Immer noch Sturm ist ein im Jahr 2010 erschienenes Theaterstück von Peter Handke (*1942), in dem ein Traum sowohl erzählt als auch gleichzeitig gespielt wird. Das Stück handelt von einer im Traum stattfindenden Begegnung eines ‚Ich‘ mit seinen bereits verstorbenen Vorfahren und ist thematisch eng verknüpft mit der Geschichte Kärntens und dem Widerstand der Kärntner Slowenen während des Zweiten Weltkriegs. Die Uraufführung fand im August 2011 im Rahmen der Salzburger Festspiele als Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg auf der Perner Insel in Hallein statt. Regie führte Dimiter Gotscheff.


Autor

Der österreichische Schriftsteller Peter Handke wurde am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Sein umfangreiches literarisches Werk umfasst sowohl Erzähl- als auch Theatertexte, aber auch Lyrik, Hörspiele sowie Drehbücher. Darüber hinaus ist er auch als Übersetzer tätig. In Handkes Werk ist der Traum ein wichtiges und wiederkehrendes Moment, sowohl in seinen Texten in Form von Traumerzählungen oder Traumsequenzen als auch als Inspirationsquelle für Texte. Diese Nähe zum Traum wurde in der Forschung bislang noch nicht tiefergehend untersucht. Handke selbst misst dem Traum für die Literatur generell, vor allem aber auch für sein eigenes Schreiben eine große Bedeutung bei: „Und natürlich spielen Träume eine Rolle. Die Träume sind ja verschwunden aus der Literatur, dabei sind sie ihr Ursprung. Bei den meisten Schriftstellern sehe ich keinen Traum mehr. Ich komme aus dem Traum“ (Greiner/Handke 2006). Mit Blick auf seine Theaterstücke spricht er davon, dass das Traumspiel „immer mit dabeisein [muß]“ (Handke/Oberender 2014, 124).


Der Traum

Beschreibung

Immer noch Sturm stellt als Ganzes die Präsentation eines Traumgeschehens dar. Das Stück beginnt mit einer erzählerischen Erkundung der entstehenden Traumlandschaft: „Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann. Was ist da zu sehen? Eine Sitzbank, eine eher zeitlose, im Mittelgrund, und daneben oder dahinter oder sonst wo ein Apfelbaum, behängt mit etwa 99 Äpfeln, Frühäpfeln, fast weißen, oder Spätäpfeln, dunkelroten. Sanft abschüssig erscheint mir diese Heide, heimelig. Wem zeigt sie sich? Wem erscheint sie so? Mir hier, im Augenblick“ (InS 7). Während sich die im Traum herrschende Zeit nicht eindeutig bestimmen lässt, wird die Heidesteppe im Verlauf des Traumgeschehens noch genauer verortet und als Kärntner Jaunfeld bezeichnet. Dort erscheinen dem träumenden Erzähler-‚Ich‘ seine bereits verstorbenen Vorfahren: die Mutter, die Großeltern, die vier Geschwister der Mutter. Die Traumlandschaft und das Auftauchen seiner toten Ahnen im Traum hat das ‚Ich‘ in einem hohen Maße selbst evoziert, wie einer der herbeigeträumten Vorfahren ausspricht: „Zimmert aus seinem Daher- und Dahingeträumten Weltenräume. Träumt, und bestimmt, daß wir Toten nicht tot sind“ (InS 155).

Als ein ‚Ich im Traum‘ kommt das ‚Ich‘ mit seinen Vorfahren auf der Heidesteppe zusammen und erfährt von diesen allerhand über die Zeit und ihr Schicksal während des Zweiten Weltkriegs. Berichtet wird von der Unterdrückung der Kärntner Slowenen durch das NS-Regime, der ständigen Bedrohung durch eine mögliche Aussiedlung, dem Verbot, Slowenisch zu sprechen sowie dem Versuch, aktiv, aber dennoch vergeblich, Widerstand gegen die Nationalsozialisten zu leisten. Das ‚Ich‘ erfährt außerdem, wie zwei der Geschwister seiner Mutter, Benjamin und Valentin, an der Front ums Leben kommen; wie zwei weitere Geschwister, Ursula und Gregor, sich dem bewaffneten Partisanenkampf anschließen; wie Gregor zum Kommandanten der Widerstandskämpfer aufsteigt; wie Ursula von denselben zu Tode gefoltert wird; und wie seine Mutter auf der Suche nach seinem Vater ihre Heimat verlässt.

Der Traum endet mit dem erneuten Erscheinen aller Vorfahren zum gemeinsamen Singen einer Weltverdrußpolka und dem Auftritt „jener vielen, […] die vorher zeitweise im Hintergrund vorbeigezogen waren. Jetzt drängen sie nach vorn und würfeln uns mir nichts, dir nichts, als gäbe es uns gar nicht, auseinander, so daß unsererseits wir bei unserem Abgesang sachte in den Hintergrund geraten, und beim Ausklang des Lieds zwischen und hinter den andern mehr oder weniger verschwunden sein werden, erkenntlich höchstens an den Handzeichen, mit denen wir einander noch zuwinken“ (InS 167).

Analyse und Interpretation

Der Traumcharakter des Stücks ist zum einen auf die nur im Traum mögliche Begegnung des ‚Ich‘ mit seinen verstorbenen Vorfahren zurückzuführen. Zum anderen kommen beide – der Traumcharakter sowie die traumhafte Begegnung – vor allem durch eine ganze Reihe sogenannter Ko-Präsenzen zustande, die sowohl auf formaler Ebene als auch innerhalb der Traumdiegese bestehen.

Die Vermittlung des Traumgeschehens betreffend zeichnet sich das Stück auf formaler Ebene durch die Ko-Präsenz eines dramatischen und eines narrativen Darstellungsmodus aus. Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich besonders deutlich in der ‚Ich‘-Figur, die zum einen als ein ‚Ich im Traum‘, d.h. eine Gestalt im Traum, auftritt und als solches mit seinen Vorfahren auf der Heidesteppe zusammentrifft. Zum anderen ist die ‚Ich‘-Figur aber auch das träumende ‚Ich‘, das diese Begegnung nicht nur träumt, sondern seinen Traum auch unmittelbar im Moment des Träumens erzählt. Mit Blick auf die besondere Darstellungsweise des Traums kann mit Thomas Oberender von einer „ständigen Pendelbewegung von der Betrachtung zur Involviertheit“ gesprochen werden (Handke/Oberender 2014, 75), d.h. das ‚Ich‘ betrachtet als träumende Erzählinstanz den Traum, in den es gleichzeitig als ein ‚Ich im Traum‘ involviert ist. Sowohl die ‚Ich‘-Figur als auch das Stück selbst bewegen sich daher permanent an bzw. auf der Grenze zwischen Erzählen und Spielen des Traums.

Diese Ko-Präsenz des narrativen und des dramatischen Darstellungsmodus ist vor allem hinsichtlich des Erzählt- bzw. Dargestellt-Werdens des Traums interessant. Üblicherweise können Träume erst im Nachhinein, also nach dem Erwachen, erzählt werden. Gerade für dramatische Texte ist jedoch die Unmittelbarkeit des Geschehens ein charakteristisches Merkmal, sodass sich der Traum im Drama – im Gegensatz zu einem nachträglich erzählten Traum – unmittelbar szenisch ereignen kann. In Immer noch Sturm löst das beständige Ineinandergreifen der beiden Darstellungsmodi diese Grenze zwischen Erzählen und Spielen des Traums auf: Der Traum ereignet sich nicht nur unmittelbar, sondern er wird auch unmittelbar im Moment des Träumens erzählt. Hinsichtlich der Vermittlung des Traumgeschehens kann ob der Gleichzeitigkeit von Erzählen und Spielen daher von einem performativen Traumerzählen gesprochen werden.

Auf der Ebene der Traumdiegese besteht eine Gleichzeitigkeit von Zeiten, die insbesondere aufgrund des Aussehens und Alters der Figuren deutlich wird: Das ‚Ich‘ sieht sich selbst als eine „heutige Allerweltsfigur, eine von Millionen, im dazugehörigen Interkontinentalaufzug, schon auf den ersten Blick im Gegensatz zu dem zeitlosen ländlichen Feiertagsgewand meiner Vorfahren. Auffällig an mir auch, wieder im Gegensatz zu den anderen, daß ich als einer erscheine, der schon in den Jahren ist, älter gar als das Großelternpaar“ (InS 10). Im Traum kommen zum einen der als ‚heute‘ zu bezeichnende Moment des Träumens, zum anderen das ‚damals‘, dem die Vorfahren entstammen und von dem sie erzählen, zusammen und lösen sich in einem unbestimmten ‚hier und jetzt‘ auf, in dem sich das Traumgeschehen ereignet. Der Traum stellt somit einen Rahmen für das Erscheinen der verstorbenen Vorfahren dar und ermöglicht dem ‚Ich‘ das (erneute) Zusammentreffen und den Dialog mit ihnen. Er ist ein Begegnungsraum für Lebende und Tote, in dem für die Dauer des Traums die toten Vorfahren kurzzeitig wieder lebendig erscheinen und Erinnerungen und Geschichte gegenwärtig und erfahrbar werden können.

Der Höhepunkt des Traumgeschehens ist ein Gespräch des ‚Ich‘ mit seinem Onkel und Taufpaten Gregor. Diese Figur erinnert an viele weitere Gregor-Figuren im Werk Handkes und ist wie diese nach dem Vorbild des Gregor Suitz, dem tatsächlichen Onkel und Taufpaten Handkes, angelegt, der 1943 in Russland an der Front ums Leben kam. In einem Brief, den Handke 1963 an seine Mutter schickte, berichtet er von einem Traum, in dem er selbst sich in der Gestalt seines Onkels Gregor im Krieg befindet und als dieser desertiert: „Er wollte desertieren, das begriff ich, denn ich war an seiner Stelle, und es war kein Unterschied zwischen uns“ (Höller 2007, 7). Das in diesem Brief geschilderte Traumszenario scheint in Immer noch Sturm für einen kurzen Moment zur ‚Wirklichkeit‘ zu werden, als sich Gregor – wenn auch abermals nur im Traum – an einem bestimmten Punkt entscheidet, nicht mehr an die Front zurückzukehren und sich stattdessen dem Partisanenkampf anschließt. Wenn das ‚Ich‘ und Gregor am Ende aufeinandertreffen und dieser vom ‚Ich‘ als „der Überlebende der drei Brüder meiner Mutter“ (InS 134) bezeichnet wird, widerspricht dies der Aussage eines anderen Bruders, Valentin, der sich zu Beginn vorstellt als „der einzige Sohn, der den Krieg überlebt hat“ (InS 14), sodass sich der Traum auch als ein Mittel erweist, Geschichte anders zu erzählen und zu schreiben.

Einordnung

Immer noch Sturm ist ein sogenanntes Traumspiel. Als dramatisches Genre wurde das Traumspiel von August Strindberg mit seinem gleichnamigen Drama Ett drömspel (Ein Traumspiel, 1902) etabliert, das erstmals als Ganzes einen Traum darstellt. Ob der Ko-Präsenz von narrativem und dramatischem Darstellungsmodus verfügt Immer noch Sturm jedoch über eine Ebene, die in Strindbergs Stück selbst fehlt, in Strindbergs Vorbemerkung zu Ett drömspel gleichwohl besonders hervorgehoben wird: „Aber ein Bewußtsein steht über allen, das ist das des Träumers“ (Strindberg 1920, 144). Im Unterschied zu Strindbergs Stück, das ausschließlich aus der szenischen Darstellung des Traumgeschehens besteht, wird in Immer noch Sturm mit der Figur des träumenden Erzähler-‚Ich‘ das Bewusstsein des Träumers im Stück immer präsent gehalten. Aufgrund der Gleichzeitigkeit von Erzählen und Spielen kann Immer noch Sturm – in Anlehnung an Strindberg und gleichzeitig dessen Konzeption des Traumspiels weiterentwickelnd – als ein unmittelbar erzähltes Traumspiel bezeichnet werden.


Literatur

Ausgabe

  • Handke, Peter: Immer noch Sturm. Berlin: Suhrkamp 2010.

(= zitierte Ausgabe; zitiert als InS)

Selbstzeugnisse und Bezugstexte

  • Greiner, Ulrich/Peter Handke: „Ich komme aus dem Traum“. Ein ZEIT-Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Handke über die Lust des Schreibens, den jugoslawischen Krieg und das Gehen in den Wäldern. In: DIE ZEIT 1.02.2006; online (14.10.2015).
  • Handke, Peter/Thomas Oberender: Nebeneingang oder Haupteingang? Gespräche über 50 Jahre Schreiben fürs Theater. Berlin: Suhrkamp 2014.
  • Strindberg, August: Ein Traumspiel. In: August Strindberg: Märchenspiele. Ein Traumspiel. München: Georg Müller 1920, 143–224.

Forschungsliteratur

  • Abbott, Scott: Storm still. Klartext und Poesie in Peter Handke’s Immer noch Sturm. In: (1.9.2015) Handkeonline (29.09.2015).
  • Amann, Klaus: „Ein Traum von Geschichte“. Zu einigen Voraussetzungen von Peter Handkes Immer noch Sturm. In: Anna Estermann/Hans Höller (Hg.): Schreiben als Weltentdeckung. Neue Perspektiven der Handke-Forschung. Wien: Passagen 2014, 17–46.
  • Bieringer, Andreas: „Hühnerleiter wird zur Jakobsleiter“. Spuren der Liturgie in Peter Handkes Stück Immer noch Sturm. In: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 39 (2010), 701–708.
  • Dorowin, Hermann: Immer schon Sturm. Zum Theater Peter Handkes. In: Alessandra Schininà (Hg.): Studien über das österreichische Theater der Gegenwart/Studi sul teatro austriaco contemporaneo. St. Ingbert: Röhrig 2013, 15–37.
  • Höller, Hans: Peter Handke. Reinbek: Rowohlt 2007.
  • Hannesschläger, Vanessa : Immer noch Sturm. Entstehungskontext. In: Handkeonline (online (01.10.215).
  • Leskovec, Andrea: Peter Handkes Immer noch Sturm oder zur Hintergehbarkeit der Festschreibung. In: Zagreber Germanistische Beiträge 22 (2013), 31–51.
  • Oberender, Thomas: „Ach, Geschichte. Ah, Leben“ – Wie Geschichte erzählen? Über Peter Handkes Immer noch Sturm‘ das Stück des Jahres und ausgezeichnet mit dem Mühlheimer Dramatikerpreis. In: Theater heute. Jahrbuch 2012, 54–64.