"Die Brüder Löwenherz" (Lindgren, Astrid): Unterschied zwischen den Versionen

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[[Datei:Lindgren_Brueder_Loewenherz.jpg|thumb|right|''Die Brüder Löwenherz'', schwed. Erstausgabe]]
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''Die Brüder Löwenherz'' (schwedisch: ''Bröderna Lejonhjärta'') ist ein 1973 erschienener Kinder- und Jugendroman der schwedischen Autorin Astrid Lindgren (1907-2002). Er zählt,neben ''Mio, mein Mio'' (1954) zu ihren bekanntesten fantastischen Erzählungen. Das Buch beschreibt die gemeinsamen Abenteuer der Brüder Jonathan und Karl, genannt Krümel, im mittelalterlich-fantastischen Land Nanguijala, in das sie (vermutlich) nach ihrem Tod gelangen. Nach einer kurzen Zeit der Idylle, beginnt ein erbitterter Kampf gegen den Tyrannen Tengil und sein Ungeheuer Katla.
''Die Brüder Löwenherz'' (schwedisch: ''Bröderna Lejonhjärta'') ist ein 1973 erschienener Kinder- und Jugendroman der schwedischen Autorin Astrid Lindgren (1907–2002). Er zählt, neben ''Mio, mein Mio'' (1954) zu ihren bekanntesten fantastischen Erzählungen. Das Buch beschreibt die gemeinsamen Abenteuer der Brüder Jonathan und Karl, genannt Krümel, im mittelalterlich-fantastischen Land Nanguijala, in das sie (vermutlich) nach ihrem Tod gelangen. Nach einer kurzen Zeit der Idylle, beginnt ein erbitterter Kampf gegen den Tyrannen Tengil und sein Ungeheuer Katla.






==Astrid Lindgren==
==Astrid Lindgren==
Schon ihr erster, und bekanntester, Roman ''Pippi Langstrumpf'' (1945) weist, nach der "maximalistischen Definition" fantastischer Literatur - die alle Texte einschließt, in denen die Naturgesetze verletzt werden (U. Durst 2007) - fantastische Merkmale auf.<ref>Die "minimalistische Definition" setzt darüber hinaus voraus, dass es im Text einen unentschiedenen Konflikt zweier Wirklichkeitsordnungen gibt, der 'realistischen' und der 'fantastischen'.</ref> Gleichzeitig ist Astrid Lindgren vor allem für ihren bestechenden und oft kritischen Realismus bekannt, der auch in ihren fantastischen Erzählungen nicht fehlt. Eine aufmerksame Beobachtung der kindlichen Psyche, sowie ein „kritischer“ Blick auf gesellschaftliche Fragestellungen zeichnen alle ihre Texte aus. Sieglinde Geisel spricht in einem Artikel für die NZZ von einem „magischen Realismus der Kindheit“ (S. Geisel 2007). In diesem Zusammenhangt hat Astrid Lindgren auch wiederholt die Bedeutung der Fantasie für die Weltwahrnehmung und Weltgestaltung betont:
Schon ihr erster, und bekanntester, Roman ''Pippi Langstrumpf'' (1945) weist, nach der "maximalistischen Definition" fantastischer Literatur - die alle Texte einschließt, in denen die Naturgesetze verletzt werden (U. Durst 2007) - fantastische Merkmale auf.<ref>Die "minimalistische Definition" setzt darüber hinaus voraus, dass es im Text einen unentschiedenen Konflikt zweier Wirklichkeitsordnungen gibt, der 'realistischen' und der 'fantastischen'.</ref> Gleichzeitig ist Astrid Lindgren vor allem für ihren bestechenden und oft kritischen Realismus bekannt, der auch in ihren fantastischen Erzählungen nicht fehlt. Eine aufmerksame Beobachtung der kindlichen Psyche, sowie ein „kritischer“ Blick auf gesellschaftliche Fragestellungen zeichnen alle ihre Texte aus. Sieglinde Geisel spricht in einem Artikel für die NZZ von einem „magischen Realismus der Kindheit“ (S. Geisel 2007). In diesem Zusammenhang hat Astrid Lindgren auch wiederholt die Bedeutung der Fantasie für die Weltwahrnehmung und Weltgestaltung betont:


: Alles, was an Großem in der Welt geschah, vollzog sich zuerst in der Phantasie des Menschen.<ref>
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
Astrid Lindgren, Darum brauchen Kinder Bücher. Dankesrede anlässlich der Verleihung des Hans-Christian-Andersen-Preises 1958; https://www.astridlindgren.com/de/zitate.</ref>
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: <span style="color: #7b879e;">Alles, was an Großem in der Welt geschah, vollzog sich zuerst in der Phantasie des Menschen.<ref>
Astrid Lindgren, Darum brauchen Kinder Bücher. Dankesrede anlässlich der Verleihung des Hans-Christian-Andersen-Preises 1958; https://www.astridlindgren.com/de/zitate.</ref></span>
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Der Traum, gleichzeitig perfekter Zufluchtsort der kindlichen Fantasie und Konfrontationsraum des Selbst mit dem Unbewussten, spielt in Lindgrens Texten wiederholt eine Rolle. Wie ''Die Brüder Löwenherz'' weist auch Mios Reise ins Land der Ferne traumhafte Elemente auf. Zudem erwähnt Mio die tatsächlichen Alpträume, die ihn in seinem früheren Leben geprägt haben:
Der Traum, gleichzeitig perfekter Zufluchtsort der kindlichen Fantasie und Konfrontationsraum des Selbst mit dem Unbewussten, spielt in Lindgrens Texten wiederholt eine Rolle. Wie ''Die Brüder Löwenherz'' weist auch Mios Reise ins Land der Ferne traumhafte Elemente auf. Zudem erwähnt Mio die tatsächlichen Alpträume, die ihn in seinem früheren Leben geprägt haben:


: Im Traum bin ich manchmal durch dunkle Häuser gegangen, die ich nicht kannte. Unbekannte, entsetzliche Häuser mit schwarzen Zimmern, die mich umschlossen, bis ich nicht mehr atmen konnte, mit Fußböden, die sich gerade dort, wo ich gehen wollte, zu jähen Tiefen öffneten, mit Treppen, die zusammenstürzten und mich mitrissen. Aber kein Haus im Traum war so entsetzlich, so furchtbar wie Ritter Katos Burg (A. Lindgren 1955, 142).
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
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: <span style="color: #7b879e;">Im Traum bin ich manchmal durch dunkle Häuser gegangen, die ich nicht kannte. Unbekannte, entsetzliche Häuser mit schwarzen Zimmern, die mich umschlossen, bis ich nicht mehr atmen konnte, mit Fußböden, die sich gerade dort, wo ich gehen wollte, zu jähen Tiefen öffneten, mit Treppen, die zusammenstürzten und mich mitrissen. Aber kein Haus im Traum war so entsetzlich, so furchtbar wie Ritter Katos Burg (A. Lindgren 1955, 142).</span>
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Der Traum wird somit zu einer Art Parabel des Lebens. Auch in ''Ferien auf Saltkrokan'' (1964) wird der Traum zum Anstoß, über das menschliche Leben nachzudenken:
Der Traum wird somit zu einer Art Parabel des Lebens. Auch in ''Ferien auf Saltkrokan'' (1964) wird der Traum zum Anstoß, über das menschliche Leben nachzudenken:


: Im Traum läuft man manchmal und sucht. Man muss unbedingt jemanden finden. Und man hat es so eilig. Es gilt das Leben. Man läuft voller Angst dahin, sucht immer angstvoller, man findet aber nie, den man sucht. Alles ist vergeblich (A. Lindgren 2007, 320).
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: <span style="color: #7b879e;">Im Traum läuft man manchmal und sucht. Man muss unbedingt jemanden finden. Und man hat es so eilig. Es gilt das Leben. Man läuft voller Angst dahin, sucht immer angstvoller, man findet aber nie, den man sucht. Alles ist vergeblich (A. Lindgren 2007, 320).</span>
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So wird der Traum bei Astrid Lindgren nicht nur zu einem Ort, an dem die kindliche Fantasie auf besonders produktive Weise operiert, sondern ermöglicht es der Autorin auch, Probleme und Krisensituationen des menschlichen Lebens kindgerecht aufzuarbeiten. Wie in den beiden oben zitierten Ausschnitten, spielt in ''Die Brüder Löwenherz'' der Umgang mit der inneren Angst dabei eine besonders wichtige Rolle.<ref>Zum Traum in der Kinder- und Jugendliteratur im Allgemeinen vgl. U. Abraham 2016, R. Steinlein 2008.</ref>
So wird der Traum bei Astrid Lindgren nicht nur zu einem Ort, an dem die kindliche Fantasie auf besonders produktive Weise operiert, sondern ermöglicht es der Autorin auch, Probleme und Krisensituationen des menschlichen Lebens kindgerecht aufzuarbeiten. Wie in den beiden oben zitierten Ausschnitten, spielt in ''Die Brüder Löwenherz'' der Umgang mit der inneren Angst dabei eine besonders wichtige Rolle.<ref>Zum Traum in der Kinder- und Jugendliteratur im Allgemeinen vgl. U. Abraham 2016, R. Steinlein 2008.</ref>


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Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Erzählung entstehen besonders am Anfang der Geschichte, als Krümel auf seinen Tod wartet (S. Reinbold 2007, 18; E Törnqvist 1975, 18 u. 28). Weil er wiederholt zwischen Präsenz und Präteritum wechselt, bleibt die Erzählsituation unklar: Lässt uns der junge Held an seiner Geschichte teilhaben, nachdem er sie erlebt hat, also sich in Nangilima aufhält, oder entsteht die Erzählung zeitgleich zu den fieberhaften Träumen des kranken Jungen, in denen er sich Nangijala ausmalt? Gerade die Schilderung des eigenen Todes bleibt vage und kann auch als ein Einschlafen und Hinübergleiten in einen Traum gelesen werden:
Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Erzählung entstehen besonders am Anfang der Geschichte, als Krümel auf seinen Tod wartet (S. Reinbold 2007, 18; E Törnqvist 1975, 18 u. 28). Weil er wiederholt zwischen Präsenz und Präteritum wechselt, bleibt die Erzählsituation unklar: Lässt uns der junge Held an seiner Geschichte teilhaben, nachdem er sie erlebt hat, also sich in Nangilima aufhält, oder entsteht die Erzählung zeitgleich zu den fieberhaften Träumen des kranken Jungen, in denen er sich Nangijala ausmalt? Gerade die Schilderung des eigenen Todes bleibt vage und kann auch als ein Einschlafen und Hinübergleiten in einen Traum gelesen werden:


: Aber jetzt komme ich auch bald nach Nangijala. Bald, bald werde ich dorthinfliegen. Vielleicht heute Nacht. Mir ist, als könnte es heute Nacht sein. Ich will einen Zettel schreiben und ihn auf den Küchentisch legen, damit Mama ihn morgen früh findet.
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
: Und das soll auf dem Zettel stehen:
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: „Weine nicht, Mama! Wir sehen uns wieder in Nangijala!“''
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: Dann geschah es. Etwas seltsameres habe ich nie erlebt. Ganz plötzlich stand ich einfach vor der Gartenpforte und las auf dem Schild: Die Brüder Löwenherz.
: <span style="color: #7b879e;">Aber jetzt komme ich auch bald nach Nangijala. Bald, bald werde ich dorthinfliegen. Vielleicht heute Nacht. Mir ist, als könnte es heute Nacht sein. Ich will einen Zettel schreiben und ihn auf den Küchentisch legen, damit Mama ihn morgen früh findet.
: Wie kam ich dorthin? Wann flog ich? Wie konnte ich den Weg finden, ohne jemanden danach zu fragen? Das weiß ich nicht (BL 20 f.).
: <span style="color: #7b879e;">Und das soll auf dem Zettel stehen:
: <span style="color: #7b879e;">„Weine nicht, Mama! Wir sehen uns wieder in Nangijala!“''
: <span style="color: #7b879e;">Dann geschah es. Etwas Seltsameres habe ich nie erlebt. Ganz plötzlich stand ich einfach vor der Gartenpforte und las auf dem Schild: Die Brüder Löwenherz.
: <span style="color: #7b879e;">Wie kam ich dorthin? Wann flog ich? Wie konnte ich den Weg finden, ohne jemanden danach zu fragen? Das weiß ich nicht (BL 20 f.).</span>
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Wie auch beim Einschlafen ist der Moment des Übertritts von einem Bewusstseinszustand in den anderen ausgeblendet, da Krümel nicht in der Lage ist, diesen in seinem Bewusstsein genau zu situieren. Wie beim Einschlafen und Hinübergleiten in den Traumzustand brechen auch hier die bewussten Gedankenvorgänge plötzlich ab, um dann ''in medias res'' die Erzählung des Traumgeschehens beginnen zu lassen.
Wie auch beim Einschlafen ist der Moment des Übertritts von einem Bewusstseinszustand in den anderen ausgeblendet, da Krümel nicht in der Lage ist, diesen in seinem Bewusstsein genau zu situieren. Wie beim Einschlafen und Hinübergleiten in den Traumzustand brechen auch hier die bewussten Gedankenvorgänge plötzlich ab, um dann ''in medias res'' die Erzählung des Traumgeschehens beginnen zu lassen.


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Durch die unzuverlässige Erzählstrategie, eröffnet A. Lindgren der/m Lesenden die Möglichkeit, Krümels und Jonathans Abenteuer als eine Reihe von Fieberträumen zu verstehen, die Krümels tatsächlichem Tod vorangehen. Auch die Erzählung der Abenteuer in Nangijala versieht die Autorin regelmäßig mit symbolisch aufgeladenen Anzeichen für die Traumhaftigkeit der Erfahrung. In erster Linie ist hier das Auftreten des Drachenweibchens Katla von Interesse. Aus der „Urzeitnacht“ (BL 167) auftauchend, erinnert ihr plötzliches Erscheinen in der Geschichte und somit an der Oberfläche der Wirklichkeit an das Aufbrechen des Unbewussten im Bewusstsein. Somit erscheint die Figur der Katla wie eine Allegorie des Todes, ihr Auftreten als gleichbedeutend mit Krümels Angst vor dem Tod. Vom ersten Moment, als Krümel in Nangijala ankommt, hängt der Name des Monsters bedrohlich über dem Leben im Kirschtal, so wie der Tod über Krümels Leben hing. Ähnlich dem Tod reicht die bloße Aussprache des Namens aus, um die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen; wie der Tod bleibt auch Katla lange Zeit „nichts weiter als ein abscheulicher Name“ (BL 132), nämlich eine abstrakte, schwer fassbare Gefahr. Als die beiden Brüder Katla schließlich das erste Mal mit eigenen Augen sehen, sind sie wie gelähmt vor Schrecken. Jonathan ist der erste, der sie erblickt: „Ich habe Katla gesehen“ (BL 105), flüstert er, bevor es ihm die Stimme verschlägt – auf eine eingehendere Beschreibung wartet der Leser so vergebens. Als Krümel mit der gleichen Erfahrung konfrontiert wird, endet das Kapitel mit demselben Satz. So ist der Leser gezwungen, erst die Seite umzublättern, bevor er endlich eine klarere Vorstellung von diesem uralten Ungeheuer bekommt – der Tod könnte nicht weniger ungreifbar sein. Das folgende Kapitel beginnt mit den Worten:
Durch die unzuverlässige Erzählstrategie, eröffnet A. Lindgren der/m Lesenden die Möglichkeit, Krümels und Jonathans Abenteuer als eine Reihe von Fieberträumen zu verstehen, die Krümels tatsächlichem Tod vorangehen. Auch die Erzählung der Abenteuer in Nangijala versieht die Autorin regelmäßig mit symbolisch aufgeladenen Anzeichen für die Traumhaftigkeit der Erfahrung. In erster Linie ist hier das Auftreten des Drachenweibchens Katla von Interesse. Aus der „Urzeitnacht“ (BL 167) auftauchend, erinnert ihr plötzliches Erscheinen in der Geschichte und somit an der Oberfläche der Wirklichkeit an das Aufbrechen des Unbewussten im Bewusstsein. Somit erscheint die Figur der Katla wie eine Allegorie des Todes, ihr Auftreten als gleichbedeutend mit Krümels Angst vor dem Tod. Vom ersten Moment, als Krümel in Nangijala ankommt, hängt der Name des Monsters bedrohlich über dem Leben im Kirschtal, so wie der Tod über Krümels Leben hing. Ähnlich dem Tod reicht die bloße Aussprache des Namens aus, um die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen; wie der Tod bleibt auch Katla lange Zeit „nichts weiter als ein abscheulicher Name“ (BL 132), nämlich eine abstrakte, schwer fassbare Gefahr. Als die beiden Brüder Katla schließlich das erste Mal mit eigenen Augen sehen, sind sie wie gelähmt vor Schrecken. Jonathan ist der erste, der sie erblickt: „Ich habe Katla gesehen“ (BL 105), flüstert er, bevor es ihm die Stimme verschlägt – auf eine eingehendere Beschreibung wartet der Leser so vergebens. Als Krümel mit der gleichen Erfahrung konfrontiert wird, endet das Kapitel mit demselben Satz. So ist der Leser gezwungen, erst die Seite umzublättern, bevor er endlich eine klarere Vorstellung von diesem uralten Ungeheuer bekommt – der Tod könnte nicht weniger ungreifbar sein. Das folgende Kapitel beginnt mit den Worten:


: Ja, ich sah Katla, und dann weiß ich nicht mehr, was geschah. Ich sank in eine schwarze Tiefe hinab und erwachte erst wieder, als das Unwetter vorüber war und es über den Gipfeln heller zu werden begann. Ich lag mit dem Kopf in Jonathans Schoß. Der Schrecken saß wieder in mir, sobald ich mich erinnerte (BL 170.
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
Die Situation erinnert an den Beginn des Romans, als Jonathan seinen von Todesangst ergriffenen Bruder mit der Geschichte von Nangijala tröstete. Die Verweise auf die reale Welt sind so häufiger, als es zunächst scheinen mag. Am bedeutendsten ist der Moment, in dem Krümel von seinem Bruder in Not träumt – ein Traum, der so realistisch ist, dass der junge Held meint, er müsse ihm zu Hilfe eilen. Doch er fühlt sich von Angst und vor allem von einem Gefühl der Hilflosigkeit gepackt:
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: <span style="color: #7b879e;">Ja, ich sah Katla, und dann weiß ich nicht mehr, was geschah. Ich sank in eine schwarze Tiefe hinab und erwachte erst wieder, als das Unwetter vorüber war und es über den Gipfeln heller zu werden begann. Ich lag mit dem Kopf in Jonathans Schoß. Der Schrecken saß wieder in mir, sobald ich mich erinnerte (BL 170).</span>
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Die Situation erinnert an den Beginn des Romans, als Jonathan seinen von Todesangst ergriffenen Bruder mit der Geschichte von Nangijala tröstet. Die Verweise auf die reale Welt sind häufiger, als es zunächst scheinen mag. Am bedeutendsten ist der Moment, in dem Krümel von seinem Bruder in Not träumt – ein Traum, der so realistisch ist, dass der junge Held meint, er müsse ihm zu Hilfe eilen. Doch er fühlt sich von Angst und vor allem von einem Gefühl der Hilflosigkeit gepackt:


: Was konnte ich schon tun, niemand war so hilflos wie ich! Ich konnte nur in mein Bett zurückkriechen, und dort lag ich dann zitternd und fühlte mich so verloren, klein und verängstigt und einsam, so einsam wie niemand sonst auf der Welt“ (BL 64).
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: <span style="color: #7b879e;">Was konnte ich schon tun, niemand war so hilflos wie ich! Ich konnte nur in mein Bett zurückkriechen, und dort lag ich dann zitternd und fühlte mich so verloren, klein und verängstigt und einsam, so einsam wie niemand sonst auf der Welt“ (BL 64).</span>
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Das Bett, an das der Junge sich gefesselt fühlt, erinnert an das Bild des kranken Jungen, dessen Existenz darauf beschränkt war, passiv auf den Tod zu warten. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit passt eigentlich nicht zu dem in Nangijala erstarkten Karl Löwenherz und verweist zweifellos auf die Ausgangssituation in der realen Welt. Die Abenteuer in Nangijala entpuppen sich so vor allem als eine mentale Vorbereitung auf den Tod. Die wiederholten Verweise auf die reale Lebenssituation des Protagonisten stärken die Interpretation der Geschichte als reine Traumerfahrung.
Das Bett, an das der Junge sich gefesselt fühlt, erinnert an das Bild des kranken Jungen, dessen Existenz darauf beschränkt war, passiv auf den Tod zu warten. Dieses Gefühl der Machtlosigkeit passt eigentlich nicht zu dem in Nangijala erstarkten Karl Löwenherz und verweist zweifellos auf die Ausgangssituation in der realen Welt. Die Abenteuer in Nangijala entpuppen sich so vor allem als eine mentale Vorbereitung auf den Tod. Die wiederholten Verweise auf die reale Lebenssituation des Protagonisten stärken die Interpretation der Geschichte als reine Traumerfahrung.


Zeile 56: Zeile 80:
Zusätzlich zu der Möglichkeit, die gesamte Geschichte als einen Fiebertraum des Protagonisten zu lesen, baut A. Lindgren auch einen eindeutig markierten Alptraum in ihre Erzählung ein. Wie bereits erwähnt, träumt Krümel, allein im Kirschtal zurückgeblieben, von seinem Bruder Jonathan, der ihn verzweifelt um Hilfe anruft:
Zusätzlich zu der Möglichkeit, die gesamte Geschichte als einen Fiebertraum des Protagonisten zu lesen, baut A. Lindgren auch einen eindeutig markierten Alptraum in ihre Erzählung ein. Wie bereits erwähnt, träumt Krümel, allein im Kirschtal zurückgeblieben, von seinem Bruder Jonathan, der ihn verzweifelt um Hilfe anruft:


: Ich fror, als ich auf meine Schlafbank kroch, dennoch schlief ich bald ein. Und ich träumte von Jonathan. Ein Traum so grauenvoll, dass ich davon aufwachte.
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: „Ja, Jonathan“, schrie ich. „Ich komme!“ schrie ich und stürzte aus dem Bett. Die Dunkelheit ringsum schien widerzuhallen von Schreien, von Jonathans Schreien! Er hatte im Traum nach mir gerufen, er brauchte Hilfe. Ich wusste es (BL 63 f.).
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: <span style="color: #7b879e;">Ich fror, als ich auf meine Schlafbank kroch, dennoch schlief ich bald ein. Und ich träumte von Jonathan. Ein Traum so grauenvoll, dass ich davon aufwachte.
: <span style="color: #7b879e;">„Ja, Jonathan“, schrie ich. „Ich komme!“ schrie ich und stürzte aus dem Bett. Die Dunkelheit ringsum schien widerzuhallen von Schreien, von Jonathans Schreien! Er hatte im Traum nach mir gerufen, er brauchte Hilfe. Ich wusste es (BL 63 f.).</span>
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Als die beiden Brüder wieder vereint sind, wird klar, dass es sich bei Krümels Traum nicht um einen einfachen Angsttraum gehandelt hat, sondern dass Jonathans Verzweiflung, als er dem Ungeheuer Katla zum ersten Mal begegnete, so groß war, dass Krümel diese im Schlaf spüren konnte (BL 105) Je nach Lesart kann der Traum somit entweder als Vision oder als Traum im Traum verstanden werden. Versteht man die Abenteuer in Nangijala als ein Leben nach dem Tod, gesteht man den Brüdern tatsächlich eine übersinnliche Verbindung zu. Geht man hingegen davon aus, dass die ganze Geschichte nur in Krümels Delirium entsteht, verliert der visionäre Charakter dieses Traums im Traum an Bedeutung.
Als die beiden Brüder wieder vereint sind, wird klar, dass es sich bei Krümels Traum nicht um einen einfachen Angsttraum gehandelt hat, sondern dass Jonathans Verzweiflung, als er dem Ungeheuer Katla zum ersten Mal begegnete, so groß war, dass Krümel diese im Schlaf spüren konnte (BL 105) Je nach Lesart kann der Traum somit entweder als Vision oder als Traum im Traum verstanden werden. Versteht man die Abenteuer in Nangijala als ein Leben nach dem Tod, gesteht man den Brüdern tatsächlich eine übersinnliche Verbindung zu. Geht man hingegen davon aus, dass die ganze Geschichte nur in Krümels Delirium entsteht, verliert der visionäre Charakter dieses Traums im Traum an Bedeutung.


===Nangijala als universelles Traumreich===
===Nangijala als universelles Traumreich===
Der Eindruck, dass Nangijala ein Traumreich ist, wird vor allem durch Krümels subjektive Perspektive erweckt. In seiner Wahrnehmung kommt dem Protagonisten und Ich-Erzähler das sagenumwobene Universum Nangijalas oft unwirklich vor. Zweimal sucht er in seiner Erzählung den expliziten Vergleich zwischen dem Erlebten und einer traumhaften Erfahrung. Als er vom Kirsch- ins Heckenrosental reitet, um seinen älteren Bruder zu finden, kommt ihm die schauerlich schöne Landschaft wie aus einem Traum vor:
Der Eindruck, dass Nangijala ein Traumreich ist, wird vor allem durch Krümels subjektive Perspektive erweckt. In seiner Wahrnehmung kommt dem Protagonisten und Ich-Erzähler das sagenumwobene Universum Nangijalas oft unwirklich vor. Zweimal sucht er in seiner Erzählung den expliziten Vergleich zwischen dem Erlebten und einer traumhaften Erfahrung. Als er vom Kirsch- ins Heckenrosental reitet, um seinen älteren Bruder zu finden, kommt ihm die schauerlich schöne Landschaft wie aus einem Traum vor:


: Denn hier gab es Steilhänge und Abgründe, dass einem schwindelte vor so viel schrecklicher Schönheit. Es war, als reite man in einem Traum, ja, diese ganze Mondscheinlandschaft kann es nur in einem schönen und wilden Traum geben, dachte ich und sagte zu Fjalar: „Wer, glaubst du, träumt dies wohl? Ich jedenfalls nicht. Es muss jemand anders sein, der sich so übernatürlich Schreckliches und Schönes zusammengeträumt hat“ (BL 78).
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: <span style="color: #7b879e;">Denn hier gab es Steilhänge und Abgründe, dass einem schwindelte vor so viel schrecklicher Schönheit. Es war, als reite man in einem Traum, ja, diese ganze Mondscheinlandschaft kann es nur in einem schönen und wilden Traum geben, dachte ich und sagte zu Fjalar: „Wer, glaubst du, träumt dies wohl? Ich jedenfalls nicht. Es muss jemand anders sein, der sich so übernatürlich Schreckliches und Schönes zusammengeträumt hat“ (BL 78).</span>
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Während die Geschichte einen klaren Gegensatz zwischen Gut und Böse entwirft, schwankt die von Krümel beschriebene Atmosphäre zwischen erhabener Schönheit und bedrohlichem Schrecken. Noch wichtiger ist, dass Krümel sich dabei von der Traumerfahrung zu distanzieren scheint, was auf eine Unterscheidung zwischen dem bewussten Selbst und dem unbewussten Es hindeutet. Später in der Geschichte, als die beiden Brüder aufbrechen, um Orwar, den Anführer der Rebellen, zu befreien, verweist Krümel erneut auf die traumhafte Dimensions Nangijalas:
Während die Geschichte einen klaren Gegensatz zwischen Gut und Böse entwirft, schwankt die von Krümel beschriebene Atmosphäre zwischen erhabener Schönheit und bedrohlichem Schrecken. Noch wichtiger ist, dass Krümel sich dabei von der Traumerfahrung zu distanzieren scheint, was auf eine Unterscheidung zwischen dem bewussten Selbst und dem unbewussten Es hindeutet. Später in der Geschichte, als die beiden Brüder aufbrechen, um Orwar, den Anführer der Rebellen, zu befreien, verweist Krümel erneut auf die traumhafte Dimensions Nangijalas:


: Es war ein fürchterlicher Platz, schrecklich und schön wie kein anderer im Himmel oder auf Erden, glaub ich. Die Berge und der Fluss und der Wasserfall, alles war so riesig und überwältigend. Wieder war mir wie in einem Traum, und ich sagte zu Jonathan: „Glaub nicht, dass dies Wirklichkeit ist! Es muss ein Stück aus einem Urzeittraum sein, ganz bestimmt!“ (BL 164).
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: <span style="color: #7b879e;">Es war ein fürchterlicher Platz, schrecklich und schön wie kein anderer im Himmel oder auf Erden, glaub ich. Die Berge und der Fluss und der Wasserfall, alles war so riesig und überwältigend. Wieder war mir wie in einem Traum, und ich sagte zu Jonathan: „Glaub nicht, dass dies Wirklichkeit ist! Es muss ein Stück aus einem Urzeittraum sein, ganz bestimmt!“ (BL 164).</span>
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Erneut distanziert sich Krümel vom träumenden Subjekt und beschreibt die Landschaft wie das Resultat eines kollektiven Traums aus der Urzeit. Nangijala wird so im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Traumreich. Die Anspielung auf die mythische Vergangenheit hilft auch, eine Verbindung zwischen der traumhaften Stimmung und dem Monster Katla herzustellen. Um Orwar zu befreien, müssen die beiden Brüder in den Berg hinabsteigen, der von Katla bewohnt wird und dessen Windungen so zahlreich sind wie die der menschlichen Psyche. Tatsächlich erklärt Krümel: „In dieses schwarze Loch hineinzukriechen, das war wie in einen bösen schwarzen Traum einzutauchen“ (BL 181). Erneut erscheint die Figur der Katla als Metapher der Ängste, die den Jungen in den Tiefen seines Unbewussten erwarten und Nangijala wie ein Reich des universellen Träumens.
Erneut distanziert sich Krümel vom träumenden Subjekt und beschreibt die Landschaft wie das Resultat eines kollektiven Traums aus der Urzeit. Nangijala wird so im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Traumreich. Die Anspielung auf die mythische Vergangenheit hilft auch, eine Verbindung zwischen der traumhaften Stimmung und dem Monster Katla herzustellen. Um Orwar zu befreien, müssen die beiden Brüder in den Berg hinabsteigen, der von Katla bewohnt wird und dessen Windungen so zahlreich sind wie die der menschlichen Psyche. Tatsächlich erklärt Krümel: „In dieses schwarze Loch hineinzukriechen, das war wie in einen bösen schwarzen Traum einzutauchen“ (BL 181). Erneut erscheint die Figur der Katla als Metapher der Ängste, die den Jungen in den Tiefen seines Unbewussten erwarten und Nangijala wie ein Reich des universellen Träumens.