"Der Platz der Gehenkten" (Hubert Fichte)
Als sechster Band der Geschichte der Empfindlichkeit ist Der Platz der Gehenkten (1989) das letzte Buch, das Hubert Fichte (1935-1986) kurz vor seinem Tod im März 1986 druckfertig abgeschlossen hat. In ihm ist der Ich-Erzähler Jäcki das erste Mal seit längerer Zeit ohne seine Begleiterin Irma unterwegs. Während Jäcki nach Marrakesch fährt, will Irma mit einem Flugzeug der Linie Royal Air Maroc von Agadir nach Paris und von da aus nach Hamburg reisen. Als Jäcki in Marrakesch in der Zeitung davon liest, dass ebendieses Flugzeug abgestürzt ist, befürchtet er, dass auch Irma dabei ums Leben gekommen sei. Die daraus entstehenden Träume und Albträume durchziehen den gesamten Roman und thematisieren die Erinnerung, das Schreiben und die soziopolitische Situation.
Informationen zu Autor und Werk
Hubert Fichte wurde am 21. März 1935 in Perleberg geboren. Seinen Vater, der als Jude nach Schweden emigrierte, um vor den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten sicher zu sein, lernt er nie kennen. Von seiner Mutter Dora mit Hilfe ihrer Großeltern in Lokstedt großgezogen, verbringt Fichte als Kind ein Jahr (1942/43) im Waisenhaus der Stadt Schrobenhausen. Bereits in seiner Jugend ist Fichte als Kinderdarsteller aktiv. 1949 lernt der damals vierzehnjährige den Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn (1894-1959) kennen. Ein Jahr danach trifft er die Fotografin Leonore Mau (1916-2013). Nach einer Landwirtschaftslehre in Holstein verbringt Fichte ein Jahr in einem Heim für schwererziehbare Kinder in Järna, Schweden. Durch einen Aufenthalt in Frankreich, lernt er den Maler Serge Fioro kennen, mit dem er einige Zeit zusammenlebt. Ab 1962 arbeitet er als freier Schriftsteller und zieht 1963 mit Leonore Mau in eine Wohngemeinschaft nach Othmarschen. Im Jahr 1968 erscheint Fichtes Roman Die Palette. In den folgenden Jahren reisen Fichte und Mau zum Studium der afrobrasilianischen Religionen nach Bahia des Todos os Santos und nach Haiti, um den Vadou zu studieren. Die kommenden Jahrzehnte sind von weiteren ethnologischen Forschungsreisen bestimmt, die Fichte zum Material für seine Bücher werden. Als unheimlich produktiver Autor war er nicht nur als Verfasser von Büchern und Artikeln für Zeitschriften und Zeitungen tätig; er zeichnet auch als Radioautor (in Kooperation mit Peter Michael Ladiges) für die Texte einer Vielzahl von Hörspielen und Features verantwortlich.
Hubert Fichte stirbt am 8. März 1986 im Alter von 51 Jahren im Hafenkrankenhaus in Hamburg an den Folgen einer AIDS-Erkrankung.
Zur Form des Romans
Das formale Programm des Platz der Gehenkten wird von Fichte zu Anfang des Romans transparent gemacht:
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Der Roman ist in seinem formalen Aufbau somit eine Gegenthese zum "Gesetz der schrumpfenden Glieder" des Korans. Dass sich dieses Anschreiben gegen den Koran auch auf inhaltlicher Ebene wiederfinden lässt, soll nicht Teil dieses Artikels sein, lässt sich aber im gesamten Text belegen.[1]
Für Teichert kann Der Platz der Gehenkten als "Höhepunkt jener kompositorischer Prinzipien" (Teichert 1987, 277) gesehen werden, die Fichte in früheren Werken bereits entwickelt und erprobt hat. Dass es sich dabei um musikalische und kompositorische Prinzipien handeln könnte, legt er in seinen weiteren Ausführungen zwar nahe, führt es aber nicht weiter aus. Der Der Platz der Gehenkten weist zwar eine ganz eindeutige Form auf, orientiert sich jedoch weniger an den von Teichert nur vage angedeuteten kompositorischen Prinzipien, sondern stärker an der Suren-Struktur des Korans, als dessen formale Antithese sich der Roman versteht.
Dieser Lesart entspricht auch die Anmerkung der Herausgeberin des Romans Gisela Lindemann, wenn sie schreibt, dass der Roman "mit deren [###] zentraler literarischer Manifestation: dem Koran" (PG 21) korrespondiere. Die Übersetzung des Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe wird in der oben zitierten Passage von der narrativen Instanz dabei zum Anlass genommen, nicht nur über dessen Verhältnis zur Bibel nachzudenken, sondern auch die formale Struktur des Korans in den Fokus zu rücken. Aus der Einsicht, dass die Texte, aus denen der Koran besteht, von Sure zu Sure kürzer werden, entwickelt Fichte das Strukturprinzip seines eigenen Romans, der aus Texten besteht, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen: "Ich möchte das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (PG 13). Mit einem Verweis auf einem Dr. Bahlmann, erwähnt er zudem, dass "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) sei. ES wird sich zeigen, dass dieses poetische Prinzip der Wiederholung im Rahmen eines Fünfzeilers sowohl im Roman als auch in einer Traumdarstellung als strukturierendes Element auftaucht.
Traumdarstellungen in Der Platz der Gehenkten
Intensitäten des Traumhaften: Markierte Träume
Um die Traumdarstellungen in Der Platz der Gehenkten klassifizieren zu können, wird auf eine von Stefanie Kreuzer entwickelte Traumtypologie zurückgegriffen, welche Traumdarstellungen nach ihrer Markiertheit sortiert. Kreuzer arbeitet drei verschiedene Darstellungsarten heraus, die sie wertfrei als Intensivierungen des traumhaften Erzählens und damit als "Wegfall jeglicher Markierung des Traumzustandes" (Kreuzer 2014, 90) versteht. (1) Markierte Traumdarstellungen bilden den eindeutigsten Fall traumhaften Erzählens, da hier die Abgrenzung verschiedener diegetischer Ebenen der Wach- und Traumwelt textlich klar kommuniziert wird. Im Rahmen dieses Artikels interessiert nur diese erste Intensität onirischen Erzählens.
(2) Durch "unsichere Grenzen" sind Traumdarstellungen charakterisiert, bei denen sich keine eindeutige UnterschiedungGrenzen zwischen Traumdarstellung und Wachwirklichkeit treffen lässt und eine klare Trennung und Hierarchisierung verschiedener diegetischer Ebenen unmöglich ist. Um Texte als Darstellungen dieser Art klassifizieren zu können, arbeitet Kreuzer Merkmale des Onirischen heraus, die zur Interpretation herangezogen werden können.
(3) Der Wegfall jeglicher onirischer Markierung charakterisiert die höchste Intensität des Traumhaften, die Kreuzer als unmarkierte, autonome Traumdarstellungen bezeichnet. Um solche Arten der Traumdarstellungen von einer "im eigentlichen Sinne zu verstehenden antimimetischen Darstellungsweise und einer uneigentlich-parabolischen" Lesart (Kreuzer 2014, 91), bedarf es weiterer Merkmale des Onirischen.
Markierte Traumdarstellungen in Der Platz der Gehenkten
Flughafentraum vom vertauschten Pass
Fichtes Roman beginnt mit einer mehrseitigen komplexen Traumdarstellung, die sich erst nachträglich als markiert klassifizieren lässt. Der Ich-Erzähler vermischt dabei Tagesreste mit seinen Ängsten, Wünschen und den Erinnerungen an andere vor einigen Tagen geträumte Träume. Die Traumdarstellung lässt sich in drei thematische Teile gliedern, für die sich unterschiedliche Aspekte des im Traum Verhandelten herausarbeiten lassen: (a) ein erster Teil thematisiert die Reisevorbereitungen nach Marakech, auf den mit (b) der Traum einer Passkontrolle am Flughafen folgt. Der dritte Teil (c) ist ein Intertext zu einem früheren Romane Fichtes, der die werkübergreifende Spezifik des Traums als Teil der Fichteschen Poetologie in den Fokus rückt.
Reisevorbereitungen
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Der Roman Der Platz der Gehenkten beginnt mit den Reisevorbereitungen Jäckis und Irmas. Während Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist Jäcki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen.
Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten Sätze des Romans Der Platz der Gehenkten sich auf den ersten Blick wie eine für Fichte typische "Wirklichkeits-Schreibung" (Weinberg 1993, 126) lesen. Eine genauere Betrachtung des dritten Satzes "Ich hatte Irma zum Schlafwagen gebracht und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach Fez" (PG 9). führt jedoch Inkongruenzen in das Geschehen ein: zum einen werden die Reisevorbereitungen mit anderen Zielen wiederholt, zum anderen bringt die narrative Instanz Irma zum Schlafwagen des Busses, obwohl "Busse dergleichen gewöhnlich nicht besitzen" (Weinberg 1993, 126).
Weinberg zufolge stößt die Traumdarstellung einen dreiteiligen reflexiven Prozess an, der den Lesenden über die Relation zwischen Traum und Wirklichkeit nachdenken lässt. So lese man in einem ersten Schritt Sätze über Irma, die eine scheinbar wirkliche Situation einer Reisevorbereitung beschreiben. Das Irritationsmoment des Schlafwagens im Nachtbus lasse dann die Situation als Traumdarstellung erscheinen. Man sei reflexiv nun nicht mehr davon überzeugt, dass die Sätze über Irma und die Reisevorbereitungen eine Beschreibung der Wirklichkeit sind, sondern glaube, dass sie zum Traumgeschehen gehören. In einem reflexiven dritten Schritt kehre man zwar zur Anfangsthese zurück, dass es sich bei den Sätzen um Beschreibungen einer wirklichen Situation handelt, denke aber nun grundlegend über das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit nach.
Selbst wenn man jedoch nicht davon überzeugt ist, dass die von Weinberg beschriebene Irritation schon eindeutig für die Traumhaftigkeit des geschilderten Geschehens spricht, lassen sich einige Zeilen später mit dem Satz "Es folgen trübe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum, Ungereimtheiten, Schnitte" (PG 9) die vorangegangenen Ereignisse als überraschende Traumauflösungen im Sinne Stefanie Kreuzers verstehen (Kreuzer 2014, 225). Für Kreuzer lassen sich markierte Traumdarstellungen – um die es sich hier durch die Thematisierung des Traums handelt – in zwei Kategorien unterteilen: (1) Erzählungen, in denen Traumdarstellungen von vorneherein diegetisch von der Wachwelt unterschieden sind. Die Voraussetzung für diese Art der Traumdarstellung setzt eine klare und bereits vorangegangenes Etablierung der Wachwelt und ein Wissen über diese voraus. (2) Eine zweite Kategorie fasst Traumdarstellungen, die erst retrospektiv als solche zu erkennen sind. Für Kreuzer sind solche Texte "rezeptionsästhetisch immer mit einer Umdeutung der Diegese oder auch einer überraschenden Traum(auf)lösung verbunden" (Kreuzer 2014, 225). Die Schilderungen Fichtes in Der Platz der Gehenkten, die sich erst als tatsächliche Schilderung der Ereignisse lesen lassen, können demnach als eine durch solche überraschende Traum(auf)lösung geprägte Traumdarstellung verstanden werden, die durchaus in Relation zur Wachwelt steht, da sie Tagesreste der Wachwirklichkeit verarbeitet.
Für Torsten Teichert, der zwar nicht an der Traumhaftigkeit der Schilderungen zweifelt, aber diese nicht in den Fokus seiner Betrachtungen rückt, trifft der Romananfang eine poetologische Aussage über Bauplan des gesamten Romans. So beginne der Text zwar mit der Schilderung eines Traums, in die ein weiterer Traum verschachtelt wird. Wichtig ist für Teichert dabei aber nicht das Spezifikum der onirischen Darstellung, sondern die Wirkung der verschachtelte Traumdarstellung: "völlige Identitätsverwirrung" (Teichert 1987, 304). Ob es sich bei der Traumdarstellung um eine geträumte Erinnerung oder einen erinnerten Traum handelt, will Teichert nicht festlegen. Es gilt für ihn jedoch, dass die Identität des Ichs dadurch, dass der Roman mit einem Traum beginnt, "schon auf der ersten Seite [...] infrage gestellt" (Teichert 1987, 304) wird.
In diesem Artikel soll gegen Teichert dafür argumentiert werden, dass nicht die Identität der narrativen Instanz infrage gestellt, sondern ein selbstreflexives Moment in den Text einführt und die Relation verschiedener Träume aufeinander thematisiert wird. Weitaus näher an dieser Überlegung zur Selbstreflexivität des Textes ist Teichert, wenn er sich fragt: "Redet Fichte hier nur von einem Traum? Nicht in Wahrheit von dem Bauplan des Romans, den wir durchschreiten, indem wir die trüben Stellen und Leerflächen, die Schnitte und abrupten Wechsel mitlesen?" (Teichert 1987, 304). Es wird gezeigt werden, dass die Schreibsituation in Der Platz der Gehenkten keine der absoluten Identitätsverwirrung ist, sondern eine komplexe Vermischung tagespolitischer Themen, Erinnerungen und Ängste der narrativen Instanz.
Der vertauschte Pass
Im weiteren Verlauf der Traumdarstellung verbinden sich mehrere Erzählebenen und Erinnerungen. Die narrative Instanz träumt davon, dass sie in einem Café im Flughafen sitzt und der Kellner sie nach dem Studentenausweis fragt. Als sich das träumende Ich weigert, den Ausweis vorzuzeigen, gesellt sich ein Geheimpolizist dazu, der erneut dazu auffordert, sich auszuweisen:
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Eine genauere Betrachtung der zitierten Textstelle zeigt, dass sich hier im Rahmen der Erzählung des Traumgeschehens zwei Träume ineinanderschieben. So wird das Traumgeschehen der Passkontrolle am Flughafen mit einem anderen Traum, in dem das träumende Ich mit Uwe in einer Pension war, im Modus der Erinnerung verknüpft. In diesem anderen Traum in der Pension vertauscht ein Rezeptionist die Pässe Uwes und des Erzählers; ein Umstand, der sich nun auf den Traum der Passkontrolle im Flughafen auswirkt. Einer onirischen Logik, die formale und inhaltliche Brüche im Handlungsgeschehen zulässt und mit der man Ungereimtheiten – wie den vertauschten Pass – mit Rekurs auf eine allgemeine Traumlogik erklären könnte, wird im Traum eine rationalistische Erklärung entgegengehalten, die den Umstand mit Rekurs auf das Geschehen eines anderen Traums zu erklären versucht.
Teicherts Interpretation, dass sich im Traumgeschehen eine "völlige Identitätsverwirrung" in deren Rahmen die "Identität des Ichs infrage gestellt" wird, von der oben schon die Rede war, muss daher widersprochen werden. So argumentiert Teichert weiterhin dafür, dass der Schreibvorgang des Romans allgemein als Erinnerungsvorgang verstanden werden kann, der in sich das Risiko berge, "sich doppelt zu sehen als der, der schreibt, und der, der aus der Vergangenheit mit den Wörtern hochgeholt wird" (Teichert 1987, 306). Dieser Rückgriff auf Vergangenes als Reservoir für das Erzählen (den man durchaus als allgemeine Spezifik des Erzählens verstehen kann[2]) offenbart für Teichert jedoch ein "doppeltes Wagnis" (Teichert 1987, 306), da das gegenwärtig schreibende Ich dadurch "von der Identität aus alter Erinnerung und von der Wirklichkeit, die mit dem Gedächtnis zur Sprache gebracht werden soll" (Teichert 1987, 306) attackiert wird. Der Schreibvorgang als Erinnerungsvorgang ist damit nicht nur ein Prozess, der das Ich wie bei Wordsworth in ein erinnerndes Ich und ein erinnertes Ich spaltet. Es ist gleichzeitig auch ein gewaltsamer Aufspaltungs- und Verdopplungsvorgang, der Gefahr läuft, das Auseinanderfallen des Verfasser-Subjekts zu riskieren (vgl. Teichert 1987, 306).
Erinnerung versteht Wordsworth in seinem Text Poem Titel not yet fixed upon by William Wordsworth Addressed to S.T. Coleridge, das in der Forschung unter dem eingängigeren, aber posthumen Titel Prelude bekannt ist, als reflexiven Vorgang, d.h. als eine temporalisierte Selbstbeobachtung oder Selbstspaltung und Selbstverdoppelung. Das Ich spaltet sich in und doppelt sich als erinnerndes Ich und erinnertes Ich, die durch die zeitliche Differenz qualitativ voneinander getrennt sind. Der Erinnerungsvorgang ist damit auch immer eine Vergegenwärtigung des Abstands zum Vergangenen und äußert sich als damit als grundlegende Alteritätserfahrung. Diese wird als "Wunde der Zeit" (Assmann 2018, 101) wahrgenommen, die darauf verweist, dass das tatsächliche Erfahrungsdatum in seiner erinnerten Form nur ein schwacher Abglanz der tatsächlichen Erfahrung ist (vgl. Assmann 2018, 102).
Thematisieren die im Platz der Gehenkten vorhandenen Traumdarstellungen zwar durchaus ebendiese Trennung in erinnerndes und erinnertes Ich, so ist die von Teichert behauptete Identitätsverwirrung zu keinem Zeitpunkt offensichtlich, da selbst das träumende Ich weiß, dass es Uwes Pass und damit nicht den eigenen besitzt. Die Verwirrung tritt dabei erst ein, wenn sich das, inzwischen erwachte Ich, daran erinnern will, welche der erinnerten Erlebnisse Teil des Traums waren und welche nicht:
Vielmehr verweist die Passkontrolle am Flughafen im Flughaften-Traum auf das sich verändernde politische Klima in Marokko hin, das sich in den 70er- und 80er-Jahren einer starken Re-Islamisierung ausgesetzt sah. So versuchte der damalige König Hassan II. die monarchiekritische Linke dadurch zu bekämpfen, dass er die konservativen Kräfte im Land stärkte. Das hatte zur Folge, dass der saudi-arabische Wahhabismus[3] – eine traditionalistische Strömung innerhalb des Sunnitentums – wieder in Marokko Fuß fassen konnte und sich eine konservative Interpretation des Korans an Schulen und Universitäten etablierte. Im obigen Traum der Passkontrolle kondensiert sich dabei die neue Skepsis der marokkanischen Behörden vor westlichen Ausländern, die an anderen Stellen im Text in nicht-onirischen Darstellungen weiter ausgeführt wird. Der Koran, gegen den Der Platz der Gehenkten, wie bereits erwähnt, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich anschreibt wird im Roman zum Symbol für den Rückfall des Landes in konservativ-traditionalistische Denkmuster. Dass der westliche Einfluss (und sexuelle Liberalismus) durch die Re-etablierung konservativer Koran-Auslegungen jedoch nicht verschwindet, sondern von nun an wieder im Geheimen praktiziert wird, darauf verweist unter anderem folgende Textstelle:
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Intertextuelle Bezüge
Als Ver- und Neubearbeitung von Textresten gestaltet sich die Szene am Flughafen aber ebenfalls als fast wörtliches Zitat eines anderen Romans Fichtes: Detlevs Imitationen "Grünspan". Auf diesen Umstand weist auch Manfred Weinberg hin, wenn er sagt, dass der Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden." sich nicht auf Der Platz der Gehenkten sondern auf Detlevs Imitationen "Grünspan" bezieht (Weinberg 1993, 127). Zum Vergleich sei daher die entsprechende Textstelle aus Detlevs Imitationen "Grünspan" zitiert:
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Nicht nur findet sich mit dem Flughafentraum ein Intertext auf einen anderen Roman Fichtes, der der den Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden" erst verständlich macht. Auch die Figur des Otto Habermann alias Cartacalo/la taucht in mehrere Texten Fichtes (wie der Palette und dem Roman Alte Welt) auf und verbindet diese so miteinander. Die Traumdarstellung ist damit nicht nur eine Verarbeitung von Tagesresten und eine Thematisierung soziopolitischer Veränderungen, sondern kann ebenso als Verarbeitung und erneute Thematisierung von Textresten verstanden werden. So thematisiert der letzte Teil der Traumdarstellung den Umstand, dass das Flugzeug, mit dem Irma nach Hamburg fliegen wollte, abstürzt. Jäcki, dessen letze Kommunikation mit Irma ein Brief war, in dem sie ihn von ihrer geplanten Reise, fürchtet nun, dass Irma bei dem Absturz ums Leben gekommen ist. Eine Angst, die als Tagesrest auch Eingang in seine Träume findet:
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Ein nur kurzer Einblick in die komplexe mehrseitige Traumdarstellung, die den Roman einleitet, zeigt bereits anschaulich, dass sich in ihr alle die Themen kondensieren, die im folgenden Text der Wachwirklichkeit detaillierter entfaltet werden: die soziopolitische Veränderung Marokkos und das damit einhergehende Erstarken konservativ-religiöser Kräfte, sowie die Angst Jäckis, dass Irma beim Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist.
Aufwachen. Zwischen Traum und Traum
Die zweite markierte Traumdarstellung, die hier betrachtet werden soll, nimmt einen fünfzeiligen Text in den Fokus, der an mehreren Stellen im Romantext auftaucht und diesen durch die ritualhafte Wiederholung strukturiert. Versteht man den Roman in seiner Form und auch inhaltlich als Gegenbewegung zum Koran, lässt sich der fünfzeilige Text als Gegen-Ritual verstehen, das in sich die Gefahr birgt, das zu reproduzieren, gegen das es anschreibt. Über den gesamten Romantext verteilt, und diesen durch die Wiederholung strukturierend, findet sich der Fünfzeiler:
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Geht man auch hier von Weinbergs These aus, dass Fichtes protokollartige Sätze, eine Wirklichkeitsschreibung sind, so mag es naheliegen auch hier den Sachverhalt folgendermaßen zu rekonstruieren: der Ich-Erzähler befindet sich in Marokko und hört nach dem Erwachen – ein Zustand, der als "Zwischen Traum und Traum" charakterisiert wird – das as-salāt der Muezzine. Dieses Gotteswort ist jedoch sauer, weil es als Ausdruck des etablierten religiöse Fundamentalismus verstanden wird. Will Der Platz der Gehenkten auf der formalen Ebene "das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13), so kann auch der sich wiederholende fünfzeilige Text als eine Art Gegen-Ritual zum ritualhaft wiederholten morgendlichen Gebet verstanden werden. Dem Gesang der Muezzine als an den Koran geknüpftes Gebetsritual wird eine säkularisierte Form des Rituals als Teil eines gesamten gegen die wahhabitische Auslegung des Koran gerichteten Textes gegenübergestellt, der sich dabei jedoch derselben Strukturen religiöser Texte bedienen muss. Wenn also "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) ist, dann bedient sich Fichtes Text ebendieses poetischen Prinzips.
Das Leben doch ein Traum? Zirkeltraum?
Eine dritte Traumdarstellung thematisiert den Traum in seinem selbstreflexiven Gehalt und wie dieser im Verhältnis zu Wirklichkeit, Zeitlichkeit und dem Schreibprozess an sich steht. Diese letzte Traumdarstellung, die in sich einen Satz des vorab besprochenen Fünfzeilers wieder aufgreift, thematisiert grundlegend den Vorgang des Schreibens selbst. Einzelne Sätze, die bereits vorher im Text in anderen Kontexten vorgekommen sind, werden hier zu einem neuen Ganzen zusammenmontiert, um allgemein über das Verhältnis von Textproduktion und Zeitlichkeit, Traum und Wirklichkeit nachzudenken:
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So thematisiert bereits die Eingangsfrage, wo und wie das eigene Schreiben nicht nur kulturell, sondern ebenfalls epistemologisch verortet werden kann. Wenn das Leben, wie mit dem Verweis auf Calderon de la Barcas Drama angedeutet, doch nur ein Traum ist, würde damit auch das gesamte Schreiben zu einer Traumtätigkeit? Als grundlegende Frage ob und wie sich Traum und Wachwirklichkeit sich überhaupt voneinander abgrenzen lassen, spielt der Zirkeltraum auf die Doppelbödigkeit des Eingangstraums an; und damit als Moment, an dem sich nicht nur Traum und Wirklichkeit, sondern auch Traum und Traum vermischen und nicht mehr trennscharf auseinandergehalten werden können. In der Auseinandersetzung mit der Frage der Zeitlichkeit während des Aufschreibens und dem damit verbundenen Problem, dass das Schreiben der Erfahrung immer nachgelagert ist (wie auch der Traumbericht oder die Traumdarstellung erst nach dem Traum erfolgen kann)
Auf den Zwischenzustand nicht nur der Verortung während des Schreibens, sondern auch als dritter Ort zwischen Traum und Wachwirklichkeit verweist die Figur des Zwitters, die hier mit Spiegelmetaphorik verknüpft nicht nur die Verschachtelung des Eingangstraums thematisiert, sondern die Selbstreflexivität des Textes an sich.
Im Wunsch zur Fata Morgana zu werden, vollzieht das schreibende Ich dabei einerseits den Versuch als Ich aus dem Text zu verschwinden und nähert damit den Text andererseits weiter an den Traum an. So ist der Träumende zwar derjenige, der die Traumerfahrung hat, nimmt sich aber nicht unmittelbar, mitunter nur verschwommen, als Autor des Traumes wahr.
Damit wird die in den ersten beiden markierten Traumdarstellungen klare Abgrenzbarkeit von Traum und Wachwirklichkeit, zugunsten einer Verwischung der Grenze nivelliert.
Fazit
Die hier vorgestellte kurze und notwendigerweise unvollständige Betrachtung nur eines der Werke Hubert Fichtes gibt nicht nur einen ersten Einblick in die spezifische Verwendung onirischer Darstellungen, sondern verweist darüber hinaus auf die in den Text und die analysierten Traumdarstellungen eingeschriebene Intertextualität. Dass es sich dabei lohnt, dem Geflecht der Fichte'schen Texte, dem intertextuellen Fäden- und Wurzelwerk, das möglicherweise die gesamte Geschichte der Empfindlichkeit durchwächst, nicht nur ganz allgemein, sondern ebenfalls im Hinblick auf die verwendeten onirischen Ausdrucksmittel zu folgen, dazu soll dieser Artikel einen ersten Anstoß liefern.
Literatur
Ausgaben
- Fichte, Hubert: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Bd. VI: Der Platz der Gehenkten. Hg. von Gisela Lindemann und Leonore Mau. Frankfurt/M.: Fischer 1989; zitiert als PG.
- Fichte, Hubert: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Bd. VI: Der Platz der Gehenkten. Hg. von Gisela Lindemann und Leonore Mau. Frankfurt/M.: Fischer 2006 [Taschenbuchausgabe].
Weitere Primärliteratur
- Fichte, Hubert: Detlevs Imitationen "Grünspan". Roman. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer 1982.
- Fichte, Hubert: Die Palette [1968]. Roman. Frankfurt/M.: Fischer 2. Aufl. 2010.
Forschungsliteratur
- Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 2018.
- Bandel, Jan-Frederik (Hg.): Tage des Lesens. Hubert Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit. Aachen: Rimbaud 2006.
- Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Übers. von Michael Bischoff. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2019.
- Beckermann, Thomas (Hg): Hubert Fichte. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt/M.: Fischer 1985.
- Böhme, Hartmut: Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart: Metzler 1992.
- Heinrichs, Hans-Jürgen: Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch, oder, Wie sich Poesie, Ethnologie und Politik durchdringen. Hubert Fichte und sein Werk. Bielefeld: Pendragon 1991.
- Herrmann, Janina: Hubert Fichtes Roman Der Platz der Gehenkten als Platz der Lebenden. In: andererseits. Journal of Transaltlantic German Studies 2 (2011) 1, 159-169.
- Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
- Shirane, Haruo: Traces of Dreams. Landscape, Cultural Memory, and the Poetry of Bashō. Stanford: Stanford UP 1998.
- Teichert, Torsten: Herzschlag aussen. Die poetische Konstruktion des Fremden und des Eigenen im Werk von Hubert Fichte. Frankfurt/M.: Fischer 1987.
- Weber, #######
- Weinberg, Manfred: Akut, Geschichte, Struktur. Hubert Fichtes Suche nach der verlorenen Sprache einer poetischen Welterfahrung. Bielefeld: Aisthesis 1993.
- Weinberg, Manfred: „Fäden, viele Fäden“. Ungewisse Vermischungen in dem Roman Eine Glückliche Liebe von Hubert Fichte. In: Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 12 (2021), 133–48; https://doi.org/10.14361/zig-2021-120111.
Zitiervorschlag für diesen Artikel: Kerber, Alexander: "Der Platz der Gehenkten" (Hubert Fichte). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Der_Platz_der_Gehenkten%22_(Hubert_Fichte). |
Anmerkungen
- ↑ Nicht nur übersetzt Jäcki den Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe ins Deutsche und montiert einige der übersetzten Suren in den Romantext. Der Koran als Symbol für den aufkommenden religiösen Konservatismus Marokkos macht das Anschreiben gegen den Koran damit auch zu einem Anschreiben und Protest gegen die soziopolitischen Veränderungen Marokkos; vgl. zu den Koran-Übersetzungen GP 14, 46, 207, zum Koran als Symbol für soziopolitische Veränderungen GP 66, 217 f. Mit den im Romantext verstreuten Koranübersetzungen setzt sich Hartmut Böhme intensiver auseinander (Böhme 1992).
- ↑ "Erzählen gilt immer Nichtaktuellem" (Weber 1998, 24)
- ↑ Die Anhänger des Wahhabismus bezeichnen sich selber als Sunniten oder Salafis, weshalb Wahhabismus und Salafismus häufig synonym verwendet werden