Der Roman Kassandra erschien erstmals im Frühjahr 1983 in der damaligen Bundesrepublik Deutschland im Luchterhand Verlag. Mit diesem Meisterwerk erlangte die in Deutschland bereits bekannte Prosa-Autorin Christa Wolf (1929-2011) Weltruhm. Er handelt von der Ich-Erzählerin und Protagonistin Kassandra, die vor dem Hintergrund des trojanischen Krieges um ihre Befreiung von einem selbstzerstörerischen patriarchalischen System der Indoktrination und Bevormundung kämpft. Die in die Erzählung eingebauten Träume nehmen einen großen Raum ein und fungieren als bevorzugter Vektor für die Darstellung der Subjektwerdung der Protagonistin.

Entstehung

Christa Wolfs Kassandra entsteht in einem Kontext großer sozialer Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland der späteren 70 er und Anfang der 80er Jahren. Zu den großen Bündnissen der Epoche zählten die Pazifisten, die Feministen und die Alternativbewegungen, deren Anforderungen sich überlagerten und von einem kollektiven Bewusstseinwandel zeugten. Christa Wolf war etwas über 20 Jahre alt, als im Herbst 1949 die Deutsche Demokratische Republik gegründet wurde, und bis in die frühen 1960er Jahre teilte sie mit ihren Zeitgenossen die Hoffnung auf einen gerechteren und friedlicheren Staat, der die sozialen und ideologischen Grundlagen des Nationalsozialismus auslöschen würde. Als Kassandra erscheint, befindet sich Christa Wolf bereits auf Kriegsfuß mit dem DDR-Regime. Sie wurde von den Behörden ihres Landes heftig kritisiert, als sie nacheinander ihre Romane Der geteilte Himmel (1963) und vor allem Nachdenken über Christa T (1968) veröffentlichte. In diesen Büchern waren Gedanken und Ideen aufgekeimt, die dem utopischen sozialrevolutionären, messianischen und eschatologischen Potenzial im Sinne von Blochs Prinzip Hoffnung entsprachen und als Widerstandspotenzial gegen die Deformationen des DDR-Sozialismus wirkten (Vgl. Hilzinger 2007,37-38). Man bezichtigt sie der Rehabilitierung bürgerlicher Werte wie Subjektivität bzw. Innerlichkeit. Hart getroffen von der Wolf-Biermann-Affäre (1976) und dem Ausschluss mehrerer Mitglieder aus dem Schriftstellerverband, bricht die letzte Vertrauensbasis ihrer Beziehungen zur DDR-Regierung zusammen. Trotzdem weigert sich die Autorin als Dissidentin bezeichnet zu werden und entscheidet sich bewusst dafür, die DDR nie zu verlassen. Die 1980er Jahren waren ebenfalls von globalen Spannungen geprägt: Europa befürchtete einen zerstörerischen Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion auf eigenem Boden. Der Aufruf des Kommandos der damals noch bestehenden Militärblöcke der NATO und des Warschauer Pakts zu neuen Rüstungsanstrengungen, um der angeblichen waffentechnischen Überlegenheit des Gegners etwas Gleichwertiges entgegensetzen zu können, weckte bei den Bürgern das Gefühl eines kollektiven Selbstmords angesichts der allgemeinen Bedrohung durch das atomare Wettrüsten und der eigenen Ohnmacht. Im Westen wie im Osten bildeten sich Friedens- und Frauenbewegungen, die gegen diese neue Behauptung protestierten (Vgl. Schmiedel 2003, 65). Zu dieser Zeit waren viele Frauen für den Frieden und definierten die Bedeutung von Frieden neu. Die Figur der Kassandra fungierte vor dem Hintergrund dieser politischen Konstellation und der Sehnsucht vieler Menschen nach Frieden als Friedensikone und Identifikationsfigur für eine ganze Generation von Frauen, die nach Emanzipation gegen eine von Männern dominierte Welt der Politik und des Krieges, der Intrigen und Machtkämpfe strebten.

Zur Anlage des Romans

Die Vorgeschichte von Kassandra bezieht sich auf den Trojanischen Krieg.[1] Dennoch verdienen die wichtigsten Abweichungen von der stofflichen Vorlage Aufmerksamkeit. Zunächst ist die Liebesbeziehung zwischen Aineias und Kassandra ein Novum. In der Mythologie gibt es weder eine Begegnung noch eine Beziehung zwischen den beiden Figuren. Als nächstes ist Christa Wolfs feministische Annäherung am Krieg besonders bedeutsam. Sie zeigt sich darin, dass sie sowohl den Griechen als auch den Trojanern jegliches Heldentum abspricht. Achilles, Homers Held, wird bei ihr zu einem sadistischen Metzger, der noch die Toten tötet. Agamemnon, der große und berühmte Anführer der griechischen Flotte, wird in ein Kind ohne Selbstbewusstsein verwandelt. Die radikalste Veränderung betrifft die Figur der Helena, für die nicht mehr der Krieg geführt wird, sondern Privilegien und Besitz in den Vordergrund gerückt werden. Kassandra wird über das traditionelle Recht auf Zugang zum Hellespont belehrt. Ihr Vater erklärt ihr, dass die Griechen ihr Gold und den freien Zugang zu den Dardanellen wollen (vgl. Wolf 2008, 93). In diesem Zusammenhang hat Helena die Funktion einer Propagandalüge, da sie sich eben nicht in Troja aufhält.

Christa Wolfs Kassandra handelt von der Hauptfigur Kassandra älteste und beliebteste Tochter des Königs Priamos von Troja, sich nicht den festgeschriebenen Geschlechterrollen nicht identifizieren will. Im Gegensatz zu ihrer Mutter Hekabe und ihren Schwestern will sie nicht das Haus hüten und heiraten. Da sie einen Beruf erlernen möchte, lässt sie sich zur »Seherin« ausbilden bzw. einweihen, einen sogenannten Männerberuf (Vgl. Wolf 2008, 93), der für eine Frau ihres Standes angemessen ist. Dieser Beruf, der ein Privileg ist, wird ihr schließlich zugesprochen und sie muss ihn gemäß den Gepflogenheiten ausüben. Sie begegnet Aineias zum ersten Mal, als sie sich der entwürdigenden Prozedur der Entjungferung bei der Einführung ins Priesterinnenamt unterzogen sah. Apollon, der Gott der Seher, verleiht ihr die Sehergabe, indem er ihr in Gestalt eines Wolfes in den Mund spuckt. Da sie den Avancen Apollons nicht nachgibt, bestraft er sie dennoch mit einem Fluch: Zwar sieht sie alles, aber niemand wird ihr glauben. Obwohl sie ihrem Volk, dem sie eng verbunden ist, auf ihre Weise am besten dient, wird die Seherin von ihrem eigenen Volk abgelehnt. Kassandra durchläuft daraufhin einen schmerzhaften Ablösungsprozess, in dessen Verlauf sie zunächst für verrückt erklärt wird, weil sie die Wahrheit über den Untergang Trojas erzählt hat, bevor sie von ihrem geliebten Vater Priamos in den Turm geworfen wird. Die Gesichter, die sich auf sie stürzen, haben nichts mehr mit rituellen Orakeln zu tun. Sie sieht die Zukunft, weil sie den Mut hat, die tatsächlichen Bedingungen der Gegenwart zu sehen. Unter den Gruppen in und um den Palast, die sozial und ethnisch heterogen sind, schließt sich Kassandra der Gegenwelt der Skamander an. Die Welt der Skamander befindet sich in den Höhlen eines Flusses namens Skamander und erscheint zurecht als eine Heterotopie einer besseren Gesellschaft, eine alternative Welt, in der Frauen ihren Platz haben. Indem sie sich mit dieser Minderheit identifiziert, grenzt sie sich bewusst aus, wirft alle ihre Privilegien ab und setzt sich Verdächtigungen, Spott und Verfolgungen aus, die letztlich der Preis für ihre Unabhängigkeit sind. Cassandra weigert sich, in Selbstmitleid zu schwelgen. Sie beschließt, ihr Leben zu leben, selbst in Zeiten des Krieges, und versucht dann, den auf ihr lastenden Fluch aufzuheben, wird aber schließlich zum Objekt degradiert.

In der Rückschau der Hauptfigur Kassandra, die kurz vor dem Tod steht, wird die Geschichte des Untergangs Trojas vermittelt. Über die Darstellung kriegerischer Ereignisse hinaus, werden Kassandras Einblicke in die jüngste Vergangenheit, d.h. die Überfahrt mit dem Schiff von Troja nach Mykene, und in ihre früheste Kindheit in Form eines inneren Monologs vermittelt. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit stellt Kassandra kommentierend und reflektierend, in Gedanken, Gefühlen und komischen assoziativen Erinnerungsstrom und ohne eine chronologische Ordnung einzuhalten, ihre Lebensgeschichte dar.

Träume in Kassandra

In der mosaikhaften[2] und unchronologischen Erzählung Kassandra haben Träume samt mythologischen Prophezeiungen der Seherin eine große Bedeutung. Es handelt sich um eindeutig markierte Schlafträume, die nachts von Göttern gespendet werden. Sie erscheinen in unterschiedlichen Formen und ihre Funktionen sind mehrdeutig. In der Erzählung spielt Kassandra eine doppelte Rolle: Sie ist nicht nur Seherin, sondern auch Traumdeuterin (Vgl. Wolf, 2008,124). Sie deutet die Träume der anderen Figuren und lässt diese auch ihre persönlichen Träume deuten. In diesem Zusammenhang wird das Nicht-Träumen eben als eine dramatische Situation erlebt, zumal es den Rückzug der Götter bedeutet, die die Quelle der Träume sind (Vgl. Wolf 2008, 147). Insofern hält Christa Wolf in gewisser Weise an dem geschlossenen Drama fest, bietet aber eine fragmentarische Erzählstruktur an. Die kontroversen Traumdeutungen sind eng mit den sich überschneidenden Wissensdiskursen verknüpft, die in den 1980er Jahren üblich waren.

In der Erzählung können drei Hauptkategorien von Träumen unterschieden werden: Geburts- oder Angstträume, Liebesträume und komplexe, symbolbeladene Träume. Die Träume der Charaktere sind systematisch wie folgt:

Traum I: Kassandras (Alp)Traum von der Sehergabe (K 22)

Am Vorabend der Übergabe der Priesterbinde träumt Kassandra von Apollon, dem Gott der Seher, der in einer verschobenen Form dem Priester Panthoos ähnelt, zu dem sie ein konfliktreiches Verhältnis hat:

Der Traum die Nacht zuvor kam ungerufen, und er hat mich sehr verstört. Daß es Apollon war, der zu mir kam, das sah ich gleich, trotz der entfernten Ähnlichkeit mit Panthoos, von der ich kaum hätte sagen können, worin sie bestand. Am ehesten im Ausdruck seiner Augen, die ich damals noch »grausam«, später, bei Panthoos Apoll! - nur »nüchtern« nannte. Apollon im Strahlen- nie wieder sah ich glanz, wie Panthoos ihn mich sehen lehrte. Der Sonnengott mit der Leier, blau, wenn auch grausam, die Augen, bronzefarben die Haut. Apollon, der Gott der Seher. Der wußte, was ich heiß begehrte: die Sehergabe, die er mir durch eine eigentlich beiläufige, ich wagte nicht zu fühlen: enttäuschende Geste verlieh, nur um sich mir dann als Mann zu nähern, wobei er sich - ich glaubte, allein durch meinen grauenvollen Schrecken - in einen Wolf verwandelte, der von Mäusen umgeben war und der mir wütend in den Mund spuckte, als er mich nicht überwältigen konnte. So daß ich beim entsetzten Erwachen einen unsagbar widerwärtigen Geschmack auf der Zunge spürte und mitten in der Nacht aus dem Tempel- bezirk, in dem zu schlafen ich zu jener Zeit verpflichtet war, in die Zitadelle, in den Palast, ins Zimmer, ins Bett der Mutter floh. (K22-23)

Man erfährt, dass Kassandra nach ihrem entsetzten Erwachen einen ekelerregenden Geschmack auf der Zunge hat und dass sie mitten in der Nacht aus dem Tempelbezirk, der Zitadelle, dem Palast und ihrem Zimmer geflohen ist, um schließlich im Bett ihrer Mutter Zuflucht zu finden (K 23). Die Angst vor der Vereinigung mit dem Sonnengott Apollon erweist sich als Auslöser des Alptraums. Merkwürdigerweise versucht die Mutter Hekabe nicht, den Traum ihrer Tochter zu deuten, obwohl sie sich über die wolfsähnliche Gestalt Apollons Sorgen macht. Denn für sie gibt es nichts Ehrenhafteres als den Willen eines Gottes, sich mit einer »Sterblichen« zu vereinen (ebd.). Angesichts der Zweifeln und Gleichgültigkeit von Panthoos der Grieche an der Berufung von Kassandra zum Priestertum, lässt Kassandra ihren Traum schließlich von Marpessa deuten. »Wenn Apollon dir in den Mund spuckt (…) bedeutet das: Du hast die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Doch niemand wird dir glauben« (K 33).

Traum II: Kassandras (Alp)Traum von dem geliebten Aneias (K 26)

Nachdem sie Aneias am Tag ihrer Entjungferung kennengelernt hat, verliebt sich Kassandra in ihn. Im Vergleich zu den anderen Männerfiguren, die als wild und ungeduldig beschrieben werden, erweist sich Aneias als sanfter junger Mann, der ihr gegenüber respektvoll und wohlwollend verhält. Aus Liebe zu Kassandra weigert er sich, seine Pflicht zu erfüllen, d.h. Kassandra zu deflorieren und beschützt sie – Panthoos der Grieche ist es, der sie tatsächlich entjungfert hat –. In dieser Nacht findet sie ihr Glück bei ihrem Geliebten, hat aber mitten in der Nacht einen Alptraum. Sie träumt von einem Schiff, das Aneias weit weg von der trojanischen Küste bringt, auf blauem, glattem Wasser und von einem riesigen Feuer, das, während das Schiff sich zum Horizont hin entfernt, zwischen denen steht, die wegfahren, und denen, die zu Hause geblieben sind, zu denen Kassandra gehört, wie folgt:


Gegen Abend schlief ich ein, ich weiß noch, ich träumte von einem Schiff, das den Aineias über glattes blaues Wasser von unserer Küste wegführte, und von einem ungeheuren Feuer, das sich, als das Schiff sich gegen den Horizont hin entfernte, zwischen die Wegfahrenden und uns, die Daheimgebliebenen, legte. Das Meer brannte. Dies Traumbild seh ich heute noch, so viele andre, schlimmere Wirklichkeitsbilder sich auch darübergelegt haben. Gern wüßte ich (was denk ich da! gern? wüßte? ich? Doch. Die Worte stimmen), gern wüßte ich, welche Art Unruhe, unbemerkt von mir, mitten im Frieden, mitten im Glück: so redeten wir doch! solche Träume schon heraufrief. Schreiend erwachte ich […]. (K26)

Nach dem Alptraum wacht sie schreiend auf und wird von Aneias getröstet, der sie zu ihrer Mutter trägt. Das brennende Meer bleibt ein prägendes Traumbild, das Kassandra nicht loslässt. Ihre Fragen und Träume lösen sich auf, nachdem ihre Mutter ihr ein Getränk verabreicht hat. In diesem Zusammenhang lässt sich der Alptraum von Kassandra einigermaßen als eine spannungssteigernde Prolepse im Hinblick auf die späteren Kriegserlebnisse in Troja lesen. Sich an ihre Jugendzeit erinnernd wird der Ursprung ihrer Angstträume ans Licht gebracht (K 50). In diesen Träumen empfindet sie Lust für Aneias, der sie aber bedroht. Doch diese Träume, die bei ihr Schuldgefühl, Verzweiflung und Selbstentfremdung hervorrufen, erinnern an dem ersten Anfall Kassandras, als sie die Wahrheit über das zweite Schiff von Aineas erfährt. Das zweite Schiff wurde ausgesandt, angeführt von Aineas Vater Anchises und dem Seher Kalchas. Die Mission bestand darin, Hesione, die Schwester von Priamos, zurückzubringen, die angeblich von Telamon, dem König von Sparta, entführt wurde. Die Mission scheitert jedoch auf zweierlei Weise. Das zweite Schiff kehrt nicht nur ohne Hesione zurück, die mittlerweile Telamons Frau und Königin von Sparta geworden ist, sondern auch ohne den Seher Kalchas. Dieser bleibt freiwillig in Griechenland, doch aus Staatsräson wird die Propagandalüge verbreitet, Kalchas werde von den Griechen als Geisel festgehalten (K 44-47). Kassandra muss feststellen, dass sich ein Kreis des Schweigens (K 46) um sie schließt, dass man ihr die Wahrheit vorenthält. Von Aineas erfährt sie die Wahrheit und zum ersten Mal entladen sich ihr Schmerz, ihre Wut, ihre Angst und ihre Verzweiflung in einem Anfall.

Traum III: Kassandras (Alp)Traum von dem Kind der Asterope und des Aisakos (K 59)

Kassandra träumt von dem Kind der Asterope und des Aisakos, das mit ihrer Mutter zusammen bei der Geburt gestorben ist:


[…] immer der schwere Schlaf und die Träume. Jenes Kind der Asterope und des Aisakos, das mit seiner Mutter zusammen bei der Geburt gestorben war, wuchs in mir. Als es reif war, wollte ich es nicht zur Welt bringen, da spie ich es aus, und es war eine Kröte. Vor der ekelte ich mich. Merops, der uralte Traumdeuter, hörte mich aufmerksam an. (K59)

Kassandra lässt ihren Traum von Merops, dem uralten Traumdeuter, deuten. Dieser Letzere erklärt ihr den Traum nicht, sondern warnt er Kassandras Mutter Hekabe vor den Männern, die Aisakos ähnlich sähen und empfehlt ihr, diese aus der Nähe der Tochter zu entfernen. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass diesem Albtraum ein erschütterndes Ereignis vorausgeht, der Kassandra zum ersten Mal in einen anfallähnlichen Zustand versetzt: Der Tod ihres meistgeliebten Bruders Aisakos in der Vorkriegszeit. Er wird als einen kräftigen, warmhäutigen Mann mit dem braunen Kraushaar beschrieben, der anders als alle ihre Bruder zu ihr war (Vgl. K 58). Aisakos versucht mehrfach, sich das Leben zu nehmen, nachdem ihre junge und schöne Frau Asterope im Kinderbett stirbt. Er wird von seinen Bewachern gerettet, bis er nicht mehr gefunden wird und später verzweifelt ins Meer eintaucht. Der schwarze Vogel mit roten Hals, der nach dem Eintauchen Aisakos auftaucht, wird allerdings von dem Orakeldeuter Kalchas als eine verwandelte Gestalt Aisakos ausgelegt. Als dieser Alptraum eintritt, trauert Kassandra um den Tod ihres Bruders Aisakos. Darüber hinweg erscheint die Interpretation des toten Kindes als Kassandras mangelnder Wille, Mutter zu werden, plausibel.  

Traum IV: Hekabes (Alp)Traum von dem verfluchten Kind Paris (K 66)

Die Spekulationen um die Geburt von Paris, der Verursacher des Untergangs Trojas, stehen im Mittelpunkt der Erzählung. Der Geburt des Knaben geht eine Prophezeiung Aisakos voraus. Er verkündet damit, dass ein Fluch auf dem Kind liegt. Aber ausschlaggebend ist der Traum der Hekabe:


Die nämlich hatte, wenn ich Arisbe glauben konnte, kurz vor der Geburt des Paris geträumt, sie gebäre ein Holzscheit, aus dem unzählige brennende Schlangen hervorkrochen. (K 66)


Gedeutet wird der Traum von dem Seher Kalchas. Ihm zufolge, werde das Kind, das Hekabe gebären sollte, ganz Troja in Brand stecken. Doch diese Traumdeutung wird kontrovers von den anderen Figuren ausdiskutiert (K 66). Kassandra zweifelt an Kalchas Deutung und glaubt, dass die Alpträume ihrer Mutter bloß Angstträume sind (K 67). Arisbe nach, könnte das Kind dazu bestimmt sein, die Schlangengöttin als Hüterin des Feuers in jedem Hause wieder in ihre Rechte einzusetzen. Letztere Deutung erschreckt Kassandra. Grundsätzlich befürworten die einen die Tötung des gefährlichen Knaben und die anderen, auch Hekabe dabei, wollen das Kind retten. Letztendlich entkommt der Knabe dem Tod durch die Hilfe des Hirten, der es nicht über sich gebracht hat, ihn zu töten. Dass König Priamos die Zunge eines Hundes, die ihm der Hirte als Beweisstück bringt, nicht von der eines Säuglings unterscheiden konnte, bringt Kassandra durcheinander. Sie vermutet, dass ihr Vater König Priamos ihren wunderbaren Sohn nicht sterben lassen wollte (K 68).

Traum V: (Alp)Traum des Königs Priamos (K 87-88)

Kurz vor dem trojanischen Krieg und nach einer langen Zeit, dass Kassandra keine Träume mehr hat (K 72), erzählt König Priamos von seinem Traum:


Ungebeten deutete ich dem König einen Traum, den er bei der Tafel erzählt hatte: Zwei Drachen, die miteinander kämpften; der eine trug einen goldgehämmerten Brustpanzer, der andre führte eine scharf geschliffene Lanze. Der eine also unverletzlich und unbewaffnet, der andre bewaffnet und ha?erfüllt, jedoch verletzlich. Sie kampften ewig. (K 87-88)


Kassandra deutet den Traum als einen Widerstreit, in dem ihr Vater mit ihm selbst liege. Dennoch glaubt ihr König Priamos nicht (K 88). Zutreffend ist ihm nach, die Deutung von Panthoos: » Der goldgepanzerte Drache bin natürlich ich, der König. Bewaffne muß ich mich, um meinen tückischen und schwerbewaffneten Feind zu überwältigen. Den Waffenschieden hab [sic] ich schon befohlen, ihre Produktion zu steigern« (K 88). Kassandra zweifelt an der Empfehlung von Panthoos, ein Mann, den sie hasst. Zum Beginn des Krieges ist Kassandra skeptisch, dass man wisse, wann der Krieg genau begonnen hat bzw. wann der Vorkrieg begonnen hat (ebd.).

Traum VI: Kassandras Liebestraum (K 102)

Im Herbst, nachdem der Krieg begonnen hat und nachdem Paris tatsächlich nach Troja zurückgekehrt ist, um Helena zu entführen, und sie dort nicht gefunden hat, und während Kassandra von Oinone auf die Weiden gebracht wird, träumt Kassandra von Aneais. Sie wird dadurch desorientiert, dass niemand sie auf ihren Geliebten anspricht (K 101). Vor Wut schreiend legt sie sich auf die Weiden, was ihr dennoch nicht hilft. Ihre Sehnsucht nach Liebe ist so stark, dass sie bei der Initiation eines jungen Priesters weiterhin von Aneias träumt:


Unerträglich sehnte ich mich nach Liebe, eine Sehnsucht, die nur einer stillen konnte, darüber ließen meine Träume keinen Zweifel. Einmal nahm ich einen blutjungen Priester, den ich anlernte und der mich verehrte, zu mir auf mein Lager, wie man es fast von mir erwartete. Ich löschte seine Glut, blieb selber kalt und träumte von Aineias. Ich begann auf meinen Körper achtzugeben, der, wer hätte das gedacht, sich von Träumen leiten ließ. (K102)


Traum VII: Kassandras (Alp)Traum vom Himmelsgestirnenwettkampf (K 114- 115)

Nach einer langen öden Zeit ohne Träume hat Kassandra endlich wieder einen Traum:


Ich ging, allein, durch eine Stadt, die ich nicht kannte, Troia war es nicht, doch Troia war die einzige Stadt, die ich vorher je gesehn. Meine Traumstadt war größer, weitläufiger. Ich wußte, es war Nacht, doch Mond und Sonne standen gleichzeitig am Himmel und stritten um die Vorherrschaft. Ich war, von wem, das wurde nicht gesagt, zur Schiedsrichterin bestellt: Welches von den beiden Himmelsgestirnen heller strahlen könne. Etwas an diesem Wettkampf war verkehrt, doch was, das fand ich nicht heraus, wie ich mich auch anstrengen mochte. Bis ich mutlos und beklommen sagte, es wisse und sehe doch ein jeder, die Sonne sei es, die am hellsten strahle. Phobus Apollon! rief triumphierend eine Stimme, und zugleich fuhr zu meinem Schrecken Selene, die liebe Mondfrau, klagend zum Horizont hinab. Dies war ein Urteil über mich, doch wie konnte ich schuldig sein, da ich nur ausgesprochen hatte, was der Fall war. Mit dieser Frage bin ich aufgewacht. (K114-115)


Bemerkenswert ist die große Bedeutung, die diesem Traum beigemessen wird, obwohl er nicht gedeutet wird. Eingeleitet wird der Traum folgenders: »Er gehörte zu jenen Träumen, die ich gleich für bedeutsam hielt, nicht ohne weiteres verstand, doch nicht vergaß«. (K 114). Dieser Traum ist so schwer zu deuten, dass Marpessa Arisbe den Traum von Kassandra erzählt, obwohl Arisbe nicht für die Deutung Kassandras Träume zuständig ist.  Marpessa kommt zum Schluss, dass das Wichtigste an ihrem Traum, ihr Bemühn ist, auf eine ganz verkehrte Frage doch eine Antwort zu versuchen. (K 115). Kassandra ist sich davon bewusst, dass die Antwort in diesen Fragen liegt und findet den Ursprung ihres Traums in den ersten Monaten des Krieges. In diesem Moment ist es schon wieder Vorfrühling und lange haben die Griechen die Trojaner nicht mehr angegriffen. Nachdem sie die Festung verlassen hat, setzt sich Kassandra auf einem Hügel über dem Fluß Skamander.

Abgesehen von den Textimmanenten Interpretationsversuchen anderer Figuren eröffnet der Kampf zwischen Mond und Sonne eine zweite Bedeutungsebene vor dem Hintergrund der Archetypischen Psychologie. Es ist offensichtlich, dass der symbolische Charakter des Traums eine Anspielung auf CG Jungs Traumkonzeption ist. Träume stellen eine umfassende Symbolik dar, die dem kollektiven Unbewussten entspricht. Der Mond und die Sonne verkörpern zwei Prinzipien, nämlich das Weibliche und das Männliche, die sich im Traum gegenüberstehen. Mann und Frau fungieren, in Übereinstimmung mit Jungs Denken, als Wesen, die zur Symbolisierung fähig sind. Die Polarisierung der lunaren Frau und des solaren Gottes oder Mannes entspricht dem Oppositionsprinzip des von Jung geprägten Begriffs des Archetyps, der als universelle Form definiert werden kann. In Jungs Verständnis sind die universellen Formen in der Struktur des menschlichen Geistes verankert, der die Eindrücke und Wahrnehmungen der Welt in Symbole umwandelt. Die Entstehung dieser Symbole unterliegt einem Prozess der sprachlichen, mythischen oder logisch-theoretischen Apperzeption.  In diesem Zusammenhang hat der Rückgriff auf Archetypen eine entwicklungspsychologische Dimension: Durch ihren Transformationsprozess überschreitet Kassandra zu Recht die Grenze ihrer Individualität, so dass sie sich als kollektives und universelles Wesen identifiziert oder identifiziert wird. Darüber hinaus ist die Vorstellung eines entscheidenden Übergangs vom Patriarchat zum Matriarchat offensichtlich. Die im Traum dargestellte Symbolik kann als Anspielung auf die in den 1980er Jahren erfolgte grundlegende Kritik am Konzept von Anima/Animus und den damit verbundenen patriarchalisch geprägten Rollenstereotypen interpretiert werden, die zur Erweiterung von Jungs Konzept des Seelenbildes des anderen Geschlechts geführt hat. In der Tat wurde der Logos dem Männlichen und der Eros der Frau vorbehalten. Die Vorwürfe gegen Jungs zeitbedingtes Frauenbild nahmen große Ausmaße an. Eine seiner Schülerinnen, Ursula Baumgart, warf ihm vor, dass er durch den Einfluss patriarchalischer Klischees daran gehindert worden sei, die weibliche Psyche wirklich zu verstehen. Angesichts der für Männer und Frauen definierten Attribute lautete der Vorschlag, dass die besprochenen Archetypen klar von den Beschreibungen des Verhaltens und Erlebens konkreter Männer und Frauen getrennt werden sollten. Anstelle der Begriffe männlich und weiblich schlugen spätere Autoren wie Schwartz-Salant eher freie Formulierungen für diese abstrakten Prinzipien vor, wie Sol und Luna. Generell ist festzuhalten, dass die Bedeutung dieser Traumsequenz im entscheidenden Übergang vom Patriarchat zum Matriarchat liegt.

3.8. Traum VIII: Alpträume der Schwester Kassandras Polyxena (K 126-127)

Kassandras Rivalin um das Priesteramt ist niemand anderes als ihre Schwester Polyxena. Im letzten Teil des Erinnerungsmonologs gesteht Kassandra ihre Schuld gegenüber Polyxena ein. Kassandra wird bei der Entscheidung über die Zulassung zum Priesteramt Polyxena vorgezogen, was zur Folge hat, dass die Schwestern ein Jahr lang nicht mehr miteinander reden. Außerdem leidet Polyxena darunter, dass sie nicht die Lieblingstochter des Königs Priamos ist. Sie erschreckt, als diese zu ihr kommt, um ihr ihre Träume anzuvertrauen. Doch diese werden von Kassandra als »unlösbare Verstrickungen« bezeichnet:


Mit einem zügellosen, forschenden und fordernden Blick lieferte sie sich mir aus. Sie träumte, aus einer Unratgrube, in der sie hauste, streckte sie ihre Arme aus nach einer Lichtgestalt, nach der sie sich verzehrte. Wer war der Glückliche, versuchte ich zu scherzen. Trug er einen Namen? Trocken sagte Polyxena: Ja. Es ist Andron. Andron. Der Offizier des Eumelos. Mir verschlugs die Sprache. Verfluchtes Amt. Ja, sagte ich. Was man halt so träumt. Den man am Tag zuletzt gesehn hat, sieht man auch im Traum. Das ist ohne Bedeutung, Polyxena. (K126)

Es stellt sich heraus, dass sich Polyxena im Traum nach Andron, Dem Offizier des Eumelos (Leiter der Palastwache) sehnt. An dieser Stelle ist der Verweis auf Freuds Konzept von Tagesresten und die ihm zugeschriebene Bedeutungslosigkeit besonders aufschlussreich. Kassandras Traumdeutung wird aber erst vollständig, nachdem Polyxena ihr den Rest ihres Traums anvertraut. Sie erzählt Kassandra, dass sie sich mit dem Offizier des Eumelos im Traum auf die erniedrigendste Art vereint hat, obwohl sie ihn in der Wirklichkeit hasst. Merkwürdigerweise empfiehlt ihr Kassandra, einen Mann zu suchen (ebd.).

Polyxenas zweiter Traum tritt ein, während sie bei Andron schläft (K128). In ihrem Traum übt ihr Vater Priamos Gewalt auf sie aus und sie weint unaufhörlich. Angekündigt wird, dass dieser Traum zuerst nur selten vorkommt und dann häufiger, und zwar am Ende jeder Nacht.

Die beiden Träume sind im Hinblick auf die Charakterisierung der Polyxena von großer Bedeutung. Im Gegensatz zu Kassandra, die nach Emanzipation strebt, verharrt ihre Schwester Polyxena in ihrer Opferrolle (K 127). Polyxenas Leben ist von selbstzerstörerischen Handlungen so geprägt, dass sie sich sexuellen Erniedrigungen durch Andron und Achill aussetzt.  

Traum IX: Kassandras Traum in Schwarz und Rot (K 161)

Kassandra träumt von den Farben Rot und Schwarz, die respektive Leben und Tod versinnbildlichen, wie folgt:


Nachts träumte ich, nach so vielen traumlos wüsten Nächten. Farben sah ich, Rot und Schwarz, Leben und Tod. Sie durchdrangen einander, kämpften nicht miteinander, wie ich es, sogar im Traum, erwartet hätte. Andauernd ihre Gestalt verändernd, ergaben sie andauernd neue Muster, die unglaublich schön sein konnten. Sie warn wie Wasser, wie ein Meer. In seiner Mitte sah ich eine helle Insel, der ich, im Traum - ich flog ja; ja, ich flog! - schnell näher kam. Was war dort. Was für ein Wesen. Ein Mensch? Ein Tier? Es leuchtete, wie nur Aineias in den Nächten leuchtet. Welche Freude. Dann Absturz, Windzug, Dunkelheit, Erwachen. (K161)

Hervorzuheben ist, dass dieser Traum schon wieder nach einer langen Zeit ohne Träume eintritt, und zwar nach der Landung der Griechischen Flotte und den damit verbundenen Folgen. Die Gräueltaten des Krieges führten dazu, dass die Götter die Trojaner verließen. (K 147). In diesem letzten Teil des Textes werden die Ereignisse des Krieges weiterhin dargestellt: Hektors Kampf mit Achilles, Penthesileas Tod, die Zerstörung der Stadt nach Odysseus' erfolgreicher List, die Trennung von Aineias und seine Flucht. All dies wird in die Erzählung der Trennung von Kassandra und Priamos eingebettet. Die Erzählung über das Leben in den Ida-Bergen, die subversive Gegenwelt zu Troja, und Kassandras Beziehung zu dem weisen Anchises und Arisbe.

In diesem letzten Traum des Textes setzt sich Christa Wolf kritisch mit der Bedeutung einer weiblichen Emanzipation auseinander und platziert Kassandra zwischen zwei Gegen-Heldinnen: Penthesilea und Polyxena. Die eine wird als radikal beschrieben » Sie kämpfte nicht nur gegen die Griechen: gegen alle Männer« (K 152). Die kühne und furchteinflößende Frau greift jeden an und herrscht über die Trojaner, wie es noch nie ein Mann zuvor getan hat. Sie stachelt ihre Frauenbewegung zur Gewalt gegen alle Männer auf, nach dem Motto »lieber kämpfend sterben, als versklavt sein« (ebd.). Die Gewalt gegen Männer wird so weit getrieben, dass die Trojaner ihre Anhängerinnen verdächtigen, sie hätten ihre Ehemänner getötet. Im Gegensatz zu Kassandra, geht Penthesilea davon aus, dass das Schlachten von Menschen oder die Gewalt eine Männersprache sei, und dass diese nur durch dieses Mittel verändert werden können (K 153). Andererseits wird Polyxena als unterwürfige und resignierte Frau dargestellt. In dieser Hochphase des Krieges wird ein Plan von Männern entworfen, um Achill den schlimmsten Feind zu töten und dabei wird Polyxena als Lockvogel benutzt ohne Rücksicht auf die gravierenden Folgen auf ihre Person zu nehmen. Sie sollte Achill im Tempel locken unter dem Vorwand ihm zu vermählen und Paris würde ihn dann an der Ferse treffen, da wo er verletzlich ist. Doch vor der Durchführung des Plans kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Kassandra und König Priamos, so dass dieser Letztere zornig und böse aus einem langen Schweigen kommt.  Kassandra rebelliert sich gegen die Benutzung einer Frau, um den Feind zu töten und will Polyxenas Recht sowie ihr eigenes Recht als Frau verteidigen. Sie wird aber von ihrem Vater der Feinbegünstigung bezichtigt. (K 164). Letztendlich stimmt sie dem Plan zu und weigert sich nicht, dem Willen ihres Vaters zu gehorchen, als dieser ihr mitteilt, dass ein Verbündeter namens Eurypilos sie zur Frau haben möchte. Es folgt das Schicksal der Polyxena, die den Verstand verliert und vor Angst verrückt wird, weil die Griechen sie im Namen ihres größten Helden Achill suchen und sie schließlich durch den Verrat Androns finden. In diesem letzten Teil der Erzählung sind insbesondere die Züge einer weiblichen Utopie erkennbar. Dementsprechend bedeutet Emanzipation weder Töten und Sterben, wie Penthesilea es aufgefasst hat, noch sich allen Formen des Missbrauchs zu unterwerfen, wie es Polyxena getan hat, sondern das Leben auszuwählen, denn »Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben.« (K 154).

Zusammenfassung

Insgesamt lassen sich in der Erzählstruktur von Kassandra neun Träume herausheben. Die integrierten Träume dienen einerseits der mythologischen Prophetie oder der Vorhersage von Ereignissen, da die Götter über die Träume mit den Menschen in Kontakt treten. In diesem Fall werden einige Träume zu Deutungs- und Vorhersagezwecken in die mythologische Fabel, die der Erzählung zugrunde liegt, eingefügt. Der Traum von der Geburt von Paris, dem verfluchten Sohn des Priamos, kann beispielsweise als spannungssteigernde Prolepse interpretiert werden, deren Bewertung sich im Laufe der Handlung von einer unsicheren zu einer sicheren Vorhersage ändert.  Andererseits dienen Träume der Charakterisierung von Figuren oder der Deutung ihrer Persönlichkeit. Da Kassandras Ringen um Autonomie im Mittelpunkt der Erzählung steht, ermöglichen die Träume einen Einblick in ihre Person und offenbaren ihre persönlichen Ängste und inneren Konflikte. Die Beschreibung ihrer Träume und Krisen nimmt einen großen Raum ein, ebenso wie die Reflexionen über die Sprache und ihren Gebrauch oder Missbrauch. All dies ist mit einer zunehmenden Selbstkritik verbunden, die es Kassandra ermöglicht, offen und schonungslos über ihre Wünsche, Zweifel, Ängste, Hoffnungen und ihr eigenes Verhalten nachzudenken. Die Träume drücken auch einen Teil der unterbewussten Verarbeitung der Gegenwart sowie der Fantasien und Ängste durch die Autorin Christa Wolf aus. Angesichts des Entmythologisierungsprozesses, dem Kassandra unterzogen wird, sind die kontroversen Traumdeutungen ein Zeichen für einen entscheidenden Bruch mit Determinismus und Dogmatismus, da Träume anders interpretiert werden als in früheren Jahrhunderten, als die Menschen ihnen aufgrund ihres Glaubens eine größere Bedeutung beimaßen. Abgesehen von diesen Aspekten erweist sich die Integration von Träumen in die Erzählung als eine Arbeitstechnik von Christa Wolf, eine Ästhetik, die sie sich angeeignet hat, um ihre Art zu schreiben und zu denken zum Ausdruck zu bringen. Diese Technik entfaltet ein riesiges Netz, in dem Ereignisse und Figuren immer wieder in einem neuen Licht erscheinen, sich durch Selbstreflexion weiterentwickeln und so ihr Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart überprüfen. Wie Nicolai Rosemarie treffend hervorgehoben hat, stellen die Träume Berührungspunkte in den Assoziationswegen des Textes dar, Knotenpunkte der immanenten und umfassenden Symbolik des Werkes. In ihrer vielfältigen und fast unveränderlichen Bildwelt bieten diese Träume einen attraktiven Zugang zu Christa Wolfs Kunstwerk (Vgl. Nicolai 1989, 84).

Träume und weibliche Utopie des Romans

Die weibliche Utopie manifestiert sich zunächst auf sprachlicher Ebene. Die Erzählform, die Christa Wolf auswählt, weist auf eine Ästhetik des Widerstands hin. In Kassandra werden Themen des feministischen Strukturalismus von Julia Kristeva und Helene Cixous wieder aufgegriffen (Vgl. Schmidjell 2003, 106). Christa Wolf kritisiert die bestehenden patriarchalen Verhältnisse und verklärt die Wirklichkeit, indem sie in eine bessere Zukunft voller Optimismus blickt. Die formale Vielfalt, von der ihre Erzählung zeugt, ist ein legitimiertes Schreibexperiment, das eine Subjektivierung des Erzählaktes bedeuten soll.[3] Auf der Ebene der Zeitgeschichte sind die Philosophen wie Ernst Bloch und Walter Benjamin intertextuell erwähnenswert. Am Leben in der Gemeinschaft der Skamander zeigt sich das Utopisch-Sozialistische in der Identitätssuche der Protagonistin bzw. in der Idee ihrer Selbstverwirklichung. Das Leben am Skamander erscheint als Gegenpol zur apokalyptischen Troja-Welt geleitet von einer Machtpolitik, die Nachrüstung und Menschenvernichtung befördert. Die untereinander ausgelebte Solidarität und Zärtlichkeit kontrastieren mit den in Troja vorherrschenden Angst und Furcht. Auch wenn Christa Wolf eher Ernst Bloch nahesteht, sind strukturelle Ähnlichkeiten mit Walter Benjamins Geschichtsphilosophie nicht zu übersehen. In ihrer Prosa zeigt Christa Wolf gesellschaftliche Widersprüche auf und verbindet dies mit dem Anspruch, ihre Zeitgenossen aufzuklären (Vgl. Schmiedjell 2003, 133). Dies geschieht durch die Rekonstruktion eines offenen Gedächtnisses, in dem das bislang Verdrängte und Unterdrückte zu Wort kommt. Die Kritik nimmt hier also die Form eines fiktiven Monologs an. Auf diese Weise setzt sich Christa Wolf kritisch mit der Gesellschaft auseinander, an der sie auf produktive und kritische Weise teilnimmt.


Literaturverzeichnis

Primärliteratur

  • Wolf, Christa: Kassandra. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008; zit. als K.

Sekundärliteratur

  • Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Band 5., Werkausgabe in 16 Bänden (mit einem Ergänzungsband 550-566-8261). Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1959, 554-1673.
  • Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1980,1-44.
  • Cixous, Hélène: Entre l’écriture des femmes. Paris: Editions Des femmes 1976.
  • Cixous, Hélène: Le rire de la méduse. Paris: Editions L’Arc 1975.
  • Hilzinger, Sonja: Christa Wolf. Leben Werk Wirkung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007, 28-125.
  • Korngiebel, Wilfried: Das historische Fundament der Sozialutopien. In: Zimmermann, E. Rainer (Hg.): Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Berlin: De Gruyter Wissenschaftsverlag 2017, 36-175.
  • Matowski, Bernd: Christa Wolf. Kassandra. Hollfeld: C. Bange Verlag 2008, 21-93.
  • Nicolai, Rosemarie: Christa Wolf, Kassandra. München: Oldenburg Wissenschaftsverlag 1989, 84.
  • Roesler, Christian: Das Archetypenkonzept C. G Jungs: Theorie, Forschung und Anwendung. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2016, 66-74.
  • Schmidjell, Christine: Christa Wolf. Kassandra. Stuttgart: Reclam Verlag 2003, 62-80.
  • Schütz, Rosalvo: Immanenz und Latenz der kleinen Tagträume. In: Zimmermann, E. Rainer (Hg.): Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Berlin: De Gruyter Wissenschaftsverlag 2017, 31-35
  • Servoise, Sylvie: Christa Wolf ou le dilemme de Cassandre. In: A. Salha & A. Saignes (Hg.): De Big Brother au Grand Inquisiteur. Art, science et Politique, Paris: Editions Classiques Garnier, coll. »Perspektives comparatistes« 2013, 245-260.
  • Walter, Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2010.
  • Wolf, Christa: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2008.
  • Zimmermann, E. Reiner: Hoffnung gegen Tod. In derselb. (Hg.): Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Berlin: De Gruyter Wissenschaftsverlag 2017, 52-325.


Anmerkungen

  1. Besonders produktiv für ihr literarisches Werk war für Christa Wolf ihre im Sommer 1980 unternommene Griechenlandreise, die sie dazu bringt, sich mit der griechischen Mythologie intensiv zu beschäftigen.
  2. Die Schriftstellerin setzt die Schreibmethode um, für die sie seit Jahren bekannt ist, und die ihre Originalität ausmacht: Sie gestaltet den Stoff in fiktiver und nicht-fiktiver Prosa. Essay, Tagebuch und Erzählung werden zusammengefügt nach dem Schreibprinzip der ausgewogenen Authentizität. Sie lässt darüber hinaus in ihren Text Erfahrungen einfließen, die sie während des Schreibmoments macht.
  3. In den Voraussetzungen einer Erzählung formulierte Kassandra-Projekt wichtige Impulse zur Umsetzung des »weiblichen Schreibens« enthält. In diesem Buch reflektiert sie deren befreiende Kraft und denkt das individuelle und gesellschaftliche Emanzipation zusammen, die aus ihrer Sicht nicht losgelöst voneinander bedacht werden können. (Vgl. Wolf 2008, 9-11).


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Dissirama, Waguena: "Kassandra" (Christa Wolf). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Kassandra%22_(Christa_Wolf)&veswitched=1&veaction=edit&oldid=3736