"Ministerium der Träume" (Hengameh Yaghoobifarah)

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Ministerium der Träume (2021) ist der Debütroman von Journalist*in und Schriftsteller*in Hengameh Yaghoobifarah (*1991 in Kiel). Der Roman erzählt auf verschiedenen Zeitebenen von den traumatischen Erlebnissen und Rassismus-Erfahrungen einer queeren Ich-Erzählerin, die 1981 als Kind mit ihrer Mutter und ihrer Schwester aus Teheran nach Norddeutschland flüchtet. Als die Schwester etwa 40 Jahre später unter rätselhaften Umständen stirbt, blickt die Erzählerin auf ihre traumatische Vergangenheit zurück, die sich in vier Traumepisoden widerspiegelt.


Überblick

Das Geschehen von Ministerium der Träume spielt auf zwei zeitlichen Ebenen, die eng miteinander verbunden sind. In der Gegenwart arbeitet die Ich-Erzählerin Nasrin Behzadi als Türsteherin in einer queeren Berliner Bar. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Schwester Nushin, die in einem brennenden Auto ums Leben gekommen ist, treibt Nasrin die Frage um, ob ihre Schwester einen Unfall hatte, einen Suizid begangen hat oder ermordet wurde. Gleichzeitig wird sie zum Vormund ihrer 14-jährigen Nichte Parvin, zieht in die Wohnung ihrer Schwester und versucht, sich mit ihrer Nichte ein neues Leben einzurichten. Die Trauer um Nushin, unverarbeitete Traumata und die Suche nach Antworten durchkreuzen dieses Vorhaben allerdings immer wieder.

Dieser Erzählstrang wird durch insgesamt neun Rückblenden durchbrochen, die durch entsprechende Jahreszahlen und Tempuswechsel deutlich markiert sind. Die erste setzt im Jahr 1981 an, als Nasrin sieben Jahre alt ist und mit ihrer Mutter (Mâmân) und ihrer jüngeren Schwester Nushin vor dem Ersten Golfkrieg (1980–1988) aus dem Iran fliehen muss. Die Familie zieht in den Hudekamp, eine als „sozialen Brennpunkt“ bezeichnete Siedlung in Lübeck (Lenz 2013). Der Vater (Bâbâ) wird in Teheran ermordet, bevor er seiner Familie nachfolgen kann. Nasrins Kindheit und Jugend sind von Entbehrungen und Gewalterfahrungen geprägt. Die hart arbeitende und strenge Mutter schlägt ihre Töchter, später wird sie sich weigern zu akzeptieren, dass Nasrin lesbisch ist. Mit zwölf Jahren irrt Nasrin durch Lübeck und wird von einem Pädophilen vergewaltigt, der später trotz nationalsozialistischer Gesinnung Karriere machen wird und in der Geschichte noch mehrmals auftaucht. Nasrins Jugendclique, immer wieder Ziel rassistischer Anfeindungen, entgeht einmal nur knapp einem Angriff gewalttätiger Skinheads. Überhaupt ist die deutsche Rassismusgeschichte der 90er Jahre ein bedrohliches Hintergrundrauschen der Schilderungen aus dieser Zeit, die sich explizit auf reale rassistische Anschläge und das Desinteresse von Polizei und Politik beziehen (darunter die Angriffe auf Migrant*innen in Wohnheimen in Hoyerswerda im Jahr 1991 (MdT 175) und den Lübecker Brandanschlag von 1996, bei dem zehn Menschen ermordet wurden (MdT 252)). Beides setzt sich bis in die Gegenwart fort, was die beiden letzten Rückblenden (2001 und 2006), die auf die Morde des NSU Bezug nehmen (MdT 265, 327), die polizeilichen Ermittlungen im Fall von Nasrins Schwester und der empathielose Umgang der Polizist*innen mit ihr als Hinterbliebener (MdT 21) deutlich markieren.

Neben der vielschichtigen traumatischen Vergangenheit ziehen sich weitere Leitthemen und -motive durch den Roman, die allerdings eng mit ihr verwoben sind. Dazu gehört das Thema der fragmentierten Erinnerung, die die Ich-Erzählerin wiederholt mit dem Wort „Krater“ umschreibt (u. a. MdT 206, 253, 276). Hervorzuheben ist auch die klangliche Dimension. So tauchen auf allen Zeitebenen der Erzählungen immer wieder Ausschnitte aus Songtexten auf. Auf der Vergangenheitsebene korrespondieren die Releases der jeweiligen Songs, die Autor*in Yaghoobifarah auch auf einer Spotify-Playlist gesammelt hat, mit dem zeitlichen Rahmen des Geschehens. Zu der klanglichen Dimension zählt zudem ein Telefonklingeln, das Nasrin immer wieder als einzige zu hören scheint und das bei ihr traumatische Flashbacks auslöst (MdT 276, 380). In dem immer wieder auftauchenden Motiv der Telefonzelle bekommt das retraumatisierende Geräusch ein Bild. Alle erwähnten Aspekte manifestieren sich insbesondere in den Träumen der Protagonistin, die so zu einem Brennglas für all das werden, an dem Nasrin in Gegenwart und Vergangenheit zerbricht.


Die Träume

Insgesamt gibt es im Roman vier Traumepisoden, die unterschiedlich deutlich markiert sind, sich alle jedoch durch ihre Traumhaftigkeit auffällig vom Wacherleben abheben. Daneben gibt es seltene Momente, die unklar zwischen traumatischem Flashback, Traum und Wacherleben zu schweben scheinen (MdT 15, 24, 103, 380). Die Protagonistin spielt auf diese die Vergangenheit betreffende Unsicherheit auch selbst an: „Ängste, Träume, Wünsche, alles wirkt gleichermaßen unreal, ich weiß nicht mehr, was wirklich passiert und was nur ein Trip gewesen ist“ (MdT 250). Das Wortspiel „Traum(a)fabrik“, das zu Beginn des Romans eingeführt wird (MdT 29), weist auf die Verschränkung von Traum und Trauma hin, die für alle vier Traumepisoden konstitutiv ist. Dabei wird nicht nur der Umstand reflektiert, dass angstbesetzte Träume und Alpträume häufige Symptome eines Traumas sind (Barrett 1996, 3; Pietrowsky 2014, 99–102). In Nasrins Träumen wird vor allem deutlich, was traumatische Erfahrungen mit der Erinnerung machen. Die Lückenhaftigkeit der eigenen Erinnerung, die die Protagonistin immer wieder als „Krater“ oder „Löcher“ thematisiert, spiegelt sich dabei auch in der Leseerfahrung, denn die Rezipient*innen werden in den Träumen mit Bruchstücken von traumatischen Erfahrungen der Protagonistin konfrontiert, die sich erst durch spätere Textpassagen verstehen und zu einem Bild zusammensetzen lassen (zum Zusammenspiel von Traum und Trauma in der Literatur: Solte-Gresser 2021; Sliwinski 2017).

In fast allen Träumen finden sich Songtext-Fragmente, die nicht nur assoziativ mit den geträumten Inhalten zusammenhängen, sondern teilweise selbst Traumbezug aufweisen. In jedem Traum hört Nasrin ein Telefon klingeln, das ihr bedrohlich erscheint und dem sie in drei Traumepisoden erst langsam näher kommt – insbesondere die Telefonzelle wird dabei zu einem wichtigen Leitmotiv. Die Telefongespräche, die Nasrin in allen Träumen führt, bleiben rätselhaft: Sie ist sich nicht sicher, wer am anderen Ende der Leitung spricht oder was der*die Anrufer*in von ihr will. Hier zeichnen sich Kommunikationsprobleme ab, die auch auf der Wachebene zwischen den Figuren bestehen, sowie der Wunsch, mit Personen in Kontakt zu treten, die nicht länger erreichbar sind. Die Traumepisoden sind komplex und legen verschiedene Deutungen nahe, die im Folgenden nur skizziert werden können.

Prolog: Feuer

Die erste Traumepisode ist als unmarkierter Prolog (MdT 9–12) der Handlung vorangestellt. Die ersten Worte „War ja klar, dass es brennt“ kündigen die extreme Hitze an, die das Empfinden der Träumerin bestimmen wird. Das träumende Ich findet sich auf einer Straße wieder: „Der Boden ist eine riesige dunkle Fläche aus zu Asphalt zusammengeschmolzener Kohle, unregelmäßig verteilten Schlaglöchern und allen Sprüchen, die mich je verletzt haben“. Zunächst ohne ersichtliches Ziel, aber mit großer Hast – „Mein Puls schlägt schnell, doch meine Schritte sind schneller“ – rennt die Erzählerin die Straße entlang und stolpert über die Schlaglöcher. Ihr Ziel, so stellt sich heraus, ist eine Telefonzelle, vor der bereits eine „unendlich lange Schlange“ steht. Einem Mann, der sich hinter die Protagonistin stellt, fällt ein Buch aus der Hand – entsetzt bemerkt sie, dass die Seiten durchlöchert sind. Dann setzt unvermittelt

ein schrilles Klingeln ein. Schon wieder dieses Geräusch. Es klingelt nur für mich. Ich versuche, nach vorne zu gelangen, doch man lässt mich nicht. Immer wieder versuche ich, die Dringlichkeit zu erklären. Verstehen Sie es denn nicht?, will ich brüllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal. Ich renne an den Anfang der Schlange. Verzweiflung macht sich breit, ich darf den Anruf nicht verpassen. Es könnte der letzte sein (MdT 10).

Der Protagonistin gelingt es schließlich, in die Telefonzelle zu gelangen, in der sich die unerträgliche Hitze noch intensiviert. Durch die Glasscheibe glaubt sie, in zwei sich aus der Ferne nähernden Figuren ihre Mutter und Schwester zu erkennen. Als Nasrin den Hörer abnimmt, meldet sich ihr Bâbâ. Nasrin registriert, dass die beiden nun näher gekommenen Personen außerhalb der Zelle doch nicht ihre Verwandten sind, sondern „Gestalten […], am gesamten Körper mit Brandnarben übersät, die ihre Haut wie geschmolzenes Plastik wirken lassen. Ihre Augen sind leer, bluten“. Trotzdem hört Nasrin die Stimme ihrer Schwester aus dem Mund der kleineren Gestalt: „Ist Bâbâ am Telefon?“ Nasrin ergreift Panik, plötzlich mahnt nicht nur ihr Vater aus dem Hörer, sondern auch ihre Mutter und Schwester, die Tür nicht zu öffnen, während die verbrannten Gestalten gegen die Telefonzelle hämmern. Der Hörer wird so heiß, dass Nasrin ihn kurz fallen lässt. Als sie sich umblickt, erkennt sie draußen Flammen. Als sie verwirrt und verängstigt fragt, was gerade geschieht, ertönt erneut eine Stimme aus dem Hörer:

‚Nas, hör für einen Moment auf, so naiv zu sein. Was denkst du, was hier gerade passiert?‘ Verwirrt schaue ich mich um. Im glänzenden Metall der Telefonzelle suche ich nach meiner Spiegelung und finde nichts als Leere (MdT 12).

So endet der Alptraum, der dem ersten Teil des Romans vorangestellt ist. Dabei sind es keine Markierungen (wie Erwachen oder Einschlafen), sondern die vielen Merkmale von Traum und Traumhaftigkeit, die ihn als solchen ausweisen (Kreuzer 2014, 82–91). Dazu gehören die fehlende Kohärenz des Geschehens und mangelnde kausale Verknüpfungen: Beispielsweise ist die Erzählerin sicher, dass das Klingeln des Telefons nur für sie bestimmt sein kann. Sie besticht die Person an der Spitze der Schlange mit Geld, allerdings gibt es niemanden, den sie aus der Telefonzelle selbst verdrängen müsste – obwohl also eine „unendlich lange Schlange“ vor der Telefonzelle wartet, schickt sich niemand an, tatsächlich zu telefonieren oder den eingehenden Anruf anzunehmen. Die Identität der Figuren, die Nasrin zuerst als Mutter und Schwester „erkennt“ erweist sich als instabil, sie wandeln sich zu grotesken, verbrannten Gestalten, die die Erzählerin bedrohen, ohne dass der Grund dafür deutlich wird. Die Stimme der (toten) Schwester erklingt sowohl aus dem Hörer als auch aus dem Mund einer der Gestalten. Die Personen am anderen Ende der Leitung wissen ohne Erklärung der Erzählerin um die bedrohliche Lage, in der diese sich gerade befindet. Ihre letzte Aussage verweist sogar darauf, dass sie mehr wissen als die Träumerin selbst. Die extreme Hitze, die die Träumerin zunächst auf die Wetterlage schiebt, ist mit Naturgesetzen nicht zu vereinbaren – z.B. als Schweiß „auf den Boden tropft, wo er sofort verdampft“. Insgesamt ist der Traum von extremer Emotionalität und einem gesteigerten körperlichen Empfinden geprägt („Der Hörer vibriert vom Klingeln so stark, dass ich vor Schmerz aufschreie, als ich nach ihm greife“; „die Leitung surrt, die Hitze sticht, mir ist nach Kotzen zumute“), die ihn von der Wachebene deutlich abheben. Ein intermedialer Verweis, der den Traum anzeigt, ist die Zeile „Every now and then I fall apart“ aus Bonnie Tylers Total Eclipse of the Hear (1982). Zwei weitere Zeilen des Liedes, im Roman nicht zitiert, lauten: „Every now and then I get a little bit restless/ When I dream of something wild“. Im Video zum Song wird die Sängerin als Träumerin inszeniert.

Im Traum finden sich zahlreiche Motive, die im Verlauf der Erzählung und auch in den weiteren Träumen wieder aufgegriffen werden. Dazu zählt in erster Linie das Telefonklingeln. Der Gedanke der Erzählerin – „Schon wieder dieses Geräusch“ – ergibt erst durch die weitere Lektüre einen Sinn, denn hier werden traumatische Erinnerungen mit akustischen Signalen verbunden: die Sirenen in Teheran (MdT 36); die Telefonzelle, durch die die Familie mit dem Vater kommunizierte und in der schließlich die Mutter von dessen Ermordung erfuhr (MdT 49); die Türklingel, die die Polizisten mit der Nachricht vom Tod der Schwester ankündigt (MdT 16). Die traumatischen Erlebnisse, die mit diesen Geräuschen verbunden sind, verdichten sich in diesem und den anderen Träumen zu einem Symbol: Die Telefonzelle ist der Mittelpunkt des Traums, mit ihr sind extreme Emotionalität und körperliches Empfinden verknüpft. Sie ist ein realer Gegenstand (noch dazu ein naheliegender in der Erzählung von migrantischen Erfahrungen), der in den Träumen zum Symbol wird. Sie ist außerdem ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, die im Kopf der Erzählerin allerdings nicht abgeschlossen ist, sondern in Träumen, Erinnerungen und Flashbacks immer wieder auftaucht, um alte Wunden aufzureißen.

Ein weiteres Motiv sind die Löcher – Löcher auf der Straße, Löcher im fallengelassenen Buch, Leere in den Augen der verbrannten Gestalten und schließlich ein Loch da, wo eigentlich das eigene Spiegelbild sein sollte. Löcher oder Krater werden im Verlauf der Erzählung immer wieder im Zusammenhang mit Nasrins (traumatisch verzerrter und unvollständiger) Erinnerung evoziert (insbesondere das Buch scheint hier ein treffendes Bild zu sein). Auch für die Leser*innen ergibt sich mit diesem Traum ein unvollständiges Bild und eine Desorientierung, die zunächst noch anhalten wird, da der daran anschließende erste Teil des Romans achronologisch davon erzählt, wie Nasrin vom Tod ihrer Schwester erfährt. Es wird, anders als in den folgenden Träumen, nicht ersichtlich, wie dieser Traum zeitlich verortet ist oder in welches Ich sich die Träumerin zeitlich hineinträumt. Dass die Schwester gegenüber der Mutter als „kleinere der beiden Personen“ beschrieben wird, könnte dafür sprechen, dass diese als kindlich geträumt wird. Zugleich spricht sie aus dem Mund einer der verbrannten Gestalten, was an ihren Tod in einem brennenden Auto erinnert. Daher scheinen sich in diesem Traum verschiedene zeitliche Ebenen zu überlagern.

Das Motiv, das diesen Traum von den anderen unterscheidet, ist die extreme Hitze, bzw. das Feuer. Dies lässt sich nicht nur mit dem Tod der Schwester in Verbindung bringen, sondern auch mit dem geschichtlichen Kontext. In den zahlreichen rassistischen Anschlägen, die in den 90er Jahren in Deutschland verübt wurden, ist ein Muster zu erkennen: Molotov-Cocktails in den Händen der Angreifer*innen, brennende Flüchtlingsunterkünfte, eine desinteressierte Politik (Stichwort: „Beileidstourismus“) und eine Polizei, die darum bemüht war, die Brandanschläge als Einzelfälle abzutun. Im Traum spiegelt sich Angst und Panik, selbst das Opfer eines rassistischen Anschlags zu werden und die Hilflosigkeit, da keiner der Menschen in der Schlange Nasrins Verzweiflung wahrzunehmen scheint: „Verstehen Sie es denn nicht?, will ich brüllen. Vielleicht verstehen sie es ja doch, und es ist ihnen einfach egal“.

Wohnwagen

Der zweite Traum (MdT 101 f.) wird geschildert, nachdem Nasrin zu ihrer Nichte Parvin gezogen ist:

Ich renne am Kanal entlang und leuchte mit einer Taschenlampe ins Wasser. An der Oberfläche schwimmt Nushs Lieblingskleid, einige Meter weiter ein Schuh, der ihr gehören könnte, dazwischen ein Autoreifen. Aus der Ferne höre ich den Hall ihrer Stimme, die lachend nach mir ruft (MdT 101).

Nasrin rennt den im Wasser treibenden Tagesresten hinterher – das Lieblingskleid der Schwester, dessen Geruch sie einen Tag zuvor noch eingeatmet hat, der Reifen, der an ihren Tod erinnert. Als sie es aufgibt, der Stimme der Schwester nachzujagen, ertönt wieder das Klingeln und Nasrin sieht sich nach einer Telefonzelle um. Schließlich gelangt sie in ein Industriegebiet, in dem ein Wohnmobil steht.

Ich erstarre. Es ist nicht das erste Mal, dass ich diesen Wagen sehe. Ich will kehrtmachen, doch hinter mir ist dort, wo eben noch Boden war, ein riesiges Loch entstanden, so tief, dass ich nichts als endlose Dunkelheit darin erkennen kann. Wake me up inside. Wake me up inside. Call my name and save me from the dark. Das Klingeln wird lauter, ich erkenne das Dach der Telefonzelle hinter dem Wohnmobil. Bis vor wenigen Sekunden habe ich mich kaum bremsen können, und jetzt stehe ich auf dieser Wiese, angewurzelt und unbeweglich (MdT 102).

Mit diesem Gefühl der Gelähmtheit erwacht Nasrin im Bett ihrer Schwester aus ihrem Alptraum. Weshalb sie den Wohnwagen im Traum erkannt hat, wird den Leser*innen erst ein paar Seiten später, in einer Rückblende, klar werden (MdT 106–111). In dieser verirrt sich Nasrins zwölfjähriges Ich und wendet sich hilfesuchend an einen fremden Mann, Gerhard Walters, der ihre Situation ausnutzt und sie in seinem Wohnwagen vergewaltigt. Die Protagonistin wird in der Gewalt, die ihr an diesem Tag angetan wurde, einen wesentlichen Grund für die „Löcher“ und „Krater“ sehen, die in ihr Gedächtnis gerissen wurden: „sein Blick war aus Stahl. Er bohrte Löcher in mich hinein, schuf ein Gedächtnis aus Gips“ (MdT 111). Der Traum nimmt so in dem Bild des Wohnmobils vorweg, was auf erzählerischer Ebene erst später aufgedeckt wird. Auch hier wird das (verdrängte) Trauma durch einen Gegenstand repräsentiert, der gleichzeitig real und symbolisch ist. Im Traum entwickelt die Gewalttat eine Sogwirkung – Nasrin wird durch das strömende Wasser, die Stimme der unerreichbaren Schwester und das Klingeln aus der Telefonzelle in die Richtung des Wagens getrieben. Der Traum verbildlicht außerdem, wie die verschiedenen Ebenen einer traumatischen Vergangenheit sich überlagern (die Telefonzelle, die hinter dem Wohnmobil hervorragt).

Auch in diesem Traum tauchen zwei Songtext-Fragmente auf – besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Evanescences Bring Me to Life (2003), das den Wunsch zum Ausdruck bringt, aus dem Alptraum zu erwachen und vor dem Wiedererleben des traumatischen Tages gerettet zu werden. Auch dieses Lied weist einen expliziten Traumbezug auf, der im Musikvideo nochmals unterstrichen wird: Hier träumt Sängerin Amy Lee davon, von einem Hochhaus zu fallen. Nasrins Traum hingegen greift ein anderes typisches Alptraum-Motiv auf. Eingeklemmt zwischen schwarzem Loch und Wohnwagen kann sie sich nicht bewegen – es ist der einzige Traum, in dem es ihr nicht gelingt, einen für sie bestimmten Anruf anzunehmen. Gleichzeitig schwingt die Gefahr, in das bodenlose Loch hinter ihr zu stürzen, durch das Lied-Zitat mit.

Die Traumgrenzen werden bei dieser Passage verunsichert – Nasrins Erwachen kann als false awakening gedeutet werden. Mit den Alptraumbildern beschäftigt steht die Erzählerin nachts auf und geht ins Wohnzimmer, wo sie ihre Nichte auf dem Sofa sitzend vorfindet. Parvin antwortet nicht und der Protagonistin kommt die Szene irgendwie irreal vor: „Träume ich immer noch?“ Am nächsten Morgen sagt ihr Parvin, dass es keine nächtliche Begegnung gegeben habe.

Telefon

Etwa hundert Seiten später wird ein weiterer Traum (MdT 202 f.) erzählt. Im Kapitel zuvor hat Nasrin sich mit ihrer Nichte gestritten, die daraufhin aus der gemeinsamen Wohnung verschwunden ist. Die Erzählerin beunruhigt außerdem, dass Parvin im Streit den Namen Gerhard Walters genannt hat, obwohl sie eigentlich nichts von der sexuellen Gewalt wissen kann, die ihrer Tante als Kind angetan wurde. Der Traum, mit dem nun ein neuer Abschnitt beginnt, ist daher auch zunächst nicht als solcher zu erkennen, denn es scheint, als würde Parvin auf der Wachebene versuchen, ihre Tante in der Wohnung telefonisch zu erreichen: „Das Telefon klingelt. Ich reiße den Hörer an mich. Die Nummer ist unbekannt. ‚Parvin, bist du es?‘, frage ich trotzdem.“ Merkwürdig scheint, dass Parvin Nasrin zweimal befiehlt, sie nicht mehr bei ihrem Namen zu nennen. Eindeutig wird der Traum aber erst als solcher ausgewiesen, als Nasrin die Stimme von Gerhard Walters durch das Telefon vernimmt:

Gerhards Lachen ist so laut, dass es in den Ohren wehtut. ‚Ich muss sie nicht gehen lassen. Sie ist zu mir gekommen. Sie bleibt, so lange sie will.‘
Ich will fragen, wo die beiden sind, doch mit einem Knallen haben sie aufgelegt. Ich versuche zurückzurufen, doch das Gerät ist zu alt, um sich den Anrufer zu merken. Ich werfe trotzdem Geld rein. Das beschissene Teil schluckt meine letzte Münze.
‚Scheiße‘, brülle ich und werfe den Hörer auf die Gabel. In der engen Zelle bekomme ich kaum Luft. Ich versuche, die Tür aufzustoßen, doch sie ist versperrt. Irgendwer muss sie von der Gegenseite zudrücken. Als ich durch das Glas schiele, stelle ich fest, dass dort niemand ist (MdT 203).

Die unsichtbare Kraft am Ende des Traums knüpft an Nasrins fehlendes Spiegelbild aus dem ersten Traum an. Dieser dritte Traum spielt mit der Erwartungshaltung des*der Leser*in. Da die Erzählerin sich bei dem Streit, der dem Traum vorangegangen war, in der Wohnung befand und der Traum zunächst nicht als solcher zu erkennen ist und nahtlos an dieses Geschehen anzuknüpfen scheint, deutet zu Beginn nichts darauf, dass Nasrin als Träumerin in einer Telefonzelle steht. Tatsächlich spricht der Umstand, dass die Nummer als „unbekannt“ angezeigt wird, anfangs eher für ein Mobiltelefon oder ein neueres Festnetztelefon. Dieses Bild verschiebt sich das erste Mal, als Nasrin mit dem Kabel des Telefons hantiert – „Olles, altes Teil.“ Eine erste Irritation: Vielleicht ist das Festnetztelefon der Schwester also ein älteres Modell? Dieses Bild wiederum löst sich auf, als die Träumerin versucht, Münzen in das Gerät einzuwerfen, wodurch endgültig das Telefonzellen-Setting wiederkehrt. Dieses Anpassen des Traumbildes würde einem zeitlichen Verlauf entsprechen – von neuer zu alter Technik, von Gegenwart zu Vergangenheit. Dazu kommt noch, dass die Beschreibungen des Telefons, die zu den Veränderungen der Szene führen, jeweils von starken Emotionen des träumenden Ichs begleitet werden (Nervosität, Panik). Die schrittweise Veränderung der Traumszene würde so analog zu einem langsamen Herantasten an die traumatische Vergangenheit verlaufen.

Der Traum nimmt einerseits einen Gedanken auf, den Nasrin am Tag zuvor hatte – nämlich die Angst, Parvin könne Walters begegnet sein oder ihr könne etwas ähnliches passieren wie in ihrer eigenen Kindheit. Andererseits scheint es im Traum auch Verschiebungen zu geben. Dazu gehört beispielsweise Parvins irritierender Befehl, sie nicht mehr bei ihrem eigenen Namen zu nennen, der vielleicht auf Nasrins Wunsch verweist, einen anderen Namen, den von Gerhard Walters, nie wieder hören zu müssen, schon gar nicht aus dem Mund ihrer Nichte. Gerhards Aussage, dass er Parvin nicht gehen lassen müsse, da sie sozusagen freiwillig zu ihm gekommen ist, verweist auf Nasrins eigene Erfahrung, die hier von dem Täter im Sinne eines victim blaming umgedeutet wird.

Traum(a)fabrik

Der letzte Traum wird wenig später beschrieben (MdT 225–229). Nasrin hat eine Mailbox-Nachricht ihrer verstorbenen Schwester abgehört. Beim Versuch, darin Hinweise zu finden, schläft sie ein. Im Traum geht sie durch ein altes, verlassenes Industriegebäude – sie durchschreitet zunächst einen engen Gang und dann mehrere Räume, einen Maschinenraum, eine Halle:

In einer Ecke liegt ein Schrottberg […]. Hier und da liegen ein paar Glasscherben auf dem Boden, teilweise sind sie viel größer als ich. Bei genauerer Betrachtung fallen mir auch zerrupfte Spielzeuge, Autoteile und zerbrochene Handyhüllen für alte Modelle, wie das Nokia 3210, mein erstes Mobilgerät, im Schrottberg auf (MdT 226).

Die Träumerin, die sich immer wieder fragt, ob sie wirklich allein im Gebäude ist, bewaffnet sich mit einer Metallstange, die zwischen dem Schrott liegt, bevor sie einen weiteren, von bunt blinkenden Neonlichtern erleuchteten Raum betritt. In der Mitte steht eine pinke Telefonzelle. Der Raum erinnert Nasrin an eine moderne Kunstgalerie und prompt fällt ihr Blick auf ein übergroßes Portrait des Popkünstlers Andy Warhol (1928-1987), darunter ein Verweis auf das Attentat, das 1968 vor seiner „Factory“ auf den diesen verübt wurde („Doch was wäre ein Genie, wenn er nicht einen Anschlag in seiner eigenen Traumfabrik überlebt?“). Das Telefon in der pinken Zelle klingelt. Aus dem Hörer ertönt die Stimme einer Person, die Nasrin nicht identifizieren kann. Die Stimme spricht von mehreren Personen, einem „wir“: „Bist du beleidigt, weil wir uns so lange versteckt haben? […] Aber immerhin bist du jetzt hier. Nun kann uns niemand mehr trennen.“ Als Nasrin fragt, wo denn „hier“ sei – erklingt aus dem Hörer das Lachen mehrerer Personen: „Du Dummerchen […]. Du bist am Ziel. Willkommen in der Traumafabrik.“

Dem Traum geht eine Rückblende voraus: Nasrin und ihre Jugendclique werden 1995 bei einem Jahrmarktbesuch von Skinheads angegriffen und entgehen nur knapp körperlicher Gewalt. Dabei hatte sich einer der Skinheads mit einer Metallstange bewaffnet, die der Traum wiederaufgreift. Im nächsten Kapitel ist Nasrin in der Gegenwart nach Lübeck gereist, um dort dem Tod ihrer Schwester nachzugehen, womit sie gewissermaßen den Stimmen aus dem Traum folgt, die mit ihrer Clique, die sie seit Jahren nicht gesehen hat, verbunden werden können.

Aufschluss über das im Traum erkundete Industriegebäude kann eine Lesung von Yaghoobifarah mit Margarete Stokowski geben: Hier beschreibt Yaghoobifarah, dass der Titel des Romans – Ministerium der Träume – als eine Metapher für den Kopf zu verstehen sei, als Ort der Wünsche, Ängste, Erinnerungen und Träume. Diese Metapher scheint in dem geträumten Ort aufgegriffen zu werden – so werden beispielsweise Erinnerungen durch den „Schrottberg“ vergegenständlicht, der gleichzeitig auf die Fragmentierung derselben verweist (alle Gegenstände, die hier liegen, sind nicht mehr intakt: „zerrupfte Spielzeuge, Autoteile und zerbrochene Handyhüllen“). Die Glasscherben – viel größer als die Träumerin – verweisen auf zwei der anderen Träume, in denen das Glas einer Telefonzelle zu zerbrechen drohte; gleichzeitig scheinen sie, wie die Krater, eine Metapher für die schwer zu bewältigende Vergangenheit zu sein (der Traum scheint hier auch eine Aussage von Nasrins Psychologin aufzunehmen: „Ihr lückenhaftes Gedächtnis oder Ihre Krater, wie Sie sagen, die sind nicht größer als Sie“; MdT 206). Die Träumerin fühlt sich, anders als in den anderen Träumen, allerdings nicht machtlos, ergreift mit der Metallstange sogar eine Waffe, die in der Vergangenheit gegen sie und ihre Freund*innen gerichtet wurde. Die verschiedenen Räume, die Nasrin betritt, ließen sich ebenfalls in die Kopf-Metapher einfügen: der Maschinenraum, in denen Geräte auf Hochtouren laufen; die verlassene und eingestaubte Fabrikhalle. Farbe spielt in dem Bereich, den Nasrin danach betritt, eine herausragende Rolle: Selbst die Telefonzelle erscheint hier neu, in pinker Farbe und gleichzeitig weniger bedrohlich (Nasrin erscheint sie vor allem lästig – „O nee, denke ich, nicht schon wieder“), was darauf deuten mag, dass Nasrin schrittweise zu einem neuen Umgang mit ihren traumatischen Erfahrungen findet (gleichzeitig könnte die Veränderung der Farbe auch auf die reale Entwicklung der Telefonzellen verweisen, die in Deutschland zumindest zeitweise ein pinkfarbenes Dach hatten).

Das ‚wir‘ am anderen Ende der Leitung lässt sich auf Nasrins Freund*innen von früher beziehen, die, wie sich später auf der Wachebene herausstellen wird, tatsächlich mehr darüber wissen, wer für den Tod der Schwester verantwortlich sein könnte, als die Protagonistin ahnt. Wie im ersten Traum wird Nasrin von den Anrufer*innen für ihr Nichtwissen gescholten und es zeichnet sich ein Traumwissen ab, mit dem sich andeutet, was auf der Wachebene noch nicht erfasst werden kann.

Der Verweis auf Andy Warhol und das Ende des Traums greifen das Wortspiel Traum(a)fabrik wieder auf, das tatsächlich auf eine Häuserwand gemalt ist, die von Nushins Wohnung aus sichtbar ist. Worauf sich dieses Wortspiel bezieht – z.B. auf den deutschen Rassismus, der das Land zu einer Traumafabrik für Migrant*innen macht oder auf Nasrins Kopf, in dem die traumatische Vergangenheit immer wieder reproduziert wird – bleibt vieldeutig.

Literatur

Primärliteratur

  • Yaghoobifarah, Hengameh: Ministerium der Träume. Berlin: Aufbau [Blumenbar ] 2021; zitiert als MdT.

Forschungsliteratur

  • Barrett, Deidre (Hg.): Trauma and Dreams. Cambridge (Mass.): Harvard UP 1996.
  • Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
  • Pietrowsky, Reinhard: Was uns den Schlaf raubt. Albträume in Psychologie, Kunst und Kultur. Darmstadt: wbg 2014.
  • Sliwinski, Sharon: Dreaming in Dark Times. Six Exercices in Political Thought. Minneapolis: Minnesota UP 2017.
  • Solte-Gresser, Christiane: Shoah-Träume. Vergleichende Studien zum Traum als Erzählverfahren. Paderborn: Fink 2021.

Rezensionen

  • Liebert, Juliane: Hengameh Yaghoobifarahs Debüt Ministerium der Träume. Pöbeln auf Leben und Tod. In: Süddeutsche Zeitung, 11 Februar 2021; online.
  • Mawad, Tarek Mohamed: Hengameh Yaghoobifarahs Debüt-Roman. Extrem laut und unglaublich nah. In: monopol, 1. März 2021; online.
  • Wurmitzer, Michael: Hengameh Yaghoobifarah: Queer, persisch und Ziel von rechtem Hass. In: Der Standard, 11. März 2021; online.


Weblinks


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Pape, Jasna: "Ministerium der Träume" (Hengameh Yaghoobifarah). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Ministerium_der_Träume%22_(Hengameh_Yaghoobifarah).