writing wiederfinden lässt), findet sich Manfred Weinbergs Dissertation (1993), der den Synkretismus des Gesamtwerks Fichtes als den Versuch versteht eine Sprachkonzeption zu entwickeln, welche Weinberg mit Rückgriff auf vorsokratische Überlegungen zum Mimesis-Begriff plausibilisiert.

Der Fokus dieses Artikels soll es nun sein, vor dem Hintergrund der obigen Literatur und mit Rückgriff auf diese, eine Lesart auf den Text zu eröffnen, die sich mit der spezifischen Frage onirischer Darstellungen auseinandersetzt. Zu diesem Zweck lohnt es sich, einen kurzen Blick auf das folgend verwendete theoretische Instrumentarium zu werfen.


Traumdarstellungen in Der Platz der Gehenkten

Intensitäten des Traumhaften: Markierte Träume

Um die Traumdarstellungen in Der Platz der Gehenkten klassifizieren zu können, wird auf Stefanie Kreuzers entwickelte Traumtypologie zurückgegriffen, welche Traumdarstellungen nach ihrer Markiertheit sortiert. Kreuzer arbeitet dabei drei verschiedene Darstellungsarten traumhaften Erzählens heraus, die sie wertfrei als Intensivierungen des traumhaften Erzählens und damit als "Wegfall jeglicher Markierung des Traumzustandes" (Kreuzer 2014, 90) versteht. (1) Dabei beschreiben markierte Traumdarstellungen den eindeutigsten Fall traumhaften Erzählens durch die textlich klar kommunizierte Abgrenzbarkeit verschiedener diegetischer Ebenen der Wach- und Traumwelt. Im Rahmen dieses Artikels interessiert nur diese erste Intensität onirischen Erzählens. (2) Als unsichere Grenzen zwischen Traum- und Wacherleben bezeichnet Kreuzer Traumdarstellungen, bei denen sich keine eindeutigen Grenzen zwischen Traumdarstellung und Wachwirklichkeit ziehen lassen und eine klare Trennung und Hierarchisierung verschiedener diegetischer Ebenen nicht möglich ist. Um Darstellungen als onirische Darstellungen dieser Art klassifizieren zu können, arbeitet Kreuzer weitere Aspekte des Onirischen heraus, die zur Interpretation herangezogen werden können. (3) Der Wegfall jeglicher onirischer Markierung charakterisiert die höchste Intensität des Traumhaften, die Kreuzer als unmarkierte, autonome Traumdarstellungen charakterisiert. Solche Arten der Traumdarstellungen als genuin onirisch zu klassifizieren und von "im eigentlichen Sinne zu verstehenden antimimetischen [...] uneigentlich-parabolischen" (Kreuzer 2014, 91) Interpretationen zu unterscheiden, bedarf es weiterer Merkmale, um die Lesart zu plausibilisieren.

Jede Intensität traumhaften Erzählens, lässt sich zudem binnendifferenzieren. Da für die weitere Analyse nur markierte Traumdarstellungen betrachtet werden, wird diese Ausdifferenzierung weiter unten vorgenommen.

Markierte Traumdarstellungen in Der Platz der Gehenkten

Der Roman beginnt mit einer mehrseitigen komplexen Traumdarstellung, die sich erst nachträglich als markierte Traumdarstellung klassifizieren lässt. Der Ich-Erzähler vermischt dabei Tagesreste mit seinen Ängsten, Wünschen und den Erinnerungen an andere vor einigen Tagen geträumte Träume. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, lässt sich die Traumdarstellung in drei thematische Teile gliedern, die für sich unterschiedliche Aspekte des im Traum verhandelten herausarbeiten lassen: (a) ein erster Teil thematisiert die Reisevorbereitungen nach Marakech, auf den mit (b) der Traum einer Passkontrolle am Flughafen folgt. Der dritte Teil (c) ist ein Intertext auf frühere Romane Fichtes, der die werkübergreifende Spezifik des Traums als Teil der Fichte'schen Poetologie in den Fokus rückt. Die zweite markierte Traumdarstellung, die hier betrachtet werden soll, nimmt einen fünfzeiligen Text in den Fokus, der an mehreren Stellen im Romantext auftaucht und diesen durch die ritualhafte Wiederholung strukturiert. Versteht man den Roman in seiner Form und auch inhaltlich als Gegenbewegung zum Koran, lässt sich der fünfzeilige Text als Gegen-Ritual verstehen, das in sich die Gefahr birgt, das zu reproduzieren, gegen das es anschreibt. Eine dritte Traumdarstellung thematisiert den Traum in seinem selbstreflexiven Gehalt und wie dieser im Verhältnis zu Wirklichkeit, Zeitlichkeit und dem Schreibprozess an sich steht. Um der Komplexität der ersten Traumdarstellung gerecht zu werden, wird der Text, der obigen Dreiteilung folgend, ausführlich zitiert, um die Analyse davon ausgehend zu entfalten.

Ich war allein und konnte meine Reise nach Marrakech vorbereiten.
Irma hatte den Bus nach Fez genommen.
Ich brachte Irma zum Schlafwagen und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach
Fez.
Städte, deren Namen ich nicht einmal buchstabieren konnte.
Otto Habermann begegnete mir, und ausgerechnet ihn lud ich
ein, mitzukommen.
[...]
Ricky, Richard begegnete mir wieder, und ich lud ihn ein, das Hotel oder die Wohnung von Horst
Fasel mit mir zu teilen.
Otto schlief gewöhnlich lange.
Ricky schlief lange,
und mit den anderen diskutierte ich im Frühstückszimmer, ob Otto mich wirklich liebte, »schätzte« bedeutete dies »liebte«
in meinem Traum.
Ich zweifelte daran.
Aber sie bestätigten mir, er habe sich ihnen gegenüber wiederholt wohlwollend über mich geäußert.
Dann blinde Stelle, Hülsen.
Es folgen trübe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum, Ungereimtheiten, Schnitte.
Vielleicht ein neuer Traum, wahrscheinlich aber die Fortsetzung des alten.
Ein neuer Traum vielleicht
(Fichte 1989b, 9).

Der Roman Der Platz der Gehenkten beginnt mit den Reisevorbereitungen Jäckis und Irmas. Während Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist Jäcki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen.

Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten Sätze des Romans Der Platz der Gehenkten sich auf den ersten Blick wie eine für Fichte typische "Wirklichkeits-Schreibung" (Weinberg 1993, 126) lesen. Eine genauere Betrachtung des dritten Satzes "Ich hatte Irma zum Schlafwagen gebracht und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach Fez" (Fichte 1989b, 9). führt jedoch eine Inkongruenz in das Geschehen ein. Weinberg macht diese Inkongruenz daran fest, dass einerseits die Reisevorbereitungen mit anderen Zielen wiederholt werden und andererseits, dass die narrative Instanz Irma zum Schlafwagen des Busses bringt, obwohl "Busse dergleichen gewöhnlich nicht besitzen" (Weinberg 1993, 126).

Die Traumdarstellung stoße Weinberg zufolge daher einen dreiteiligen reflexiven Prozess an, der den Lesenden über die Relation zwischen Traum und Wirklichkeit nachdenken lasse. So lese man in einem ersten Schritt Sätze über Irma, die eine scheinbar wirkliche Situation einer Reisevorbereitung beschreiben. Das Irritationsmoment des Schlafwagens im Nachtbus lasse die Situation als Traumdarstellung erscheinen. Man sei reflexiv nun nicht mehr davon überzeugt, dass die Sätze über Irma und die Reisevorbereitungen eine Beschreibung der Wirklichkeit sind, sondern zum Traumgeschehen gehören. Als reflexiven dritten Schritt kehre man nun aber zur Anfangsthese, dass es sich bei den Sätzen um Beschreibungen einer wirklichen Situation handelt, zurück, denke aber nun grundlegend über das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit nach.

Ist man jedoch nicht davon überzeugt, dass die von Weinberg beschriebene Irritation schon eindeutig für die Traumhaftigkeit des geschilderten Geschehens steht, so lässt sich dennoch einige Zeilen später mit dem Satz "Es folgen trübe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum, Ungereimtheiten, Schnitte." (Fichte 1989b, 9) die vorangegangenen Ereignisse als überraschende Traumauflösungen im Sinne Stephanie Kreuzers verstehen (vgl. Kreuzer 2014, 225). Für Kreuzer lassen sich markierte Traumdarstellungen – um die es sich hier durch die Thematisierung des Traums handelt – in Erzählungen in zwei Kategorien unterteilen: (1) Erzählungen, in denen Traumdarstellungen von vorneherein diegetisch von der Wachwelt unterschieden sind. Die Voraussetzung für diese Art der Traumdarstellung setzt eine klare und bereits vorangegangenes Etablierung der Wachwelt und Wissen über diese voraus. (2) Eine zweite Kategorie fasst Traumdarstellungen, die erst retrospektiv als solche zu erkennen sind. Für Kreuzer sind Texte, die diese Traumdarstellungen enthalten "rezeptionsästhetisch immer mit einer Umdeutung der Diegese oder auch einer überraschenden Traum(auf)lösung verbunden" (Kreuzer 2014, 225). Die Schilderungen Fichtes in Der Platz der Gehenkten, die sich erst als tatsächliche Schilderung der Ereignisse lesen lassen, können demnach als solche überraschende Traum(auf)lösung verstanden werden, die durchaus in Relation zur Wachwelt steht, da sie Tagesreste der Wachwirklichkeit verarbeitet.

Für Torsten Teichert, der zwar nicht an der Traumhaftigkeit der Schilderungen zweifelt, aber diese nicht in den Fokus seiner Betrachtungen rückt, trifft der Romananfang vielmehr eine poetologische Aussage über Bauplan des gesamten Romans. So beginne der Text zwar mit der Schilderung eines Traums, in die ein weiterer Traum verschachtelt wird. Wichtig ist für Teichert dabei nicht das Spezifikum der onirischen Darstellung, sondern welche Wirkung die verschachtelte Traumdarstellung hat: "Völlige Identitätsverwirrung" (Teichert 1987, 304). Auch ob es sich bei der Traumdarstellung um eine geträumte Erinnerung oder einen erinnerten Traum handelt, will Teichert nicht festlegen. Es gilt für ihn jedoch, dass die Identität des Ichs dadurch, dass der Roman mit einem Traum beginnt, "schon auf der ersten Seite [...] infrage gestellt" (Teichert 1987, 304) wird. Es soll hier contra Teichert jedoch dafür argumentiert werden, dass die Identität der narrativen Instanz nicht infrage gestellt wird, sondern ein selbstreflexives Moment in den Text einführt und die Relation verschiedener Träume aufeinander thematisiert. Weitaus näher an dieser Überlegung der Selbstreflexivität des Textes ist Teichert, wenn er sich fragt

Redet Fichte hier nur von einem Traum? Nicht in Wahrheit von dem Bauplan des Romans, den wir durchschreiten, indem wir die trüben Stellen und Leerflächen, die Schnitte und abrupten Wechsel mitlesen? (Teichert 1987, 304)

Es kann jedoch gezeigt werden, dass die Schreibsituation in Der Platz der Gehenkten keine der absoluten Identitätsverwirrung ist, sondern die komplexe Vermischung tagespolitischer Themen, Erinnerungen und Ängste der narrativen Instanz. Dazu weiter unten mehr.

Flughafentraum vom vertauschten Pass

Im weiteren Verlauf der Traumdarstellung vermischen sich mehrere Erzählebenen und Erinnerungen. Die narrative Instanz träumt davon, dass sie in einem Café im Flughafen sitzt und der Kellner nach dem Studentenausweis fragt. Als sich das träumende Ich weigert, den Ausweis vorzuzeigen, gesellt sich ein Geheimpolizist dazu, der erneut dazu auffordert, sich auszuweisen:

Otto Habermann brachte mich mit Richard zum Flugplatz.
Wir gingen in eine Caféteria, und der Kellner fragte mich nach
meinem Studentenausweis.
– Kann man in diesem Land denn keinen Kaffee mehr trinken,
ohne sich auszuweisen?
Er sehe doch, daß ich Ausländer sei.
Wie könnte ich einen Studentenausweis besitzen.
Dann meinen Paß.
– Ich denke nicht daran.
Er solle mir einen Kaffee bringen oder sich selbst ausweisen.
Er solle mir ein Stück Porré-Torte bringen.
Ein älterer Mann stellte sich neben ihn.
Die übrigen Gäste der Flughafen-Caféteria zeigten
ihm Kennkarten und Studentenausweise vor.
Er hielt mir die Polizeikarte hin und verlangte meinen Paß.
Beim Aufschlagen entdeckte ich, daß es Uwes Paß war.
Ich zeigte ihn vor und entdeckte, daß der Paß von Uwe Dürkopp ist.
Warum muß ich, wenn ich endlich mal alleine bin, mein Zimmer mit Otto oder Uwe teilen?
Ich erinnerte, während ich mir die Polizeimarke betrachtete, daß
ich vor ein paar Tagen von Uwe geträumt hatte.
Wir waren gemeinsam in eine Pension abgestiegen, und der Rezeptionist hatte unsere Pässe
vertauscht.
Wir wollten es gleich in Ordnung bringen.
Dann war Uwe, ohne daß wir weiter daran gedacht hätten, abgereist und ich muß es nun in diesem
Traum, in der Caféteria des Flughafens, ausbaden.
Der Geheimpolizist sah mich an und sah auf das Paßfoto und
sagte:
– Da waren sie aber noch voller.
Ich gab ihm eine Art Führerschein, meinen Personalausweis hatte ich zu Hause gelassen, eine
gefaltete Pappe, mit einer Fotografie von mir, wie Youssif mir tatsächlich gestern eine Art
Führerschein, einen gefalteten Karton mit einer Fotografie von sich, in den Dünen zeigte.
Der Geheimpolizist bemerkte den Widerspruch nicht.
Das hätte mich auch weniger beunruhigt, als mich die Tatsache
beunruhigte, daß eine Verwechslung von Pässen in dem Traum
vor ein paar Tagen, wie ich wußte, in diesem Traum jetzt, in der
Caféteria des Flughafens, Auswirkungen haben konnte
Wenn ich im Wachen darüber nachdenke:
Habe ich denn wirklich vor ein paar Tagen geträumt, der Rezeptionist verwechsle Uwes und
meinen Paß?
Oder habe ich das nur geträumt?
Von welchem Traum träumte ich, und was kann ich davon berichten
deuten
von mir und von Uwe oder Otto
von mir berichten oder von Uwe Dürkopp oder Ricky
ich meine Otto Habermann alias Cartacalo/la?
Mit diesem Traum sollte der Roman enden.
(Fichte 1989b, 9-11)

Eine genauere Betrachtung der zitierten Textstelle zeigt, dass sich hier im Rahmen der Erzählung des Traumgeschehens zwei Träume ineinanderschieben. So wird das Traumgeschehen der Passkontrolle am Flughafen mit einem anderen Traum, in dem das träumende Ich mit Uwe in einer Pension war, im Modus der Erinnerung verknüpft. In diesem anderen Traum in der Pension vertauscht ein Rezeptionist die Pässe Uwes und des Erzählers; ein Umstand, der sich nun auf den Traum der Passkontrolle im Flughafen auswirkt. Einer onirischen Logik, die formale und inhaltliche Brüche im Handlungsgeschehen zulässt und mit der man Ungereimtheiten – wie den vertauschten Pass – mit Rekurs auf eine allgemeine Traumlogik erklären könnte, wird im Traum eine rationalistische Erklärung entgegengehalten, die den Umstand mit Rekurs auf das Geschehen eines anderen Traums zu erklären versucht.

Teicherts Interpretation, dass sich im Traumgeschehen eine "völlige Identitätsverwirrung" in deren Rahmen die "Identität des Ichs infrage gestellt" wird, von der oben schon die Rede war, muss daher widersprochen werden. So argumentiert Teichert weiterhin dafür, dass der Schreibvorgang des Romans allgemein als Erinnerungsvorgang verstanden werden kann, der in sich das Risiko birgt "sich doppelt zu sehen als der, der schreibt, und der, der aus der Vergangenheit mit den Wörtern hochgeholt wird" (Teichert 1987, 306). Dieser Rückgriff auf Vergangenes als Reservoir für das Erzählen (den man durchaus als allgemeine Spezifik des Erzählens verstehen kann, vgl. Weber 1998, 24: "Erzählen gilt immer Nichtaktuellem.") offenbart für Teichert jedoch ein "doppeltes Wagnis" (Teichert 1987, 306), da das gegenwärtig schreibende Ich dadurch "von der Identität aus alter Erinnerung und von der Wirklichkeit, die mit dem Gedächtnis zur Sprache gebracht werden soll" (Teichert 1987, 306) attackiert wird. Der Schreibvorgang als Erinnerungsvorgang ist damit nicht nur ein Prozess, der das Ich wie bei Wordsworth in ein erinnerndes Ich und ein erinnertes Ich spaltet. Es ist gleichzeitig auch ein gewaltsamer Aufspaltungs- und Verdopplungsvorgang, der Gefahr läuft, das Auseinanderfallen des Verfasser-Subjekts zu riskieren (vgl. Teichert 1987, 306).

Erinnerung versteht Wordsworth in seinem Text Poem Titel not yet fixed upon by William Wordsworth Addressed to S.T. Coleridge, das in der Forschung unter dem eingängigeren, aber posthumen Titel Prelude bekannt ist, als reflexiven Vorgang, d.h. als eine temporalisierte Selbstbeobachtung oder Selbstspaltung und Selbstverdoppelung. Das Ich spaltet sich in und doppelt sich als erinnerndes Ich und erinnertes Ich, die durch die zeitliche Differenz qualitativ voneinander getrennt sind. Der Erinnerungsvorgang ist damit auch immer eine Vergegenwärtigung des Abstands zum Vergangenen und äußert sich als damit als grundlegende Alteritätserfahrung. Diese wird als "Wunde der Zeit" (Assmann 2018, 101) wahrgenommen, die darauf verweist, dass das tatsächliche Erfahrungsdatum in seiner erinnerten Form nur ein schwacher Abglanz der tatsächlichen Erfahrung ist (vgl. Assmann 2018, 102).

Thematisieren die im Platz der Gehenkten vorhandenen Traumdarstellungen zwar durchaus ebendiese Trennung in erinnerndes und erinnertes Ich, so ist die von Teichert behauptete Identitätsverwirrung zu keinem Zeitpunkt offensichtlich, da selbst das träumende Ich weiß, dass es Uwes Pass und damit nicht den eigenen besitzt. Die Verwirrung tritt dabei erst ein, wenn sich das, inzwischen erwachte Ich, daran erinnern will, welche der erinnerten Erlebnisse Teil des Traums waren und welche nicht:

Vielmehr verweist die Passkontrolle am Flughafen im Flughaften-Traum auf das sich verändernde politische Klima in Marokko hin, das sich in den 70er- und 80er-Jahren einer starken Re-Islamisierung ausgesetzt sah. So versuchte der damalige König Hassan II. die monarchiekritische Linke dadurch zu bekämpfen, dass er die konservativen Kräfte im Land stärkte. Das hatte zur Folge, dass der saudi-arabische Wahhabismus[3] – eine traditionalistische Strömung innerhalb des Sunnitentums – wieder in Marokko Fuß fassen konnte und sich eine konservative Interpretation des Korans an Schulen und Universitäten etablierte. Im obigen Traum der Passkontrolle kondensiert sich dabei die neue Skepsis der marokkanischen Behörden vor westlichen Ausländern, die an anderen Stellen im Text in nicht-onirischen Darstellungen weiter ausgeführt wird. Der Koran, gegen den Der Platz der Gehenkten, wie bereits erwähnt, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich anschreibt wird im Roman zum Symbol für den Rückfall des Landes in konservativ-traditionalistische Denkmuster. Dass der westliche Einfluss (und sexuelle Liberalismus) durch die Re-etablierung konservativer Koran-Auslegungen jedoch nicht verschwindet, sondern von nun an wieder im Geheimen praktiziert wird, darauf verweist unter anderem folgende Textstelle:

Gaouty, unheimlich und elegant.
– Der typische Gigolo.
– Ich will Ingenieur werden.
Er trinkt Cognac wie Cocacola.
Gaouty macht genaue, etwas mechanische Angaben, wie er genommen werden will.
So drückt er sich aus »prendre«.
Der Cognac spült den Koran weg.
– Gigolos, die sich nehmen lassen, stehlen!
(Fichte 1989b, 66)

Als Ver- und Neubearbeitung von Textresten gestaltet sich die Szene am Flughafen aber ebenfalls als fast wörtliches Zitat eines anderen Romans Fichtes: Detlevs Imitationen "Grünspan". Auf diesen Umstand weist auch Manfred Weinberg hin, wenn er sagt, dass der Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden." sich nicht auf Der Platz der Gehenkten sondern auf Detlevs Imitationen "Grünspan" bezieht (Weinberg 1993, 127). Zum Vergleich sei daher die entsprechende Textstelle aus Detlevs Imitationen "Grünspan" zitiert:

Es folgen trübe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum. Vielleicht ein neuer Traum,
wahrscheinlich aber die Fortsetzung des alten.
Otto brachte mich mit den anderen zum Flugplatz. Wir gingen zu zweit in eine Caféteria und der
Kellner fragte mich nach meinem Studentenausweis.
– Kann man in diesem Land denn keinen Kaffee mehr trinken, ohne sich auszuweisen?!
Er sehe doch, daß ich Ausländer sei. Wie soll ich einen Studentenausweis besitzen.
Dann meinen Paß.
Ich dächte nicht daran. Er solle mir meinen Café bringen oder sich selbst ausweisen.
Neben ihn stellte sich ein älterer Mann, dem die übrigen Gäste der Flughafencaféteria Kennkarten
und Studentenausweise vorzeigten.
Er hielt mir seine Polizeimarke hin und verlangte meinen Paß.
Beim Aufschlagen entdeckte ich, daß es Uwes Paß war.
Warum muß ich, wenn ich endlich mal alleine bin, mein Zimmer mit Otto oder Uwe teilen?
Ich erinnerte, während ich mir die Polizeimarke genau betrachtete, daß ich vor ein paar Tagen von
Uwe geträumt hatte.
Wir waren gemeinsam in einer Pension gewesen und man vertauschte unsere Pässe.
Wir wollten es gleich in Ordnung bringen, aber dann war Uwe, ohne weiter daran zu denken,
abgereist und ich mußte es nun in diesem Traum in der Caféteria des Flughafens ausbaden.
Der Polizist sah mich an und bemerkte:
– Da sahen sie aber voller aus.
Ich gab ihm eine Art Führerschein – meinen Personalausweis hatte ich zuhause gelassen –, einen
gefalteten Karton mit einer Fotografie von mir, wie Youssif mir tatsächlich gestern eine Art
Führerschein, einen gefalteten Karton mit einer Fotografie, von sich in den Dünen gezeigt hatte.
Der Polizist bemerkte den Widerspruch der Fotografien und Namen in den beiden Ausweisen nicht.
Das hätte mich auch weniger beunruhigt, als mich die Tatsache beunruhigte, daß eine Verwechslung
von Pässen in einem Traum vor ein paar Tagen, wie ich wußte, in diesem neuen Traum, jetzt, in der
Caféteria des Flughafens Auswirkungen haben konnte.
Aber wenn ich jetzt im Wachen darüber nachdenke:
Habe ich denn wirklich vor ein paar Tagen geträumt, man verwechselte Uwes und meinen Paß?
Oder habe ich das nur geträumt?
Habe ich das geträumt, was ich von meinem Traum berichte?
Was kommt mir davon ins Bewußtsein?
Habe ich nichts andres mehr geträumt oder weniger und bilde mir jetzt im Wachen neue
Beziehungen dazu ein?
Von welchen Träumen träumte ich wirklich und was kann ich davon berichten – streng genommen
– von mir oder von Uwe oder Otto? (Fichte 1982, 239-240)

Nicht nur findet sich mit dem Flughafentraum ein Intertext auf einen anderen Roman Fichtes, der der den Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden" erst verständlich macht. Auch die Figur des Otto Habermann alias Cartacalo/la taucht in mehrere Texten Fichtes (wie der Palette und dem Roman Alte Welt) auf und verbindet diese so miteinander. Die Traumdarstellung ist damit nicht nur eine Verarbeitung von Tagesresten und eine Thematisierung soziopolitischer Veränderungen, sondern kann ebenso als Verarbeitung und erneute Thematisierung von Textresten verstanden werden. So thematisiert der letzte Teil der Traumdarstellung den Umstand, dass das Flugzeug, mit dem Irma nach Hamburg fliegen wollte, abstürzt. Jäcki, dessen letze Kommunikation mit Irma ein Brief war, in dem sie ihn von ihrer geplanten Reise, fürchtet nun, dass Irma bei dem Absturz ums Leben gekommen ist. Eine Angst, die als Tagesrest auch Eingang in seine Träume findet:

Ich weiß nicht mehr, war das der Traum vom Absturz, kurz bevor Robert an die Tür schlug und die
Zeitung hereinreichte und ich fragte:
– Lebt sie?
Er antwortete nicht.
Er sagte:
– La liste des morts.
Ich dachte:
– Warum redet er nicht deutsch?
Irma fehlte.
Ich dachte:
– Das besagt gar nichts.
(Fichte 1989b, 9-11)

Ein nur kurzer Einblick in die komplexe mehrseitige Traumdarstellung, die den Roman einleitet, zeigt bereits anschaulich, dass sich in ihr alle die Themen kondensieren, die im folgenden Text der Wachwirklichkeit detaillierter entfaltet werden: die soziopolitische Veränderung Marokkos und das damit einhergehende Erstarken konservativ-religiöser Kräfte, sowie die Angst Jäckis, dass Irma beim Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist.

Aufwachen. Zwischen Traum und Traum

Über den gesamten Romantext verteilt, und diesen durch die Wiederholung strukturierend, findet sich der Fünfzeiler:

Aufwachen.
Zwischen Traum und Traum.
Die Stimmen der Sänger vom Turm.
Gottes Wort.
Sauer. (GB 12, 45, 173, 206)

Geht man auch hier von Weinbergs These aus, dass Fichtes protokollartige Sätze, eine Wirklichkeitsschreibung sind, so mag es naheliegen auch hier den Sachverhalt folgendermaßen zu rekonstruieren: der Ich-Erzähler befindet sich in Marokko und hört nach dem Erwachen – ein Zustand, der als "Zwischen Traum und Traum" charakterisiert wird – das as-salāt der Muezzine. Dieses Gotteswort ist jedoch sauer, weil es als Ausdruck des etablierten religiöse Fundamentalismus verstanden wird. Will Der Platz der Gehenkten auf der formalen Ebene "das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13), so kann auch der sich wiederholende fünfzeilige Text als eine Art Gegen-Ritual zum ritualhaft wiederholten morgendlichen Gebet verstanden werden. Dem Gesang der Muezzine als an den Koran geknüpftes Gebetsritual wird eine säkularisierte Form des Rituals als Teil eines gesamten gegen die wahhabitische Auslegung des Koran gerichteten Textes gegenübergestellt, der sich dabei jedoch derselben Strukturen religiöser Texte bedienen muss. Wenn also "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) ist, dann bedient sich Fichtes Text ebendieses poetischen Prinzips.

Das Leben doch ein Traum? Zirkeltraum?

Die letzte Traumdarstellung, die in sich einen Satz des vorab besprochenen Fünfzeilers wieder aufgreift, thematisiert grundlegend den Vorgang des Schreibens selbst. Einzelne Sätze, die bereits vorher im Text in anderen Kontexten aufgekommen sind, werden hier zu einem neuen Ganzen zusammenmontiert, um allgemein über das Verhältnis von Textproduktion und Zeitlichkeit, Traum und Wirklichkeit nachzudenken:

Wo befinde ich mich, wenn ich schreibe?
Hier oder dort oder in der Mitte oder nirgends?
Doch: das Leben ein Traum?
Die nächtliche Reise?
Zirkeltraum?
Sich mit Spiegelscherben beschneiden.
Der Zwitter.
Wegspiegeln.
Auf der Reise zur Fata Morgana werden.
Zwischen Traum und Traum.
(Fichte 1989b, 215)

So thematisiert bereits die Eingangsfrage, wo und wie das eigene Schreiben nicht nur kulturell, sondern ebenfalls epistemologisch verortet werden kann. Wenn das Leben, wie mit dem Verweis auf Calderon de la Barcas Drama angedeutet, doch nur ein Traum ist, würde damit auch das gesamte Schreiben zu einer Traumtätigkeit? Als grundlegende Frage ob und wie sich Traum und Wachwirklichkeit sich überhaupt voneinander abgrenzen lassen, spielt der Zirkeltraum auf die Doppelbödigkeit des Eingangstraums an; und damit als Moment, an dem sich nicht nur Traum und Wirklichkeit, sondern auch Traum und Traum vermischen und nicht mehr trennscharf auseinandergehalten werden können. In der Auseinandersetzung mit der Frage der Zeitlichkeit während des Aufschreibens und dem damit verbundenen Problem, dass das Schreiben der Erfahrung immer nachgelagert ist (wie auch der Traumbericht oder die Traumdarstellung erst nach dem Traum erfolgen kann)

Auf den Zwischenzustand nicht nur der Verortung während des Schreibens, sondern auch als dritter Ort zwischen Traum und Wachwirklichkeit verweist die Figur des Zwitters, die hier mit Spiegelmetaphorik verknüpft nicht nur die Verschachtelung des Eingangstraums thematisiert, sondern die Selbstreflexivität des Textes an sich.

Im Wunsch zur Fata Morgana zu werden, vollzieht das schreibende Ich dabei einerseits den Versuch als Ich aus dem Text zu verschwinden und nähert damit den Text andererseits weiter an den Traum an. So ist der Träumende zwar derjenige, der die Traumerfahrung hat, nimmt sich aber nicht unmittelbar, mitunter nur verschwommen, als Autor des Traumes wahr.

Damit wird die in den ersten beiden markierten Traumdarstellungen klare Abgrenzbarkeit von Traum und Wachwirklichkeit, zugunsten einer Verwischung der Grenze nivelliert.

Fazit

Die hier vorgestellte kurze und notwendigerweise unvollständige Betrachtung nur eines der Werke Hubert Fichtes gibt nicht nur einen ersten Einblick in die spezifische Verwendung onirischer Darstellungen, sondern verweist darüber hinaus auf die in den Text und die analysierten Traumdarstellungen eingeschriebene Intertextualität. Dass es sich dabei lohnt, dem Geflecht der Fichte'schen Texte, dem intertextuellen Fäden- und Wurzelwerk, das möglicherweise die gesamte Geschichte der Empfindlichkeit durchwächst, nicht nur ganz allgemein, sondern ebenfalls im Hinblick auf die verwendeten onirischen Ausdrucksmittel zu folgen, dazu soll dieser Artikel einen ersten Anstoß liefern.

Alexander Kerber

Literatur

Ausgaben

  • Fichte, Hubert: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Bd. VI: Der Platz der Gehenkten. Hg. von Gisela Lindemann und Leonore Mau. Frankfurt/M.: Fischer 1989; zitiert als PG.
  • Fichte, Hubert: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Bd. VI: Der Platz der Gehenkten. Hg. von Gisela Lindemann und Leonore Mau. Frankfurt/M.: Fischer 2006 [Taschenbuchausgabe].

Weitere Primärliteratur

  • Fichte, Hubert: Detlevs Imitationen "Grünspan". Roman. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer 1982.
  • Fichte, Hubert: Die Palette [1968]. Roman. Frankfurt/M.: Fischer 2. Aufl. 2010.

Forschungsliteratur

  • Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 2018.
  • Bandel, Jan-Frederik (Hg.): Tage des Lesens. Hubert Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit. Aachen: Rimbaud 2006.
  • Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Übers. von Michael Bischoff. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2019.
  • Beckermann, Thomas (Hg): Hubert Fichte. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt/M.: Fischer 1985.
  • Böhme, Hartmut: Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart: Metzler 1992.
  • Heinrichs, Hans-Jürgen: Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch, oder, Wie sich Poesie, Ethnologie und Politik durchdringen. Hubert Fichte und sein Werk. Bielefeld: Pendragon 1991.
  • Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
  • Shirane, Haruo: Traces of Dreams. Landscape, Cultural Memory, and the Poetry of Bashō. Stanford: Stanford UP 1998.
  • Teichert, Torsten: Herzschlag aussen. Die poetische Konstruktion des Fremden und des Eigenen im Werk von Hubert Fichte. Frankfurt/M.: Fischer 1987.
  • Weinberg, Manfred: Akut, Geschichte, Struktur. Hubert Fichtes Suche nach der verlorenen Sprache einer poetischen Welterfahrung. Bielefeld: Aisthesis 1993.
  • Weinberg, Manfred: „Fäden, viele Fäden“. Ungewisse Vermischungen in dem Roman Eine Glückliche Liebe von Hubert Fichte. In: Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 12 (2021), 133–48; https://doi.org/10.14361/zig-2021-120111.


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Kerber, Alexander: "Der Platz des Gehenkten" (Hubert Fichte). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Der_Platz_der_Gehenkten%22_(Hubert_Fichte).


Anmerkungen

  1. Nicht nur übersetzt Jäcki den Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe ins Deutsche und montiert einige der übersetzten Suren in den Romantext. Der Koran als Symbol für den aufkommenden religiösen Konservatismus Marokkos macht das Anschreiben gegen den Koran damit auch zu einem Anschreiben und Protest gegen die soziopolitischen Veränderungen Marokkos; vgl. zu den Koran-Übersetzungen GP 14, 46, 207, zum Koran als Symbol für soziopolitische Veränderungen GP 66, 217 f. Mit den im Romantext verstreuten Koranübersetzungen setzt sich Hartmut Böhme intensiver auseinander (Böhme 1992).
  2. Wenngleich interessant, kann hier en detail nicht darauf eingegangen werden. Zu einer historischen Analyse der Textform Haiku und wie diese mit dem haikai verknüpft ist, vgl. Shirane 1998, der ausgehend von Bashō für die Sinnhaftigkeit und den hohen Formcharakter des Haiku argumentiert.
  3. Die Anhänger des Wahhabismus bezeichnen sich selber als Sunniten oder Salafis, weshalb Wahhabismus und Salafismus häufig synonym verwendet werden