"Atys" (Jean-Baptiste Lully)

Aus Lexikon Traumkultur
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Jean-Baptiste Lully

Die 1676 entstandene tragédie lyrique Atys des französischen Komponisten Jean-Baptiste Lully (1632–1687) beinhaltet als erste französische Oper eine Traumszene. Diese wurde wegweisend für die Traumdarstellung in Oper und Instrumentalmusik.


Komponist

Jean-Baptiste Lully wird am 29. November 1632 in Florenz geboren. 1646 tritt er in Paris seine Tätigkeit als garçon de chambre bei Anne-Marie-Louise d’Orléans an. Lully vervollständigt in dieser Zeit seine musikalische Ausbildung als Cembalist, Violinist und Komponist. 1651 wird er maître à danser du roi am Hof Ludwigs XIV, 1653 folgt die Ernennung zum compositeur de la musique instrumentale. 1661 erhält er die höchste Stellung als surintendant de la musique de chambre du roi. Nach intensiver Zusammenarbeit mit Molière, die zur Entstehung zahlreicher comédies-ballets führt, erwirbt Lully 1669 das Opernprivileg und schafft mit seinen tragédies lyriques den wegweisenden Typus der französischen Oper. Zu seinen bekanntesten Werken zählen Thésée, Atys und Armide. Lully stirbt am 22. März 1687 in Paris (vgl. Art. Lully).


Entstehung und Aufführungsgeschichte

Die Entstehung der Oper Atys steht in Zusammenhang mit der Guerre de Hollande. Diese dehnt sich 1675 auf Seeschlachten von Frankreich gegen Holland und Spanien aus. Ludwig XIV, der selbst an der Front kämpft, kehrt von Juli 1675 bis März 1676 an seinen Hof zurück, bevor er im Frühjahr 1676 die Kampfestätigkeit fortsetzt. In der Zeit seines Aufenthaltes in Paris wählt er Atys als Opernsujet aus und wohnt der Uraufführung am 10. Januar 1676 am Hof in Saint-Germain-en-Laye bei (vgl. Duron 1987b, 20). Lully und Philippe Quinault erwähnen im Prolog die bevorstehende Rückkehr des Königs an die Front, sodass Duron annimmt, die Oper diene einzig der königlichen Unterhaltung (vgl. Duron 1987b, 20). Auf sentimentaler Ebene aber bezieht sie sich auf die Situation des Königs: Die Zeit der Uraufführung des Atys fällt in eine Periode, in der Ludwig XIV keine Liebschaften unterhält und in der er sich möglicherweise mit Atys Vorliebe für „unbeteiligte Herzen“ identifiziert (vgl. Duron 1987b, 21).

Die Uraufführung des Atys ist so erfolgreich gewesen, dass die Oper 1677, 1678 und 1682 in Saint-Germaine-en-Laye und 1753 am Hof in Fontainebleau wiederaufgenommen wird. Der Öffentlichkeit wird das Werk im April 1676 an der Pariser Oper mit großem Erfolg präsentiert und erlebt sieben Wiederaufnahmen zwischen 1689 und 1747 (vgl. Rosow). Internationale Aufführungen in Amsterdam, Marseille, Lyon, Rouen, Brüssel, Metz, Lille und Den Haag folgen in den Jahren 1687–1749. Atys ist bis heute im Opernrepertoire, wobei insbesondere die historisch informierte Wideraufführung unter der Regie von William Christie von 1987 hervorzuheben ist (vgl. Rosow).


Opernhandlung und Traumszene

Die Oper Atys handelt von der tragischen Liebe der Göttin Cybèle zu Atys. Im ersten Akt bereitet Atys mit Hilfe der Phrygier die Ankunft der Göttin vor, während Sangaride, die eigentlich Atys liebt, erstmals auf ihren künftigen Ehemann Célénus, König der Phrygier, treffen soll. Atys und Célénus geraten im zweiten Akt in Konflikt, weil beide das Amt des Hohepriesters für Cybèle übernehmen wollen. Cybèle, die Atys liebt, erwählt diesen zum Hohepriester, kann ihm jedoch ihre Liebe aus Gründen der bienséance – der gesellschaftlich-sittlichen Normen – nicht gestehen. Kurz nachdem Atys sich für Sangaride entschieden hat, sendet Cybèle ihm im dritten Akt einen Traum. Darin erfährt er von ihrer Liebe und der ihm drohenden Rache, sollte er sie zurückweisen. Als Sangaride fleht, Célénus nicht heiraten zu müssen, erkennt Cybèle beider Liebe. Atys bittet Célénus im vierten Akt kraft seines Amtes als Hohepriester, die Hochzeit mit Sangaride auszusetzen. Im fünften Akt erkennen Célénus und Cybèle, dass sie hintergangen wurden: Die angekündigte Rache setzt ein, als Cybèle Atys mit Wahnsinn belegt, dieser daraufhin Sangaride tötet und auch sich selbst, nachdem er seine Tat erkennt hat. Zurück bleibt Cybèle, die Atys in eine Pinie verwandelt, als sie einsieht, dass sie auch sich gestraft hat (vgl. Duron 1987a, 28f.).

Die als Divertissement gestaltete Traumszene steht kurz vor dem Ende des dritten Aktes. Die Traumszene wird dramaturgisch vorbereitet, indem Cybèle bereits in Akt II, 3 im Gespräch mit ihrer Vertrauten Mélisse darauf hinweist: „fay venir le Sommeil; que lui-même en ce jour,/ Prenne soin icy de conduire/ Les songes qui luy font la Cour;/ Atys ne sçait point mon amour,/ Par un moyen nouveau je prentens l’en instruire“ (A 10; „Lass den Schlaf kommen;/ dass dieser selbst sich heute der Aufgabe annehme/ die Träume zu leiten, die ihm [Atys] den Hof machen;/ Atys weiß nichts von meiner Liebe;/ durch ein neues Mittel, habe ich vor, ihn davon in Kenntnis zu setzen“). Als Atys einschläft (Akt III,3-4), verwandelt sich das Bühnenbild von einem Palast in eine Grotte, umgeben von Mohn und Bächen. Dies ist die Kulisse, vor der die Gottheiten des Schlafes erscheinen, gefolgt von den personifizierten guten und schlechten Träumen. Die Götter überbringen Atys die Kunde von Cybèles Liebe. Die guten Träume bestärken ihn darin, die Liebe Cybèles anzunehmen, während die schlechten die von den Schlafgottheiten zuvor ausgesprochene Warnung vor ihrer Rache bei Zurückweisung bestärken (vgl. Henze-Döhring 1997, 316). Solche Personifizierungen von Gottheiten und Träumen im Musiktheater werden zu einem Topos von Traumszenen. Verbildlicht sind die Träume als auf der Bühne agierende Instrumentalisten und Tänzer, wodurch eine Einheit von Musik und bildlicher Darstellung erzeugt wird (vgl. Henze-Döhring 1997, 317) und eine klare Abgrenzung des Traumes zur fiktionalen Realität entsteht. Die Traumszene erhält eine dramaturgische Schlüsselrolle, da sich die Prophezeiungen der songes funestes auf der Handlungsebene bewahrheiten (vgl. Henze-Döhring 1997, 316).


Die Traumszene

Aufbau

Die Traumszene aus der Oper Atys ist in der vierten Szene des dritten Aktes als Divertissement angesiedelt. Damit hat das Divertissement die Position einer mittigen Symmetrieachse, die zugleich das emotionale Zentrum der Handlung – das Liebesgeständnis Cybèles – enthält (vgl. Leopold 2006, 214). Dem Divertissement ist mit der dritten Szene eine Einschlafphase vorangestellt (III,3), in der Atys sich für Sangaride entscheidet (vgl. Henze-Döhring 1997, 315). Die eigentliche Traumszene (III,4) beginnt mit einem ausgedehnten, vollbesetzen, instrumentalen Präludium in g-Moll, auf das der Auftritt der guten und schließlich derjenige der schlechten Träume folgt. Die Traumzene ist so dreiteilig, wobei das Präludium, mit den Arien der Schlafgottheiten, nach denen es wiederholt wird, den ersten musikalischen Teil in g-Moll bildet. Den zweiten Teil konstituieren weitere Arien der Schlafgötter sowie die Tanz- und Musikeinlagen der guten Träume, ebenfalls in g-Moll. Die deutlichste Zäsur bildet der harmonische Wechsel nach B-Dur, der mit Auftreten der schlechten Träume einhergeht und den Beginn des dritten Teiles markiert (vgl. Wood 1981, 36).


Instrumentation

Weder aus Lullys Manuskripten (Lully o.J.), aus späteren Nachdrucken (Lully 1689, 1709, 1720, 1998), noch aus der hier verwendeten modernen Ausgabe geht die exakte Instrumentation der Oper hervor. Diese ist aber von großer Bedeutung, da die Instrumentation von Traumszenen nach Vorbild Lullys zu einem Topos wird. Lullys 150-köpfiges Opernorchester hat neben den beiden fünfstimmigen Streichergruppen, dem grand choeur und dem solistisch besetzten petit choeur, eine Continuogruppe aus zwei Cembalisten, sechs Theorben, Lauten und Violen und ein bis zwei basses de violon umfasst. Weitere 21 Musiker haben jeweils mehrere Holzblasinstrumente gespielt: Flöten, Oboen und Fagotte (vgl. La Gorce 1987, 85). Aus der Partitur des Atys geht hervor, dass eine Continuogruppe spielt. Der fünfstimmige Satz entspricht der Schlüsselung nach dem für Lully typischen Streichersatz. Der Einsatz von Flöten ist in der Partitur kenntlich gemacht, ebenso wie derjenige von zwei Violen, zwei Theorben, Flöten, einem zwölfstimmigen Chor der songes funestes, zuzüglich je acht tanzender guter und schlechter Träume (vgl. A, 110ff.).


Präludium und Terzett der Schlafgötter – erster Teil der Traumszene

Das Präludium, das das Divertissement einleitet, ist ein handlungsfreies Element, das als traumfreie Phase des Tiefschlafs interpretiert werden kann, während die Gesangs-, Tanz- und Choreinlagen Teil des Onirischen sind (vgl. Alexandre 1987, 101). Das Präludium ist mit Flöten instrumentiert, die zu einem Topos der Traumszenen werden (vgl. La Gorce 2010, 205). Harmonisch zeichnet es sich durch eine dem Schlaf gemäße Statik aus: g-Moll wird trotz Berührung des doppeldominantischen Bereiches (z. B. T. 8; alle Taktangaben beziehen sich auf die Ausgabe A) und des Einsatzes von Zwischendominanten (T. 15ff.) und Vorhaltbildungen (z. B. T. 48: Quartvorhalt) nicht in Frage gestellt.

Einen wiegenliedhaften Gestus schaffen die stets präsenten zweigebundenen Viertel, die sich überwiegend schrittweise bewegen (vgl. La Gorce 2010, 205) und dialogartig zwischen Streichern und Flöten alterieren (z. B. T. 1-6: Streicher, T. 6-10: Flöten). Diese Motivik wird zum Topos in Schlafszenen (vgl. Wood 1996, 328). Das Präludium setzt sich aus diesem Material fort, wobei die Begleitfigur aus ganzer Note mit Nachschlag, die erstmals in den tiefen Streichern zu den zweigebundenen Vierteln erschienen war (T. 1-3), zunehmend prominent wird (T. 45-48 und ab T. 54). Sie trägt zur Beruhigung der rhythmisch-melodischen Bewegung gemäß dem Einschlafen bei. Aufgrund der dramaturgisch geschickten Gestaltung des Präludiums, die aus dem präzisen Einsatz der monotonen, sich trotz der stetigen Viertelbewegung beruhigenden Motivik und der alterierenden Klangfarben resultiert, gelingt Lully eine musikalisch ökonomische aber wirkungsvolle Hinführung zum Traumgeschehen.

Dieses setzt nahtlos mit dem Terzett „Dormons, dormons tous“ des Schlafgottes Le Sommeil und seiner Söhne Morphée, Phobétor und Phantase ein. Dass das Traumgeschehen Schlafgötter beinhaltet und dass der Traum eine Botschaft Cybèles ist, verortet es in den Bereich der songes divins. Deren Existenz wird im 17. Jahrhundert in Natur- und Geisteswissenschaften, Theologie, Mystik und Volksglauben aufgrund der Autorität der Bibel anerkannt (vgl. Dandrey 1988, 85ff.; Simon 1988, 141f.; Matton 1988, 157, 162-176; Gautier 1988, 9, 13f., 17). Bei Lully ist das Traumgeschehen durch die Rahmenthematik und die Figuren in die Mythologie übertragen und bietet damit Raum für das Merveilleux. Ferner ist es eine innerhalb der Fiktion und vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Ideen der Zeit plausibel erscheinende und der bienséance entsprechende Form des Liebesgeständnisses einer Göttin.

Das Terzett, das durch eine halbe Pause vom Präludium abgesetzt ist (T. 57), setzt das Schlafmotiv des Präludiums ostinat fort (vgl. Wood 1996, 328). Gemäß der Schlafthematik bewegt sich die Harmonik konstant in g-Moll. Die Melodik des Schlafgottes ist von Tonwiederholungen und langen Notenwerten geprägt, die seine Aufforderung zum Schlafen illustrieren (T. 58-62). Bei der Beschreibung der Süße dieser Tätigkeit verengt sich die Melodiebewegung auf kleine und große Sekunden. Morphée beschwört anschließend den Schlaf, die Sinne zu beruhigen und verweist damit auf die historische Ansicht, im Schlaf- und Traumprozess kühle sich das Gehirn ab und Geist und Sinne verlangsamten sich. Angesichts solcher Hinweise ist davon auszugehen, dass Lully die damaligen Traumvorstellungen bekannt waren und er eine dementsprechend angepasste Darstellung des Traums innerhalb der mythologischen Fiktion versucht. Morphées Beschwörung ist von der Singstimme seines Vaters abgesetzt durch eine Modulation nach c-Moll (T. 74) und das Wiedererscheinen der punktierten, eine Tonrepetition beinhaltenden Motive, die im Instrumentalvorspiel zu Atys Einschlafrezitativ Verwendung fanden (vgl. III,3, T. 1-10). Tonmalerisch wird bei Morphées Aufforderung, die Herzen mit einem tiefen Frieden – dem Schlaf und dem Traum – zu beruhigen, die Anzahl der Tonrepetitionen erhöht, sodass es melodisch zu einer Stagnation kommt. Lully moduliert zudem, die „paix profonde“ illustrierend, zurück in die Grundtonart (T. 100) und lässt die Melodie innerhalb von drei Takten um eine Oktave abfallen (T. 100-102). Dass Atys durch das Wirken der Götter in den Schlaf gefunden hat, zeigt die zwei Takte währende Generalpause (T. 113f.).

Phobétor evoziert nun die Traumwelt – die in der Bühnenkulisse dargestellten, dahinfließenden Bäche. Musikalisch wird das Onirische über den Einsatz der Flöten (T. 105) markiert. Diese führen die Motivik aus punktierten Tonrepetitionen fort, während in der Singstimme neben oftmals ebenmäßigen Tonrepetitionen (T. 105 und T. 118-133), die den Schlaf verkörpern, schrittweise absteigende, punktierte Motive erscheinen, die das Fließen der Bäche illustrieren (T. 108-117). Zudem verlässt das Continuo erstmals die Viertelmotivik zugunsten einer mit der Gesangsstimme fast ständig unisono geführten Melodik. Lully evoziert mittels der Flöten und der Motivik den Schlaf als ruhig-süßen Zustand. Zugleich zeigt er ihn mit der Darstellung der Bäche als Ort der Illusion. Die Harmonik verharrt stabil in g-Moll. Schlaf als Voraussetzung für den Traum ist so entsprechend der damaligen Vorstellungen (vgl. Dandrey 1988, 72f.) auch bei Lully ein Zustand der geistigen Inaktivität.

Die Wiederholung der Anfangsphrase „Dormons, dormons tous“ durch den Sommeil (T. 121-146), greifen die Söhne leicht polyphon versetzt auf (T. 145f.) und wandeln sie motivisch ab, indem sie Teile derselben (z. B. T. 148-150: Morphée als Abwandlung der Motivik aus T. 139-142) mit den schon bekannten Tonrepetitionen (z. B. T. 151 in allen Stimmen) kombinieren. Die Continuostimme verbindet dabei die punktierte (z.B. T. 150f.) mit der gebundenen Viertelmotivik (T. 162). Harmonisch bleibt auch das Terzett stabil in g-Moll. Geschickt baut Lully aber eine harmonische Schlussspannung auf, indem er über den Wechsel der Nebenfunktionen und ihrer Dominanten sowie über die Einfügung eines Trugschlusses (T. 172f.) und eines plagalen (also mit der Subdominante gebildeten) Schlusses (T. 174f.) die eigentliche Tonika bis in den Schlusstakt des Terzetts zurückhält.[1] Begleitet wird dieser Spannungsbogen von der zunehmenden melodischen Abwärtsbewegung. Die im Text des Terzetts wiederholte Aufforderung zum Schlafen geht mit einer musikalischen Zusammenfassung der gesamten Arie einher. Hierauf folgt die Wiederholung des Präludiums, die einen großformalen dreiteiligen ersten Abschnitt der Schlafszene schafft. Die Verwendung von Präludien in Zusammenhang mit Traumszenen verbreitet sich in der Nachfolge Lullys, wobei die von Lully gegebene Strukturierung mit eingeschobener Arie einzigartig bleibt (vgl. La Gorce 2010, 205).


Die guten Träume – zweiter Teil der Traumszene

Der Auftritt der guten Träume, die tanzend und singend zu den Schlafgöttern hinzutreten, bildet den Mittelteil der Traumszene. Mit der Arie „Escoute, escoute Atys“ berichten die Götter Atys von der Liebe Cybèles. Über einem Continuo aus langen Noten und dem Schlafmotiv hebt Morphée auf die Glorie ab, die Atys erwartet, wenn er ihre Liebe annimmt. Der Gesang mit seinen punktierten Tonrepetitionen (T. 2ff., T. 10-13) im wiegenden Zweiertakt, den ebenmäßigen Tonwiederholungen (T. 5-8, T. 14), der sich stabil in g-Moll bewegenden Harmonik sowie der überwiegend schrittweisen Bewegung bezieht sich im Gestus auf den Moment des Einschlafens in Szene III,3 und die Traumdarstellung im Präludium ab dem Einsatz der Sänger. Dies erlaubt Lully, der Szenerie eine außerordentliche Geschlossenheit und Ruhe zu verleihen, die den Moment des Schlafens einfängt.

Im sich anschließenden Terzett der Schlafgottsöhne (T. 16-25) warnt Lully, dass die Liebe Cybèles ewige Treue erfordere. Ein erstmaliger Tonartwechsel nach B-Dur (T. 16-20), der späteren Tonart der songes funestes, deutet auf deren Auftritt im dritten Teil der Szene voraus (vgl. Leopold 2006, 214) und verleiht der Warnung zusammen mit der Zunahme der Besetzung und der homophonen, von Tonrepetitionen geprägten Deklamation eine bedrohliche Eindrücklichkeit. Auffällig ist, dass die Unsterblichkeit der Schönheit Cybèles und damit ihrer Person (T. 16-20) in B-Dur gesetzt ist, während der zweite Phrasenteil (T. 21-25) in g-Moll ewige Treue und Liebe beinhaltet. Mit der Tonika wird hier der positive Ausgang der Liebe - vorausgesetzt Atys nimmt sie an - harmonisch verdeutlicht. Im zweiten Teil der Warnung (T. 26-41) singt Phantase solistisch zur Continuobegleitung in g-Moll und bestärkt die Vorteilhaftigkeit der Liebe zu einer Göttin mit einem neuen, schrittweise aufsteigenden Motiv, das um zwei, satztechnisch korrekt in Gegenrichtung aufgefangene Quartsprünge abfällt (T. 26ff.). Die abfallende Bewegung sowie das Erreichen der Tonika auf „attraits“, den Reizen der Liebe zu Cybèle, verdeutlichen musikalisch den Zwang, dem Atys ausgesetzt ist. Lully hebt diesen weiter hervor, indem er über wellenartige melodische Bewegung den Spitzenton f auf „puissance“, der Macht Cybèles über die Liebe und über Atys, erreicht (dies wird im Folgenden als Liebesmachtmotivik bezeichnet). Nach einer Wiederholung der ersten und der nach oben sequenzierten zweiten Phrase (T. 34-38), wird mit Besingen der nie endenden Liebe über die Schlusskadenz mit Quartvorhalt die Grundtonart erreicht (T. 39ff.). So ist die Akzeptanz des Antrags von Cybèle musikalisch als einzig mögliche Lösung ausgewiesen.

Hieran schließt sich der instrumental untermalte Tanz der songes agréables an (Entrée des songes agréables). Besetzt ist er mit dem fünfstimmigen Lullyschen Streichersatz, sowie höchstwahrscheinlich colla parte[2] mit den in der Regieanweisung (S. 110) genannten, auf der Bühne spielenden Violen und Theorben. Der homophon gesetzte Tanz kombiniert, wie für Instrumentalformen der frühen französischen Oper üblich (vgl. Anthony 1990, 68), Phantases Motive der Reize der Liebe (T. 1-3) und ihrer Macht (T. 4-6) mit den aus dem Präludium bekannten Tonrepetitionen in kleinschrittiger Reihung (T. 6-10). Harmonisch verbleibt dieser wiederholte Teil A des Tanzes (T. 1-10) in g-Moll. Teil B ist zweiteilig. Im Abschnitt a (T. 11-18) verlangsamt sich die Bewegung der Begleitstimmen, während in der Oberstimme ein bewegter Gestus aus punktierten Tonrepetitionen (T. 11, T. 15f.), Motivabspaltungen des Liebesmachtmotivs (T. 12) sowie schrittweise Achtelbewegungen (T. 13) erscheinen. Harmonisch bewegt sich dieser Abschnitt zur Tonikaparallele (T. 18). Die sechstaktige, identisch wiederholte Phrase des Abschnittes b (T. 18-30) kombiniert die Punktierungen aus Abschnitt a mit der Schlafmotivik aus Tonrepetitionen. Die erste Phrase öffnet sich zur Dominante, während die zweite in die Tonika mit pikardischer Terz schließt. Auch hier ist die Harmonik, die den Schlaf als Zustand des körperlichen Ruhens darstellt, äußerst stabil. Die auf der Bühne agierenden Sänger und Instrumentalisten stellen die Traumbilder dar. Da diese Figuren nicht explizit göttlichen Ursprungs sind, könnten sie auch die songes animaux verkörpern.

In der folgenden Arie „Gouste en paix“ singt Phobétor in der bereits bekannten Motivik aus punktierten Tonrepetitionen zu der für Schlafszenen seit Lully typischen Flöten- und Continuobegleitung in einem ersten Abschnitt A (T. 1-15) vom Frieden und dem Glück einer göttlichen Liebe, die es wert ist, sich der Kette ewiger Treue zu ergeben. Auch hier wird g-Moll nicht verlassen. Die Göttlichkeit Cybèles wird mit einer aufsteigenden Melodielinie und dem Spitzenton d auf „divinité“ in ihrer Bedeutung hervorgehoben (T. 6-8). Nicht nur ist die Tatsache, dass Cybèle Göttin ist, Anlass für das Auftreten der Götter zur Überbringung der Liebesbotschaft, es ist zugleich Grund für die Zwänge, denen Atys sich unterworfen sieht. Die melodische Kulmination fällt somit auch mit der Peripetie der Oper zusammen. Im Anschluss hieran fällt die Melodie sukzessive um den Tonumfang einer Undezime. Die Phrase endet offen in der Dominante, sodass die Aussage des Glücks einer göttlichen Liebe nicht bestätigt wird. Die klangliche Lieblichkeit, erzeugt durch die ab T. 9 fast durchgängig in Terzen gesetzten Flöten, erscheint in ihrer Verbildlichung der Worte Phobétors als ironischer Kommentar auf die von ihm in tiefster Lage und mit absteigender Melodik besungene Schönheit der Ketten der Liebe. An Phobétors mehrdeutiges Lob einer Liebe, die Unfreiheit bedeutet, schließt sich die schon bekannte Warnung der Schlafgötter (T. 16-25) sowie deren Bekräftigung durch Phantase (T. 26-41) an. Die Wiederholung des Entrée der songes agréables beschließt den zweiten Teil der Szene. Mit der Darstellung der guten Träume bewegt Lully sich im Bereich der songes divins und der songes animaux. Seine Traumszene folgt somit den in Medizin, Philosophie und Theologie geläufigen Vorstellungen gottgesandter Träume und der darin auftretenden Gestalten.


Der Auftritt der songes funestes – dritter Teil der Traumszene

Mit dem Auftritt der songes funestes erhält ein dämonisches Element Eintritt in die Traumszene. Schlechte Träume können einerseits innerhalb der songes corporels bei schlechter körperlicher Verfassung (vgl. Dandrey 1988, 87) auftreten, andererseits in von Dämonen ausgelösten songes divins, wie sie auch die Medizin annimmt (vgl. Dandrey 1988, 85f.). Ferner kommen sie in Dämonenträumen vor (vgl. Matton 1988, 157). Sie sind damit im Bereich des Bedrohlichen angesiedelt, in dem böse Mächte als Gegenspieler Gottes oder gesundheitliche Probleme im todesähnlichen Schlafzustand wirken.

Ihr Auftritt in der Oper Atys ist auf allen Ebenen von der vorangehenden Traumszene abgesetzt. Am augenfälligsten ist die Ablösung aller zuvor aufgetretenen Figuren durch die Personifizierungen der schlechten Träume und einen einzigen Sänger. Von nun an steht B-Dur im Zentrum, die Tonart des Dämonischen (vgl. Henze-Döhring 1997, 318). Die Flöten als Symbol der guten Träume treten nicht mehr auf; anstelle von Arien erscheint ein Rezitativ (vgl. Duron 1987c, 59). Die tiefe Lage des Rezitativs „Garde-toy d’offencer un amour glorieux“, die Beschleunigung des Rhythmus durch zahlreiche Achteln (z. B. T. 3) und die Verdopplung der Geschwindigkeit bei den Punktierungen (z. B. T. 2) sorgen für einen gewandelten musikalischen Charakter. Signifikant verändert ist auch die Continuobegleitung, die mit langen Notenwerten die Taktschwerpunkte betont und eine hauptsächlich harmonische Funktion übernimmt. Die Motivik des Gesangs aber bleibt derjenigen der guten Träume ähnlich: Tonwiederholungen und Punktierungen, nun jedoch abgewandelt durch stärkere melodische Bewegung und einen großen Tonumfang bilden die zentralen Elemente. Der songe funeste beginnt seine Warnung vor der Rache Cybèles mit der zweimaligen Folge von Sext- bzw. Terzsprung abwärts und schrittweise aufwärtsgerichteter Bewegung (T. 1-5). Der Spitzenton c (T. 5) sowie eine harmonische Ausweichung nach C-Dur werden erreicht, als er erklärt, dass Cybèle für ihre Liebe zu einem Sterblichen den Himmel wird verlassen müssen, und damit die Härte der Racheandrohungen begründet. Auf halbtönige Schritte (T. 5f.) verengt sich in der nächsten Phrase die melodische Bewegung, als Atys aufgefordert wird, Cybèles Hoffnung nicht zu vernichten. Die kleinen Intervallschritte deuten bildlich auf die geringe Hoffnung, die für sie besteht. Die Motivik kehrt mit den Rachedrohungen zu auf- und absteigenden Skalen zurück, die mit Tonrepetitionen und Punktierungen durchsetzt sind (T. 7-15). Durch das erneute Erscheinen von C-Dur in T. 10, als der songe funeste vom eifersüchtigen Herzen spricht, verdeutlicht Lully harmonisch in Bezugnahme auf die vorherige Ausweichung nach C-Dur (T. 5), dass es sich um Cybèles Herz handelt. Die Arie schließt mit der Drohung, dass Atys sich einer so mächtigen Liebe nicht widersetzen dürfe. Die Gesangsstimme schwingt sich dabei schrittweise auf (T. 13) und schließt in der Tonika. Ebenso unausweichlich wie das B-Dur dieses Szenenteils ist auch die Liebe Cybèles und damit der tragische Opernausgang.

Die Tanzeinlage, Entrée des songes funestes, ist homophon im fünfstimmigen Lullyschen Streichersatz instrumentiert. Durch die in allen Stimmen gleichzeitig gesetzten Akkordwechsel oder -wiederholungen auf Hauptzeiten sowie die repetierten Punktierungen entsteht ein marschartiger, rigider Charakter. Die Melodiestimme im dessus de violon lockert diese rhythmischen Strukturen nicht grundsätzlich auf. Nach einer einführenden, absteigenden Sechzehntelskala (T. 1) folgt die Melodik einer Grundstruktur aus punktierten, repetierten Vierteln, häufig parallel zur Begleitung (z. B. T. 2f.). Dies wird von Fragmenten aus der Sechzehntelkette durchsetzt, die entweder in lange Noten (z. B. T. 5-7) oder in punktierte Vierteln münden (ab T. 22). Die Melodie ist von marschartigem Charakter, den die zahlreichen Sprünge (z. B. der Sextsprung T. 11) und die im Vergleich zu den guten Träumen bewegte melodische Bewegung kaum aufzulockern vermögen. Die Tonart ist fest in B-Dur verankert. Beide Teile (T. 1-15, T. 16-31) verwenden dieselbe Motivik. Lully zeichnet hier das Dämonische nach, das die songes divins bedrohlicher Art kennzeichnet.

Der Chœur des songes funestes radikalisiert die Motivik der Entrée, indem ein vierstimmiger Chor homophon und homorhythmisch in fast ausschließlicher Viertelbewegung (vgl. Duron 1987c, 61) die Rache Cybèles bei Untreue des Atys syllabisch deklamierend beschwört. Der harmonische Rhythmus ist auf vorwiegend taktweise Bewegung verlangsamt (T. 1-3, T. 5f., 12ff., 16-20, 22-28), wobei die Grundtonart nicht verlassen wird. Die akkordische Bewegung wird von fast ausschließlich schrittweisen melodischen Linien begleitet, deren einförmige Viertelbewegung nur an den Phrasenenden durch Punktierungen und abschließende ganze Noten (T. 4f., 9, 14, 15, 16, 18, 22, 24, 27f.) aufgebrochen wird. Lully erstrebt eine Chorrezitation nach Vorbild der griechischen Tragödie: Das Wort steht im Vordergrund. Der nicht am Sprechduktus orientierte, sondern auf gleichmäßige Bewegung gerichtete Rhythmus erzeugt einen marschartigen, drohenden Charakter. Dieser vollendet sich mit der zweimal (T. 17-22, 23-28) gesungenen Todeswarnung, deren zweiten Teil „Tremble, tremble, crains un affreux trépas“ („Zittere, zittere, fürchte einen schrecklichen Tod“, T. 25-28) den Tod explizit benennt. Das Deklamationstempo verlangsamt sich auf Halbe und Ganze, die Melodik stagniert, während sich eine authentische Kadenz vollzieht – möglicherweise ein musikalischer Hinweis darauf, dass diese Drohung sich bewahrheiten wird. In diesem dritten Szenenteil geht es weniger um die Darstellung eines Traumgeschehens entsprechend der damaligen Vorstellungen, sondern um die dramaturgische Rechtfertigung und Ankündigung des weiteren Handlungsverlaufs.

Die abschließende Deuxième Entrée des songes funestes, ebenfalls für fünfstimmigen Streichersatz, ist von gänzlich anderem Charakter. Schon im ersten Teil (T. 1-10) sorgt die bewegte und sprunghafte Melodie der dessus de violon mit den tänzerischen Achtelrhythmen im Dreiertakt für Tanzstimmung innerhalb der weiterhin beibehaltenen Tonart B-Dur. Zahlreiche Vorhalte[3] (T. 7ff.) erhöhen die harmonische Spannung. In allen Stimmen bleiben punktierte Tonrepetitionen präsent, die durch die auf sie folgenden Pausen aber (T. 4, 5, 8, 9) ihren marschhaft-drohenden Gestus verlieren. Mit einer Kadenz nach F-Dur öffnet sich der erste Teil zur Dominante. Der zweite (T. 12-25) führt in den ersten beiden Takten die Motivik des ersten fort, weicht dann aber unvermittelt auf den Gestus des vorangehenden Chores aus. Wirkt die homophon vorgetragene Viertelpunktierung mit zwei Sechzehnteln am Anfang jedes Taktes (T. 14-18) noch verspielt, so wird mit den überwiegend repetierten Viertelen auf die Deklamation des Chores und seine Todeswarnung angespielt. Auch die Harmonik erscheint hier analog zum Chor auf taktweise Bewegung verlangsamt. Mit absteigenden, von Achteln durchsetzten Skalen im Tonumfang einer Septime schließt der zweite Teil (T. 19-25). Die Begleitstimmen sind aus derselben Motivik gewonnen, sodass am Ende ein tänzerischer Charakter vorherrscht. Die Abwärtsbewegung der Skalen aber vermag nicht über die Düsterkeit von Atys’ Zukunft hinwegzutäuschen. Mit dieser fast verspielten Darstellung der schlechten Träume illustriert Lully die Gestalten derselben als dämonische Wesen. Der Überschwang des Tanzes erinnert an das Dionysische, wobei im Zentrum des Stückes, einem warnenden Fingerzeig gleich, auf die Todesandrohung verwiesen wird. Insbesondere hierdurch wird die dramaturgische Funktion dieses Szenenteils in Erinnerung gerufen. Die Szene endet mit dem Verschwinden der Szenerie und ihrer Figuren, als Atys verschreckt aus seinem Traum erwacht.


Szenenbild mit den songes funestes bei einer Aufführung des Ensembles Les Arts Florissants aus dem Jahr 2014 am Théâtre de Caen in Caen, Frankreich.


Lullys Traumdarstellung

Lullys Traumszene zeichnet sich durch ihre klare Struktur, ihre Anlehnung an die Traumvorstellungen des 17. Jahrhunderts – derjenigen des songe divin und der dämonischen Träume – und ihre dramaturgische Funktion aus. Gemäß dem mythologischen Thema wählt Lully einen songe divin. Den Traumvorstellungen seiner Zeit entsprechend erscheint hierin die Botschaft der Göttin Cybèle vermittelt durch allegorische Figuren. Die szenische Darstellung des Traumgeschehens und das Erschrecken Atys' beim Erwachen sind für das Theater typische Darstellungen des Traumes (vgl. Forestier 1988, 16f.). Als göttlicher Traum ist er ein nach den damaligen Vorstellungen in Medizin, Theologie und Volksglauben real mögliches Phänomen. Durch seine Einbettung in eine mythologische Fiktion und die dadurch erfolgende Abgrenzung vom Sakralen wird seine zukunftsvorhersagende Komponente aus theologischer Sicht akzeptabel. Aus der Perspektive der Philosophie am Ende des 17. Jahrhunderts aber ist die handlungsvorausnehmende Komponente dieses göttlichen Traums nicht mehr zeitgemäß (vgl. Simon 1988, 141f.). Es ist eben diese Komponente, die den Traum des Atys als geschickten Kunstgriff ausweist: Lully bindet den Traum eng in die dramaturgische Gestaltung seiner Oper ein, indem er hierin das nach der bienséance unmögliche Liebesgeständnis einer Göttin an einen Sterblichen darstellt und damit zugleich den Handlungsausgang begründet und vorbereitet. In seiner zukunftsvorhersagenden Funktion zeugt der Traum von einem konservativen Traumverständnis, da insbesondere in der Philosophie von Ménéstrier (vgl. Gautier 1988, 10) und Descartes (vgl. Simon 1988, 141f.) Ende des 17. Jahrhunderts die visionäre Kraft von Träumen hinterfragt wird. Die Zukunftsweisung ist also weniger eine zeitgemäße Traumvorstellung als ein zentrales dramaturgisches Mittel. Somit besteht bei Lully eine enge Koppelung der musikdramatischen Traumdarstellung mit den medizinischen, philosophischen, theologischen und allgemeinen Traumvorstellungen des 17. Jahrhunderts. Ob seine Nachfolger in Oper und Instrumentalmusik die Gestaltung ihrer Traumdarstellungen an zeitgenössischem Gedankengut orientierten, bleibt noch zu erforschen. Erkenntnisse hierüber würden Aufschluss darüber geben, ob die Rezeption von Lullys Traumszene sich ausschließlich auf die kompositorische Gestaltung bezogen, oder ob auch ihr konzeptioneller und ideengeschichtlicher Hintergrund an die jeweilige Gegenwart angepasst wurde. Ein solcher Zusammenhang würde einen engen Bezug zwischen den gelehrten Denktraditionen und der Kunst belegen können – eine Interdisziplinarität von ungeahnter Modernität.

Einordnung

Die Traumszene aus Lullys Atys avanciert zu einem eigenen Szenentypus in der französischen Oper (ähnlich den Sturm- oder Wahnsinnsszenen) und wird über die Grenzen des Musiktheaters hinweg in weltlicher und sakraler Musik der époque classique rezipiert (vgl. Stenzl 1991, 16f.). Diese rege Rezeption ist möglicherweise eine Folge des großen Erfolges dieser Oper, die sich in zahlreichen Wiederaufführungen und vielfachen Parodien bis Mitte des 18. Jahrhunderts zeigt (vgl. Rubellin 2005, 141f.).

Lullys Traumszene kennt aber auch Vorläufer. Nach dem Vorbild von Schlaf- und Nachtbildern petrarkistischer Gedichte und ihrer Vertonung bei Komponisten wie Claudio Monteverdi und Orlando di Lasso, erscheinen in der frühen italienischen Oper des 17. Jahrhunderts, wie etwa bei Monteverdi, Einschlaflieder (vgl. Stenzl 1991, 16). Konkret bezieht Lully sich auf Luigi Rossos Orfeo (1647), indem er dessen Soprantrio „Dormite begli occhi“ in der comédie ballet Les amants magnifiques nachahmt.[4] Zudem ergänzt Lully die Pariser Aufführung des Ercole amante 1662 von Francesco Cavalli um ein Divertissement (Le Sommeil et les songes), das eine Traumszene ist und erstmals den Schlaf und die Träume szenisch sichtbar macht (vgl. Stenzl 1991, 17f.).

Traumszenen in der Tradition Lullys sind in der französischen und italienischen Oper vielfach rezipiert worden, so bei Henry Desmartes, Marain Marais, André Destouches, Jean-Baptiste Matho, Jean-Philippe Rameau oder Georg Friedrich Händel. Sie haben auch Eingang in die Instrumentalmusik bis hin zu François Couperin und Johann Sebastian Bach gefunden (vgl. Wood 1996, 330-334 u. Stenzl 1991, 18 u. 21). Hierin zeigt sich die außerordentliche Bedeutung von Lullys Oper und insbesondere der darin enthaltenen Traumszene. Bei der Rezeption steht vor allem die Übernahme der musikalischen Gestaltung im Vordergrund – es bilden sich aus der kompositorischen Umsetzung der Traumszene in Atys Topoi der Traumdarstellung – auch indem Lully selbst sommeil-Szenen nach Vorbild seiner Oper Atys in Isis (1677), Persée (1682), Phaëton (1683), Roland (1685), und Armide (1686) einsetzt (vgl. Wood 1996, 330-334). Traumszenen als jenseitiges Motiv, als Ansprache einer Göttin zur Überzeugung einer Person, werden in der französischen Oper Lullys und seiner Nachfolger populär (vgl. Wood 1996, 252f.). Die Überschreitung des real Möglichen und der Konventionen wird so mit dem Medium Traum markiert. Lullys Traumszene wird zu einem Meilenstein der musikalischen Traumdarstellung und nimmt damit eine zukunftsweisende Rolle in der Musikgeschichte ein.

Christine Roth

Literatur

Ausgaben

  • Atys. Tragédie en cinq actes avec prologue, livret de Philippe Quinault, partition générale. Bibliothèque Municipale de Paris. Bibliothèque municipale Versailles, Manuscript musical 100.
  • Atys: Tragedie en musique. Ornée d'entrées de ballet, de machines, & de changements de theatre. Representée devant Sa Majesté à Saint Germain en Laye, le dixiéme jour de janvier 1676. Paris: Ballard 1776; online.
  • Atys. Tragédie mise en musique. Paris: Ballard 2. Aufl. 1720; online.
  • Atys. Tragédie mise en musique. Paris: Baussen 2. Aufl. 1709.
  • Atys. Tragédie mise en musique. Facsimile of the first edition [1689]. Hg. von Elma Sanders. The Tragédies lyriques in Facsimile. Bd. 4. New York: Broude 1998.

Verwendete Ausgabe:

  • Atys. Hg. von Nicolas Sceaux. o.O. 2010-2012; online (zitiert mit der Sigle A; alle Übersetzungen daraus von Verf.).


Forschungsliteratur

  • Alexandre, Ivan A.: Atys dormant ou le sommeil paradoxal. In: L’avant-scène opéra 94 (1987) 3, 100-103.
  • Anthony, James R.: The Musical Structure of Lully’s Operatic Airs. In: Jerôme de La Gorce/Herbert Schneider (Hg.): Jean-Baptiste Lully. Actes du colloque Saint-Germain-en-Laye – Heidelberg 1987. Laaber: Laaber 1990, 65-76.
  • Dandrey, Patrick: La médecine du songe au XVIIe siècle. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 67-101.
  • Duron, Jean: Argument. In: L’avant-scène opéra 94 (1987a), 28 f.
  • Duron, Jean: Atys, opéra du Roi. In: L’avant-scène opéra 94 (1987b), 20 f.
  • Duron, Jean: Introduction. Atys – tragédie lyrique. In: L’avant-scène opéra 94 (1987c), 32-80.
  • Forestier, Georges: Le rêve littéraire du baroque au classicisme. Réflexes typologiques et enjeux esthétiques. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 213-235.
  • Gautier, Jean-Luc: Rêver en France au XVIIe siècle. Une introduction. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 7-24.
  • Henze-Döhring, Sabine: Das verdichtete Bild. Traumvisionen in der Musik. In: Klaus Hortschansky (Hg.): Traditionen – Neuansätze. Für Anna Abert (1906–1996). Tutzing: Schneider 1997, 315-328.
  • La Gorce, Jerôme de: La création d’Atys et les spectacles de Saint-Germain en Laye. In: L’avant-scène opéra 94 (1987), 82-85.
  • La Gorce, Jerôme de: Deskriptive Musik in den Opern Lullys. In: Thomas Seedorf (Hg.): Barockes Musiktheater in Geschichte und Gegenwart. Bericht über die Symposien der internationalen Händel-Akademie Karlsruhe 2005 bis 2007. Laaber: Laaber 2010, 199-209 (Veröffentlichungen der Internationalen Händel-Akademie Karlsruhe 9).
  • Leopold, Silke: Die Oper im 17. Jahrhundert. Laaber: Laaber 2006 (Geschichte der Oper 1).
  • Matton, Sylvain: Le rêve dans les „secrètes sciences“. Spirituels, kabbalistes, chrétiens et alchimistes. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 153-180.
  • Rubellin, Françoise: Stratégies parodiques à la foire et aux italiens. Le dénouement d’Atys de Lully et Quinault. In: Delia Gambelli/Letizia Norci Cagiano (Hg.): Le théâtre en musique et son double (1600–1762). Actes du Colloque „L’Académie de musique, Lully, l’opéra et la parodie de l’opéra“, Rome,4-5 février 2000. Paris: Champion 2005, 141-190.
  • Simon, Gerard: Descartes, le rêve et la philosophie au XVII siècle. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 133-151.
  • Stenzl, Jürg: Traum und Musik. In: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.): Musik und Traum. München: Ed. Text + Kritik 1991, 8-102 (Musik-Konzepte 74).
  • Wood, Caroline: Orchestra and Spectacle in the ‚tragédie en musique‘ 1673-1715. Oracle, ‚sommeil‘ et ‚tempête‘. In: Proceedings of the Royal Music Association 108 (1981/2), 25-46.
  • Wood, Caroline: Music and Drama in the ‘tragédie en musique’, 1673-1715. Jean-Baptiste Lully and his sucessors. New York, London: Garland 1996.
  • Zywietz, Micheal: Der Tanz in den Divertissements der Tragédies en musique. In: Thomas Seedorf (Hg.): Barockes Musiktheater in Geschichte und Gegenwart. Bericht über die Symposien der internationalen Händel-Akademie Karlsruhe 2005 bis 2007. Laaber: Laaber 2010, 211-220 (Veröffentlichungen der Internationalen Händel-Akademie Karlsruhe 9).

Weblinks

Aufführungen:

  • Video der Aufführung an der Opéra comique, Paris, 1987; Regie: William Christie, Dirigent: Jean-Marie Villégier (ca. 3 Stunden, 5 Minuten; Traumszene ca. ab 1:25); online.
  • Querschnitt durch eine Aufführung an der Opéra comique, Paris 2011; Regie: William Christie, Dirigent: Jean-Marie Villégier (ca. 3 Minuten): Französisch, Englisch.
  • Auftritt von Le Sommeil, Aufführung des Ensembles Les Arts Florissants, Théâtre de Caen, 2014 (ca. 3 Minuten): online.
  • Songes agréables et funestes, Regie: Iakovos Pappas, Dirigent: Vassilis Anastasiou, Mégaron Athen, 2010 (ca. 5 Minuten): online.
  • Songes funestes, Opéra comique, Paris 2011 (ca. 4 Minuten): online.


Anmerkungen

  1. Die Subdominante c-Moll in T. 156 wird über die Dominante auf Zz. 1 erreicht. Anschließend erscheint wieder G-Dur als Zwischendominante, der eine Septime hinzugefügt wird und die sich wiederum in c-Moll auflöst (T. 158), das diesmal mit Sekundvorhalt erscheint. Wieder erfolgt ein Wechsel zur Zwischendominante, deren Quartvorhalt sich auflöst (T. 148) und sich abermals in die Zwischendominante auflöst. In der Folge wird ein ähnliches Spiel mit der Tonikaparallele und ihrer Zwischendominante verfolgt. Über die Tonikaparallele wird die Dominante D-Dur (T. 169) erreicht, die sich nach einem Spannungsaufbau durch einen Trugschluss (T. 172f.) und einen plagalen Schluss (T. 174f.) schlussendlich mit Erreichen der Schlusstakte in die Tonika auflöst (T. 178-180).
  2. Als colla parte wird eine mit den Gesangstimmen identische Instrumentalbegleitung bezeichnet.
  3. Ein Vorhalt ist eine harmoniefremde, dissonierende Note auf einer schweren Taktzeit, die sich durch einen Sekundschritt in einen harmonieeigenen Ton auflöst.
  4. Lully verwendet dieselbe Szene für Les Fêtes de l’Amour et de Bacchus (1672) (vgl. Wood 1997, 327).


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Roth, Christine: "Atys" (Jean-Baptiste Lully). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2017; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Atys%22_(Jean-Baptiste_Lully) .