"Un chien andalou" (Luis Buñuel): Unterschied zwischen den Versionen
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! style="text-align: center;" colspan="2" align="center"|Filmdaten | ! style="text-align: center;" colspan="2" align="center"|Filmdaten | ||
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| width="50%"|Deutscher Titel | | width="50%"|Deutscher Titel | ||
| width="50%"| | | width="50%"|Ein andalusischer Hund | ||
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| style="text-align: left;" colspan="2" align="center"|* Sandra Milo: Carla | | style="text-align: left;" colspan="2" align="center"|* Sandra Milo: Carla | ||
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===Surrealismus und Traum=== | ===Surrealismus und Traum=== | ||
Im Jahre 1915 – gut ein Jahrzehnt vor der offiziellen 'Gründung' der surrealistischen Künstlergemeinschaft – fasst der Wiener 'Übervater' Sigmund Freud (1856-1939) seine Theorie vom Unbewussten zusammen. Er geht davon aus, dass | Im Jahre 1915 – gut ein Jahrzehnt vor der offiziellen 'Gründung' der surrealistischen Künstlergemeinschaft – fasst der Wiener 'Übervater' Sigmund Freud (1856-1939) seine Theorie vom Unbewussten zusammen. Er geht davon aus, dass | ||
: "ein psychischer Akt im allgemeinen zwei Zustandsphasen durchläuft, zwischen welche eine Art Prüfung (Zensur) eingeschaltet ist. In der ersten Phase ist er unbewußt und gehört dem System ''Ubw'' an; wird er bei der Prüfung von der Zensur abgewiesen, so ist ihm der Übergang in die zweite Phase versagt; er heißt dann 'verdrängt' und muß unbewußt bleiben." (Freud 2008, 126) | : "ein psychischer Akt im allgemeinen zwei Zustandsphasen durchläuft, zwischen welche eine Art Prüfung (Zensur) eingeschaltet ist. In der ersten Phase ist er unbewußt und gehört dem System ''Ubw'' an; wird er bei der Prüfung von der Zensur abgewiesen, so ist ihm der Übergang in die zweite Phase versagt; er heißt dann 'verdrängt' und muß unbewußt bleiben." (Freud 2008, 126) | ||
Im Unbewussten befinden sich also gewissermaßen die hochindividuellen "Wunschregungen" und "Triebregungen", verdrängte Erlebnisse und traumatische Erfahrungen, die von der Zensur (ähnlich der späteren Instanz des 'Über-Ich' in seinem Strukturmodell der Psyche) zurückgehalten werden: "Es gibt in diesem System keine Negation, keinen Zweifel, keine Grade von Sicherheit." (ebd., 138) | Im Unbewussten befinden sich also gewissermaßen die hochindividuellen "Wunschregungen" und "Triebregungen", verdrängte Erlebnisse und traumatische Erfahrungen, die von der Zensur (ähnlich der späteren Instanz des 'Über-Ich' in seinem Strukturmodell der Psyche) zurückgehalten werden: "Es gibt in diesem System keine Negation, keinen Zweifel, keine Grade von Sicherheit." (ebd., 138) | ||
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: "C'est à très juste titre que Freud a fait porter sa critique sur le rêve. […] Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de ''surréalité'', si l'on peut ainsi dire. […] Le surréalisme repose sur la croyance à la réalité supérieure de certaines formes d’associations négligées jusqu’à lui, à la toute-puissance du rêve, au jeu désintéressé de la pensée." (Breton 1979: 21, 24, 36; Hervorhebung übernommen) | : "C'est à très juste titre que Freud a fait porter sa critique sur le rêve. […] Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de ''surréalité'', si l'on peut ainsi dire. […] Le surréalisme repose sur la croyance à la réalité supérieure de certaines formes d’associations négligées jusqu’à lui, à la toute-puissance du rêve, au jeu désintéressé de la pensée." (Breton 1979: 21, 24, 36; Hervorhebung übernommen) | ||
Für die (von Freud beeinflussten) Surrealisten kulminiert daher im bildmächtigen Traum die Macht des Unbewussten, wodurch irrationale Geschichten und hochsymbolische Bilder entstehen, die im Wachzustand so nicht zu erreichen wären. | Für die (von Freud beeinflussten) Surrealisten kulminiert daher im bildmächtigen Traum die Macht des Unbewussten, wodurch irrationale Geschichten und hochsymbolische Bilder entstehen, die im Wachzustand so nicht zu erreichen wären. | ||
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: "Le cinéma constitue donc une hallucination consciente et utilise cette fusion du rêve et de l’état conscient que le surréalisme voudrait voir réalisée dans le domaine littéraire. Ces images mouvantes nous hallucinent, mais en nous laissant une conscience confuse de notre personnalité et en nous permettant d’évoquer, si c’est nécessaire, les disponibilités de notre mémoire." (Goudal 1925: 350) | : "Le cinéma constitue donc une hallucination consciente et utilise cette fusion du rêve et de l’état conscient que le surréalisme voudrait voir réalisée dans le domaine littéraire. Ces images mouvantes nous hallucinent, mais en nous laissant une conscience confuse de notre personnalité et en nous permettant d’évoquer, si c’est nécessaire, les disponibilités de notre mémoire." (Goudal 1925: 350) | ||
==''Un chien andalou'' (1929)== | ==''Un chien andalou'' (1929)== | ||
Der experimentelle Kurzfilm ''Un chien andalou'' – uraufgeführt am 6. Juni 1929 in Paris – stellt nun ein spannendes Paradox in einer Filmgeschichte des Traums dar. Einerseits findet sich in dem schwarz-weißen Stummfilm keine explizite Traumszene: Im Gegensatz zum kurzen Traum des Feuerwehrmanns zuvor, als 'Gedankenblase' montiert, gibt es in ''Un chien andalou'' keine solch klare Markierung – die Deutung von Buñuels und Dalís Film als ein Traum ist letztlich eine Interpretation, wenn auch eine Lesart, die sich in der Forschungsliteratur sehr häufig findet, und es schon eher verwundert, wenn dieser Film ausgespart wird (vgl. etwa Koebner 2018). Doch gibt es andererseits gute Gründe, den Film insgesamt aufgrund der "narrativen Kombinatorik der Bilder und Handlungsepisoden" (Kreuzer 2014: 623) als "bildliche Metaphorisierung der Traumarbeit selbst" (Jaspers 2009: 131f.) zu verstehen und daher als filmische Traumdarstellung zu verstehen. | Der experimentelle Kurzfilm ''Un chien andalou'' – uraufgeführt am 6. Juni 1929 in Paris – stellt nun ein spannendes Paradox in einer Filmgeschichte des Traums dar. Einerseits findet sich in dem schwarz-weißen Stummfilm keine explizite Traumszene: Im Gegensatz zum kurzen Traum des Feuerwehrmanns zuvor, als 'Gedankenblase' montiert, gibt es in ''Un chien andalou'' keine solch klare Markierung – die Deutung von Buñuels und Dalís Film als ein Traum ist letztlich eine Interpretation, wenn auch eine Lesart, die sich in der Forschungsliteratur sehr häufig findet, und es schon eher verwundert, wenn dieser Film ausgespart wird (vgl. etwa Koebner 2018). Doch gibt es andererseits gute Gründe, den Film insgesamt aufgrund der "narrativen Kombinatorik der Bilder und Handlungsepisoden" (Kreuzer 2014: 623) als "bildliche Metaphorisierung der Traumarbeit selbst" (Jaspers 2009: 131f.) zu verstehen und daher als filmische Traumdarstellung zu verstehen. | ||
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Vielmehr solle der Film aus möglichst vielen, einzelnen hochsymbolischen Bildern bestehen – damit lässt sich zwar ''Un chien andalou'' in einzelne Erzählstränge aufteilen und es gibt durchaus Figuren und Objekte, die mehrfach auftauchen, doch insgesamt bleibt eine kohärente Handlungsstruktur aus. | Vielmehr solle der Film aus möglichst vielen, einzelnen hochsymbolischen Bildern bestehen – damit lässt sich zwar ''Un chien andalou'' in einzelne Erzählstränge aufteilen und es gibt durchaus Figuren und Objekte, die mehrfach auftauchen, doch insgesamt bleibt eine kohärente Handlungsstruktur aus. | ||
[[Datei:ChienAndalou_Einstellungen.png|thumb|right|Szenenfolge]] | [[Datei:ChienAndalou_Einstellungen.png|thumb|right|300px|Szenenfolge]] | ||
Dies zeigt sich auch an der generellen Filmästhetik, denn der etwas mehr als 15 Minuten lange Film (dies ist letztlich abhängig von der Wiedergabegeschwindigkeit der etwa 430 Meter langen Filmrolle) besteht, inklusive der Zwischentitel zu Beginn, aus 300 Einstellungen. Dies ist angesichts der überschaubaren Spielzeit eine durchaus hohe Zahl und bedeutete eben auch, dass kaum mit Kameraschwenks gearbeitet wird und stattdessen vielmehr Schnitte zu einer anderen Einstellung erfolgen. Sehr häufig wird dabei das Montageprinzip von Schnitt und Gegenschnitt verwendet, beispielsweise gleich zu Beginn des Films: Zweimal folgt auf die Großaufnahme eines an einer Türe geschliffenen Rasiermessers die Nahaufnahme eines rauchenden Mannes (Einstellungen 7–10). | Dies zeigt sich auch an der generellen Filmästhetik, denn der etwas mehr als 15 Minuten lange Film (dies ist letztlich abhängig von der Wiedergabegeschwindigkeit der etwa 430 Meter langen Filmrolle) besteht, inklusive der Zwischentitel zu Beginn, aus 300 Einstellungen. Dies ist angesichts der überschaubaren Spielzeit eine durchaus hohe Zahl und bedeutete eben auch, dass kaum mit Kameraschwenks gearbeitet wird und stattdessen vielmehr Schnitte zu einer anderen Einstellung erfolgen. Sehr häufig wird dabei das Montageprinzip von Schnitt und Gegenschnitt verwendet, beispielsweise gleich zu Beginn des Films: Zweimal folgt auf die Großaufnahme eines an einer Türe geschliffenen Rasiermessers die Nahaufnahme eines rauchenden Mannes (Einstellungen 7–10). | ||
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Der Film – und das später als kurzer Prosatext veröffentlichte Drehbuch (Buñuel/Dalí 1974) – lassen sich in zehn Handlungsepisoden unterteilen: | Der Film – und das später als kurzer Prosatext veröffentlichte Drehbuch (Buñuel/Dalí 1974) – lassen sich in zehn Handlungsepisoden unterteilen: | ||
[[Datei:ChienAndalou_Aufbau.png|thumb|right|Szenenfolge und Handlungsepisoden]] | [[Datei:ChienAndalou_Aufbau.png|thumb|right|300px|Szenenfolge und Handlungsepisoden]] | ||
: Zwischentitel: "il était und fois…" (Einstellung 6) / "Es war einmal…" (Buñuel/Dalí 1974: 91) | : Zwischentitel: "il était und fois…" (Einstellung 6) / "Es war einmal…" (Buñuel/Dalí 1974: 91) | ||
: (1) Ein rauchender Mann schleift ein Rasiermesser an der Balkontüre und testet dessen Schärfe am Daumen; vom Balkon aus beobachtet er am Mond vorbeiziehende Wolken; eine Hand hält das Auge einer Frau auf und schneidet (wie die Wolken durch den Mond) über die Pupille | : (1) Ein rauchender Mann schleift ein Rasiermesser an der Balkontüre und testet dessen Schärfe am Daumen; vom Balkon aus beobachtet er am Mond vorbeiziehende Wolken; eine Hand hält das Auge einer Frau auf und schneidet (wie die Wolken durch den Mond) über die Pupille | ||
: Zwischentitel: "huit ans après." (Einstellung 19) / "Acht Jahre später" (Buñuel/Dalí 1974: 91) | : Zwischentitel: "huit ans après." (Einstellung 19) / "Acht Jahre später" (Buñuel/Dalí 1974: 91) | ||
: (2) Ein junger Mann im Nonnenhabit und mit einer Holzbox (Großaufnahme 28) um den Hals fährt auf dem Fahrrad durch die Straße; offenbar zeitgleich schreckt eine lesende Frau auf (in ihrem Buch findet sich das Vermeer-Gemälde "De kantwerkster" von 1669/70) und blickt aus dem Fenster ihrer Wohnung, wo der Fahrradfahrer soeben plötzlich umfällt und liegen bleibt (Einstellung 38); sie tritt auf die Straße und küsst den Mann (Einstellung 48); zurück im Zimmer öffnet sie die Holzbox und ordnet den Nonnenhabit auf dem Bett an | : (2) Ein junger Mann im Nonnenhabit und mit einer Holzbox (Großaufnahme 28) um den Hals fährt auf dem Fahrrad durch die Straße; offenbar zeitgleich schreckt eine lesende Frau auf (in ihrem Buch findet sich das Vermeer-Gemälde "De kantwerkster" von 1669/70) und blickt aus dem Fenster ihrer Wohnung, wo der Fahrradfahrer soeben plötzlich umfällt und liegen bleibt (Einstellung 38); sie tritt auf die Straße und küsst den Mann (Einstellung 48); zurück im Zimmer öffnet sie die Holzbox und ordnet den Nonnenhabit auf dem Bett an | ||
: (3) Plötzlich steht der offenbar gleiche junge Mann im Zimmer und betrachtet seine Hand, aus der plötzlich Ameisen herauskriechen (Einstellung 63); Überblendung zum Achselhaar einer am Strand liegenden Frau (Einstellung 66) und schließlich einem Seeigel (Einstellung 67) | : (3) Plötzlich steht der offenbar gleiche junge Mann im Zimmer und betrachtet seine Hand, aus der plötzlich Ameisen herauskriechen (Einstellung 63); Überblendung zum Achselhaar einer am Strand liegenden Frau (Einstellung 66) und schließlich einem Seeigel (Einstellung 67) | ||
: (4) Überblendung zu einer Frau, die auf der Straße steht und eine abgetrennte menschliche Hand mit einem Stock bewegt, beobachtet von Schaulustigen auf der Straße und einem Paar am Wohnungsfenster; ein Polizist spricht die Frau an, legt die Hand in die Holzbox (Einstellung 85) und überreicht sie der Frau; die Menschenmenge löst sich auf, und die Frau bleibt alleine auf der Straße zurück, während Autos an ihr vorbeirasen; das Paar am Fenster beobachtet, wie sie überfahren wird, und sich erneut Menschen um sie versammeln (Einstellung 105) | : (4) Überblendung zu einer Frau, die auf der Straße steht und eine abgetrennte menschliche Hand mit einem Stock bewegt, beobachtet von Schaulustigen auf der Straße und einem Paar am Wohnungsfenster; ein Polizist spricht die Frau an, legt die Hand in die Holzbox (Einstellung 85) und überreicht sie der Frau; die Menschenmenge löst sich auf, und die Frau bleibt alleine auf der Straße zurück, während Autos an ihr vorbeirasen; das Paar am Fenster beobachtet, wie sie überfahren wird, und sich erneut Menschen um sie versammeln (Einstellung 105) | ||
: (5) Das Paar in der Wohnung hat den Vorfall beobachtet; plötzlich bedrängt der Mann die Frau, die erschrocken zurückweicht; er fasst ihr an die Brüste (in einer Überblenden werden diese erst unbekleidet (Einstellung 121) und dann zu nackten Pobacken (Einstellung 125)); die Frau verschanzt sich in einer Zimmerecke, während der Mann plötzlich zwei Seile vom Boden aufhebt, an denen "zwei Brüder der Armenschule" (Buñuel/Dalí 1974: 94) sowie zwei Flügel mit Eselskadavern hängen, und diese unter großen Anstrengungen in die Zimmerecke zieht; die Frau flüchtet durch eine Türe, kann diese jedoch nicht schließen, da der Arm des Mannes (mit einer Hand voller Ameisen) diese blockiert (Einstellung 167); in diesem Nebenzimmer liegt plötzlich der junge Mann im Nonnenhabit und mit der Holzbox um den Hals | : (5) Das Paar in der Wohnung hat den Vorfall beobachtet; plötzlich bedrängt der Mann die Frau, die erschrocken zurückweicht; er fasst ihr an die Brüste (in einer Überblenden werden diese erst unbekleidet (Einstellung 121) und dann zu nackten Pobacken (Einstellung 125)); die Frau verschanzt sich in einer Zimmerecke, während der Mann plötzlich zwei Seile vom Boden aufhebt, an denen "zwei Brüder der Armenschule" (Buñuel/Dalí 1974: 94) sowie zwei Flügel mit Eselskadavern hängen, und diese unter großen Anstrengungen in die Zimmerecke zieht; die Frau flüchtet durch eine Türe, kann diese jedoch nicht schließen, da der Arm des Mannes (mit einer Hand voller Ameisen) diese blockiert (Einstellung 167); in diesem Nebenzimmer liegt plötzlich der junge Mann im Nonnenhabit und mit der Holzbox um den Hals | ||
: Zwischentitel: "vers trois heures du matin…" (Einstellung 177) / "Gegen drei Uhr morgens" (Buñuel/Dalí 1974: 95) | : Zwischentitel: "vers trois heures du matin…" (Einstellung 177) / "Gegen drei Uhr morgens" (Buñuel/Dalí 1974: 95) | ||
: (6) Ein Mann mit Hut klingelt an der Haustüre (das Klingeln wird durch einen Cocktail-Shaker ersetzt) und stürmt zum jungen Mann im Bett; er schreit diesen an, schlägt und schüttelt ihn, und nimmt ihm schließlich Nonnenhabit und Holzbox ab, die er aus dem Fenster wirft; der Mann mit Hut (immer nur von hinten zu sehen) schickt ihn in die gleiche Zimmerecke, in der sich die Frau zuvor verschanzt hatte, wirft seinen Hut weg und dreht sich zur Kamera um | : (6) Ein Mann mit Hut klingelt an der Haustüre (das Klingeln wird durch einen Cocktail-Shaker ersetzt) und stürmt zum jungen Mann im Bett; er schreit diesen an, schlägt und schüttelt ihn, und nimmt ihm schließlich Nonnenhabit und Holzbox ab, die er aus dem Fenster wirft; der Mann mit Hut (immer nur von hinten zu sehen) schickt ihn in die gleiche Zimmerecke, in der sich die Frau zuvor verschanzt hatte, wirft seinen Hut weg und dreht sich zur Kamera um | ||
: Zwischentitel: "seize ans avant" (Einstellung 215) / "Vor sechzehn Jahren" (Buñuel/Dalí 1974: 95) | : Zwischentitel: "seize ans avant" (Einstellung 215) / "Vor sechzehn Jahren" (Buñuel/Dalí 1974: 95) | ||
: (7) Der Mann (nun ohne Hut) geht in Zeitlupe auf die Kamera zu, nimmt Bücher von einem Schreibpult in der Mitte des Raums und gibt sie dem jungen Mann; als er aus dem Zimmer gehen möchte, verwandeln sich die Bücher zu Pistolen, und der junge Mann schießt mehrfach auf 'den Neuen' (Buñuel/Dalí 1974: 95); getroffen stürzt der Mann auf den Rücken einer unbekleideten Frau in einem Wald und bleibt auf dem Boden liegen; vier Männer kommen herbei und untersuchen den Körper; der Leichenzug wird von zwei weiteren Männern begleitet | : (7) Der Mann (nun ohne Hut) geht in Zeitlupe auf die Kamera zu, nimmt Bücher von einem Schreibpult in der Mitte des Raums und gibt sie dem jungen Mann; als er aus dem Zimmer gehen möchte, verwandeln sich die Bücher zu Pistolen, und der junge Mann schießt mehrfach auf 'den Neuen' (Buñuel/Dalí 1974: 95); getroffen stürzt der Mann auf den Rücken einer unbekleideten Frau in einem Wald und bleibt auf dem Boden liegen; vier Männer kommen herbei und untersuchen den Körper; der Leichenzug wird von zwei weiteren Männern begleitet | ||
: (8) Eine junge Frau betritt das Zimmer und sieht einen Nachtfalter (Einstellung 261) mit einem Totenkopf-Symbol an der Wand (Einstellung 268); ein Mann wischt sich mit der Hand den Mund aus dem Gesicht (Einstellung 271); die Frau beginnt sich daraufhin übertrieben mit Lippenstift zu schminken; beim Mann wachsen plötzlich Haare über der Stelle des vorherigen Mundes, während der Frau die Achselhaare nun fehlen (Einstellung 277); sie streckt dem Mann die Zunge heraus und verlässt das Zimmer | : (8) Eine junge Frau betritt das Zimmer und sieht einen Nachtfalter (Einstellung 261) mit einem Totenkopf-Symbol an der Wand (Einstellung 268); ein Mann wischt sich mit der Hand den Mund aus dem Gesicht (Einstellung 271); die Frau beginnt sich daraufhin übertrieben mit Lippenstift zu schminken; beim Mann wachsen plötzlich Haare über der Stelle des vorherigen Mundes, während der Frau die Achselhaare nun fehlen (Einstellung 277); sie streckt dem Mann die Zunge heraus und verlässt das Zimmer | ||
: (9) Vor der Türe weht ihr starker Wind entgegen; die Frau sieht einen weiteren Mann an der Meeresbrandung stehen (Einstellung 285) und läuft zu ihm hin; er zeigt ihr die Zeit auf seiner Uhr, die sie ausschlägt (Einstellung 290); die Frau küsst ihn, und beide spazieren am steinigen Strand entlang; im Matsch liegt die zerbrochene Holzbox, die der Mann ins Meer kickt, und der Nonnenhabit, die er wegwirft; beide gehen gemeinsam am Strand weiter | : (9) Vor der Türe weht ihr starker Wind entgegen; die Frau sieht einen weiteren Mann an der Meeresbrandung stehen (Einstellung 285) und läuft zu ihm hin; er zeigt ihr die Zeit auf seiner Uhr, die sie ausschlägt (Einstellung 290); die Frau küsst ihn, und beide spazieren am steinigen Strand entlang; im Matsch liegt die zerbrochene Holzbox, die der Mann ins Meer kickt, und der Nonnenhabit, die er wegwirft; beide gehen gemeinsam am Strand weiter | ||
: Zwischentitel: "au pintemps…" (Einstellung 299) / "Mit dem Frühling" (Buñuel/Dalí 1974: 97) | : Zwischentitel: "au pintemps…" (Einstellung 299) / "Mit dem Frühling" (Buñuel/Dalí 1974: 97) | ||
: (10) das Paar liegt, bis zum Oberkörper mit Sand und Schlick bedeckt, offenbar tot am Strand | : (10) das Paar liegt, bis zum Oberkörper mit Sand und Schlick bedeckt, offenbar tot am Strand | ||
===Traumsymbolik=== | ===Traumsymbolik=== | ||
Mit seiner Narration lehnt sich ''Un chien andalou'' damit tatsächlich an die Freud'sche Theorie an, nachdem sich der Traum als irrationales nächtliches Erleben zwar prinzipiell nacherzählen lässt, dabei aber weniger über eine stringente Handlung verfügt und sich vielmehr aus bruchstückhaften Fragmenten zusammensetzt, die teilweise überraschende Zusammenhänge eröffnen. Denn im Gegensatz zu einer 'klassischen' (Film-)Erzählung, die normalerweise aus der kausal aufeinander aufbauenden Abfolge verschiedener Handlungselemente besteht, die sich dadurch zu einer nachvollziehbaren Geschichte anordnen, fehlt den Träumen zumeist dieser logische Zusammenhang. | Mit seiner Narration lehnt sich ''Un chien andalou'' damit tatsächlich an die Freud'sche Theorie an, nachdem sich der Traum als irrationales nächtliches Erleben zwar prinzipiell nacherzählen lässt, dabei aber weniger über eine stringente Handlung verfügt und sich vielmehr aus bruchstückhaften Fragmenten zusammensetzt, die teilweise überraschende Zusammenhänge eröffnen. Denn im Gegensatz zu einer 'klassischen' (Film-)Erzählung, die normalerweise aus der kausal aufeinander aufbauenden Abfolge verschiedener Handlungselemente besteht, die sich dadurch zu einer nachvollziehbaren Geschichte anordnen, fehlt den Träumen zumeist dieser logische Zusammenhang. | ||
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: "die innere Realität sei der äußeren unendlich überlegen. Folglich ist es ihr [gemeint sind die surrealistischen Filmeschaffenden] dringlichstes Vorhaben, den Strom inneren Lebens und all das, was er an Instinkten, Träumen, Visionen und dergleichen mit sich führt, ohne die Hilfe einer Story oder irgendeines anderen rationalen Kunstgriffs sichtbar zu machen." (ebd.: 254) | : "die innere Realität sei der äußeren unendlich überlegen. Folglich ist es ihr [gemeint sind die surrealistischen Filmeschaffenden] dringlichstes Vorhaben, den Strom inneren Lebens und all das, was er an Instinkten, Träumen, Visionen und dergleichen mit sich führt, ohne die Hilfe einer Story oder irgendeines anderen rationalen Kunstgriffs sichtbar zu machen." (ebd.: 254) | ||
Interessanterweise bleibt auch die Tricktechnik im Vergleich zu den parallelen Experimenten von Epstein eher zurückhaltend und findet nur mit Doppelbelichtungen und Überblendungen, beispielsweise wenn die Rückansicht des Fahrradfahrers zwischen zwei Einstellungen (Einstellung 25/26) überleitet, und im Verfahren der Stop-Motion-Technik ihre Anwendung, als sich die Kleidung im Bett plötzlich verändert (Einstellung 53/55). | Interessanterweise bleibt auch die Tricktechnik im Vergleich zu den parallelen Experimenten von Epstein eher zurückhaltend und findet nur mit Doppelbelichtungen und Überblendungen, beispielsweise wenn die Rückansicht des Fahrradfahrers zwischen zwei Einstellungen (Einstellung 25/26) überleitet, und im Verfahren der Stop-Motion-Technik ihre Anwendung, als sich die Kleidung im Bett plötzlich verändert (Einstellung 53/55). | ||
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Jonas Nesselhauf]]</div> | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Jonas Nesselhauf]]</div> | ||
==Literatur== | ==Literatur== | ||
===Film=== | ===Film=== | ||
* Un chien andalou. Regie: Luis Buñuel. Drehbuch: Luis Buñuel und Salvador Dalí. Kamera: Albert Duverger. FR 1929. | * Un chien andalou. Regie: Luis Buñuel. Drehbuch: Luis Buñuel und Salvador Dalí. Kamera: Albert Duverger. FR 1929. | ||
===Drehbuch=== | ===Drehbuch=== | ||
* Buñuel, Luis und Salvador Dalí: Ein andalusischer Hund. In: Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann (Hg.): Salvador Dalí. Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften. München: Rogner & Bernhard 1974, S. 91–97. | * Buñuel, Luis und Salvador Dalí: Ein andalusischer Hund. In: Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann (Hg.): Salvador Dalí. Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit. Gesammelte Schriften. München: Rogner & Bernhard 1974, S. 91–97. | ||
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* Goudal, Jean: Surréalisme et cinéma. In: La Revue hebdomadaire 34.8 (1925), 343–357. | * Goudal, Jean: Surréalisme et cinéma. In: La Revue hebdomadaire 34.8 (1925), 343–357. | ||
* Lautréamont [d.i. Isidore Lucien Ducasse]: Les chants de Maldoror. Poésies I et II. Hg. von ##. Paris: Flammarion 1990. | * Lautréamont [d.i. Isidore Lucien Ducasse]: Les chants de Maldoror. Poésies I et II. Hg. von ##. Paris: Flammarion 1990. | ||