"Die Brüder Löwenherz" (Lindgren, Astrid): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 18. Oktober 2020, 06:18 Uhr
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: Was konnte ich schon tun, niemand war so hilflos wie ich! Ich konnte nur in mein Bett zurückkriechen, und dort lag ich dann zitternd und fühlte mich so verloren, klein und verängstigt und einsam, so einsam wie niemand sonst auf der Welt“ (BL 64). | : Was konnte ich schon tun, niemand war so hilflos wie ich! Ich konnte nur in mein Bett zurückkriechen, und dort lag ich dann zitternd und fühlte mich so verloren, klein und verängstigt und einsam, so einsam wie niemand sonst auf der Welt“ (BL 64). | ||
Das Bett, an das der Junge sich gefesselt fühlt, erinnert an das Bild des kranken Jungen, dessen Existenz darauf beschränkt war, passiv auf den Tod zu warten. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit passt eigentlich nicht zu dem in Nangijala erstarkten Karl Löwenherz und verweist zweifellos auf die Ausgangssituation in der realen Welt. Die Abenteuer in Nangijala entpuppen sich so vor allem als eine mentale Vorbereitung auf den Tod. Die wiederholten Verweise auf die reale Lebenssituation des Protagonisten stärken | Das Bett, an das der Junge sich gefesselt fühlt, erinnert an das Bild des kranken Jungen, dessen Existenz darauf beschränkt war, passiv auf den Tod zu warten. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit passt eigentlich nicht zu dem in Nangijala erstarkten Karl Löwenherz und verweist zweifellos auf die Ausgangssituation in der realen Welt. Die Abenteuer in Nangijala entpuppen sich so vor allem als eine mentale Vorbereitung auf den Tod. Die wiederholten Verweise auf die reale Lebenssituation des Protagonisten stärken die Interpretation der Geschichte als reine Traumerfahrung. | ||
===Der Traum im Traum=== | ===Der Traum im Traum=== | ||
Zusätzlich zu der Möglichkeit, die gesamte Geschichte als einen Fiebertraum des Protagonisten zu lesen, baut A. Lindgren auch einen eindeutig markierten Alptraum in ihre Erzählung ein. Wie bereits erwähnt träumt Krümel, allein im Kirschtal zurückgeblieben, von seinem Bruder Jonathan, der ihn verzweifelt um Hilfe anruft: | Zusätzlich zu der Möglichkeit, die gesamte Geschichte als einen Fiebertraum des Protagonisten zu lesen, baut A. Lindgren auch einen eindeutig markierten Alptraum in ihre Erzählung ein. Wie bereits erwähnt, träumt Krümel, allein im Kirschtal zurückgeblieben, von seinem Bruder Jonathan, der ihn verzweifelt um Hilfe anruft: | ||
: Ich fror, als ich auf meine Schlafbank kroch, dennoch schlief ich bald ein. Und ich träumte von Jonathan. Ein Traum so grauenvoll, dass ich davon aufwachte. | : Ich fror, als ich auf meine Schlafbank kroch, dennoch schlief ich bald ein. Und ich träumte von Jonathan. Ein Traum so grauenvoll, dass ich davon aufwachte. | ||
: „Ja, Jonathan“, schrie ich. „Ich komme!“ schrie ich und stürzte aus dem Bett. Die Dunkelheit ringsum schien widerzuhallen von Schreien, von Jonathans Schreien! Er hatte im Traum nach mir gerufen, er brauchte Hilfe. Ich wusste es (BL 63 f.). | : „Ja, Jonathan“, schrie ich. „Ich komme!“ schrie ich und stürzte aus dem Bett. Die Dunkelheit ringsum schien widerzuhallen von Schreien, von Jonathans Schreien! Er hatte im Traum nach mir gerufen, er brauchte Hilfe. Ich wusste es (BL 63 f.). | ||
Als die beiden Brüder wieder vereint sind, wird klar, dass es sich bei Krümels Traum nicht um einen einfachen Angsttraum gehandelt hat, sondern dass Jonathans Verzweiflung, als er dem Ungeheuer Katla zum ersten Mal | Als die beiden Brüder wieder vereint sind, wird klar, dass es sich bei Krümels Traum nicht um einen einfachen Angsttraum gehandelt hat, sondern dass Jonathans Verzweiflung, als er dem Ungeheuer Katla zum ersten Mal begegnete, so groß war, dass Krümel diese im Schlaf spüren konnte (BL 105) Je nach Lesart kann der Traum somit entweder als Vision oder als Traum im Traum verstanden werden. Versteht man die Abenteuer in Nangijala als ein Leben nach dem Tod, gesteht man den Brüdern tatsächlich eine übersinnliche Verbindung zu. Geht man hingegen davon aus, dass die ganze Geschichte nur in Krümels Delirium entsteht, verliert der visionäre Charakter dieses Traums im Traum an Bedeutung. | ||
===Nangijala als universelles Traumreich=== | ===Nangijala als universelles Traumreich=== | ||
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: Denn hier gab es Steilhänge und Abgründe, dass einem schwindelte vor so viel schrecklicher Schönheit. Es war, als reite man in einem Traum, ja, diese ganze Mondscheinlandschaft kann es nur in einem schönen und wilden Traum geben, dachte ich und sagte zu Fjalar: „Wer, glaubst du, träumt dies wohl? Ich jedenfalls nicht. Es muss jemand anders sein, der sich so übernatürlich Schreckliches und Schönes zusammengeträumt hat“ (BL 78). | : Denn hier gab es Steilhänge und Abgründe, dass einem schwindelte vor so viel schrecklicher Schönheit. Es war, als reite man in einem Traum, ja, diese ganze Mondscheinlandschaft kann es nur in einem schönen und wilden Traum geben, dachte ich und sagte zu Fjalar: „Wer, glaubst du, träumt dies wohl? Ich jedenfalls nicht. Es muss jemand anders sein, der sich so übernatürlich Schreckliches und Schönes zusammengeträumt hat“ (BL 78). | ||
Während die Geschichte einen klaren Gegensatz zwischen Gut und Böse entwirft, | Während die Geschichte einen klaren Gegensatz zwischen Gut und Böse entwirft, schwankt die von Krümel beschriebene Atmosphäre zwischen erhabener Schönheit und bedrohlichem Schrecken. Noch wichtiger ist, dass Krümel sich dabei von der Traumerfahrung zu distanzieren scheint, was auf eine Unterscheidung zwischen dem bewussten Selbst und dem unbewussten Es hindeutet. Später in der Geschichte, als die beiden Brüder aufbrechen, um Orwar, den Anführer der Rebellen, zu befreien, verweist Krümel erneut auf die traumhafte Dimensions Nangijalas: | ||
: Es war ein fürchterlicher Platz, schrecklich und schön wie kein anderer im Himmel oder auf Erden, glaub ich. Die Berge und der Fluss und der Wasserfall, alles war so riesig und überwältigend. Wieder war mir wie in einem Traum, und ich sagte zu Jonathan: „Glaub nicht, dass dies Wirklichkeit ist! Es muss ein Stück aus einem Urzeittraum sein, ganz bestimmt!“ (BL 164). | : Es war ein fürchterlicher Platz, schrecklich und schön wie kein anderer im Himmel oder auf Erden, glaub ich. Die Berge und der Fluss und der Wasserfall, alles war so riesig und überwältigend. Wieder war mir wie in einem Traum, und ich sagte zu Jonathan: „Glaub nicht, dass dies Wirklichkeit ist! Es muss ein Stück aus einem Urzeittraum sein, ganz bestimmt!“ (BL 164). |