"Oneirokritika" (Artemidor von Daldis): Unterschied zwischen den Versionen

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==Deutungspraxis==
==Deutungspraxis==
Die Erfassung dieser Aspekte hatte in einer Art Anamnesegespräch zu erfolgen (Artem. 1,9,18,16 19,4, dazu Walde 2001, 200-222), bei dem sich der Deuter möglichst umfassend über den Träumenden, seine Lebensumstände und -gewohnheiten sowie kulturellen Prägungen zu informieren versuchte und ebenso die körperliche Verfassung, in der sich der Träumende zur Zeit des Traums befand, erhoben wurde. Denn nur so konnte die Interpretation des Traumes erfolgreich sein bzw. war die Anwendung der Grundsätze zielführend, denn ein Traum für die gleiche Person konnte in verschiedenen Situationen jeweils etwas anderes bedeuten, wie auch derselbe Traum für verschiedene Personen unterschiedlich zu deuten war.
Die Erfassung dieser Aspekte hatte in einer Art Anamnesegespräch zu erfolgen (Artem. 1,9,18,16 19,4; dazu Walde 2001, 200-222), bei dem sich der Deuter möglichst umfassend über den Träumenden, seine Lebensumstände und -gewohnheiten sowie kulturellen Prägungen zu informieren versuchte und auch die körperliche Verfassung, in der sich der Träumende zur Zeit des Traums befand, erhoben wurde. Denn nur so konnte die Interpretation des Traumes erfolgreich sein, denn ein Traum für die gleiche Person konnte in verschiedenen Situationen jeweils etwas anderes bedeuten, wie auch derselbe Traum für verschiedene Personen unterschiedlich zu deuten war.


Die Kunst des Deuters, die auf großem Allgemeinwissen (Harris-McCoy 2013), einer ausgeprägten Beobachtungsgabe und langjähriger Erfahrung basierte, zielte zunächst darauf ab, die Traumart zu identifizieren, um dann die Methodik zur Anwendung zu bringen. Artemidor ging dabei von der grundsätzlichen Übertragbarkeit von Gesetzmäßigkeiten aus der Wachwelt in die Traumwelt aus, er deutete aber mitunter auch nach dem Prinzip des Gegenteils (Artem. 2,25,145,11f. und 4,2,245,2-9). Dann zerlegte der Deuter die ihm berichtete Traumsequenz in ihre Hauptbestandteile, die einzeln zu deuten waren und bei denen ein leitender Aspekt herausgefiltert wurde. Damit sollte es gelingen, die Unsicherheit, die aus der Bedeutungsvielfalt der Bilder herrühren konnte, durch Kohärenz einzudämmen.
Die Kunst des Deuters, die auf großem Allgemeinwissen (Harris-McCoy 2013), einer ausgeprägten Beobachtungsgabe und langjähriger Erfahrung basierte, zielte zunächst darauf ab, die Traumart zu identifizieren, um dann die Methodik zur Anwendung zu bringen. Artemidor ging dabei von der grundsätzlichen Übertragbarkeit von Gesetzmäßigkeiten aus der Wachwelt in die Traumwelt aus, er deutete aber mitunter auch nach dem Prinzip des Gegenteils (Artem. 2,25,145,11f. und 4,2,245,2-9). Dann zerlegte er die ihm berichtete Traumsequenz in ihre Hauptbestandteile, die einzeln zu deuten waren und bei denen ein leitender Aspekt herausgefiltert wurde. Damit sollte es gelingen, die Unsicherheit, die aus der Bedeutungsvielfalt der Bilder herrühren konnte, durch Kohärenz einzudämmen.


Die entscheidende Rolle bei der Anwendung der Deutungsregeln spielte der Sozialstatus des Träumenden: Die Begründungen für die Deutung, die fest im gesellschaftlichen Wissens- und Erfahrungsschatz verankert waren, wurden nach Männern und Frauen, Armen und Reichen, Gesunden und Kranken, Sklaven und Freien etc. differenziert und mussten den Klienten plausibel erscheinen. Ein Beispiel (4,67), aus dem hervorgeht, dass auch Frauen zu Artemidors Klientel gehörten, und das Artemidor als „Übungsbeispiel“ bezeichnet, vermag dies zu verdeutlichen:
Die entscheidende Rolle bei der Anwendung der Deutungsregeln spielte der Sozialstatus des Träumenden: Die Begründungen für die Deutung, die fest im gesellschaftlichen Wissens- und Erfahrungsschatz verankert waren, wurden nach Männern und Frauen, Armen und Reichen, Gesunden und Kranken, Sklaven und Freien etc. differenziert und mussten den Klienten plausibel erscheinen. Ein Beispiel (4,67), das Artemidor als „Übungsbeispiel“ bezeichnet und aus dem hervorgeht, dass auch Frauen zu Artemidors Klientel gehörten, vermag dies zu verdeutlichen:


: „Eine schwangere Frau träumte, sie habe eine Schlange [in der Übersetzung: ein Drache, GW] geboren. Der Sohn, den sie zur Welt brachte, wurde ein sehr guter und berühmter Redner; denn eine Schlange hat wie ein Redner eine zweischneidige Zunge. Freilich war das eine reiche Frau, und der Reichtum ist ein Hilfsmittel der Bildung. Eine andere hatte dasselbe Traumgesicht, und der von ihr geborene Sohn wurde Oberpriester; denn heilig ist die Schlange und heilig auch der in die Mysterien Eingeweihte. Diesmal war die Träumende die Gattin eines Priesters. Eine dritte sah ebenfalls dieses Traumgesicht, der von ihr geborene Sohn wurde ein hervorragender Weissager, denn die Schlange ist dem Apollon, dem besten aller Weissager, heilig. Diese Frau war die Tochter eines Weissagers. Ebenso sah eine vierte dieses Traumgesicht. Ihr Sohn wurde ein zügelloser und frecher Mensch, der viele Frauen in der Stadt verführte; denn eine Schlange schleicht durch die engsten Spalten und versucht, von Beobachtern verborgen zu bleiben. Auch die Mutter war schon ein ziemlich liederliches Weib, das es gerne mit den Männern trieb. Der Sohn einer fünften, die dasselbe Traumgesicht sah, wurde bei einem Raubüberfall ergriffen und geköpft; denn auch die Schlange wird, wenn sie gefangen wird, auf den Kopf geschlagen und stirbt so. Es war aber auch die Mutter nicht gerade vorbildlich. Der Sohn einer sechsten, die dasselbe Traumgesicht hatte, wurde ein flüchtiger Sklave; denn die Schlange geht nicht in gerader Richtung. Die Mutter aber war eine Sklavin. Der Sohn einer siebenten, die dasselbe Traumgesicht schaute, wurde gelähmt; die Schlange nämlich benutzt den ganzen Körper zum Vorwärtskommen wie auch gelähmte Menschen. Als die Mutter dieses Traumgesicht hatte, war sie krank. Folgerichtig konnte ein während der Krankheit empfangenes und ausgetragenes Kind nicht einen normalen Gang behalten.“
: „Eine schwangere Frau träumte, sie habe eine Schlange [in der Übersetzung: ein Drache, GW] geboren. Der Sohn, den sie zur Welt brachte, wurde ein sehr guter und berühmter Redner; denn eine Schlange hat wie ein Redner eine zweischneidige Zunge. Freilich war das eine reiche Frau, und der Reichtum ist ein Hilfsmittel der Bildung. Eine andere hatte dasselbe Traumgesicht, und der von ihr geborene Sohn wurde Oberpriester; denn heilig ist die Schlange und heilig auch der in die Mysterien Eingeweihte. Diesmal war die Träumende die Gattin eines Priesters. Eine dritte sah ebenfalls dieses Traumgesicht, der von ihr geborene Sohn wurde ein hervorragender Weissager, denn die Schlange ist dem Apollon, dem besten aller Weissager, heilig. Diese Frau war die Tochter eines Weissagers. Ebenso sah eine vierte dieses Traumgesicht. Ihr Sohn wurde ein zügelloser und frecher Mensch, der viele Frauen in der Stadt verführte; denn eine Schlange schleicht durch die engsten Spalten und versucht, von Beobachtern verborgen zu bleiben. Auch die Mutter war schon ein ziemlich liederliches Weib, das es gerne mit den Männern trieb. Der Sohn einer fünften, die dasselbe Traumgesicht sah, wurde bei einem Raubüberfall ergriffen und geköpft; denn auch die Schlange wird, wenn sie gefangen wird, auf den Kopf geschlagen und stirbt so. Es war aber auch die Mutter nicht gerade vorbildlich. Der Sohn einer sechsten, die dasselbe Traumgesicht hatte, wurde ein flüchtiger Sklave; denn die Schlange geht nicht in gerader Richtung. Die Mutter aber war eine Sklavin. Der Sohn einer siebenten, die dasselbe Traumgesicht schaute, wurde gelähmt; die Schlange nämlich benutzt den ganzen Körper zum Vorwärtskommen wie auch gelähmte Menschen. Als die Mutter dieses Traumgesicht hatte, war sie krank. Folgerichtig konnte ein während der Krankheit empfangenes und ausgetragenes Kind nicht einen normalen Gang behalten.“