"Malina" (Ingeborg Bachmann): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 22. Februar 2022, 12:56 Uhr
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Doch gleichzeitig stellt ''Malina'' auch einen publizistischen Einschnitt für die Schriftstellerin dar: Nach einem Streit verlässt sie im Frühjahr 1967 ihren bisherigen Verlag, Piper in München, und möchte ihren Roman nun im Frankfurter Suhrkamp-Verlag veröffentlicht wissen (Hoell 2001, 128 f.). Bachmann hatte dessen Verleger Siegfried Unseld (1924–2002) bereits auf ihrer ersten USA-Reise im Sommer 1955 kennengelernt, als beide von Henry Kissinger (geb. 1923) zur "Summer School of Arts and Sciences and of Education" an die Harvard University nach Cambridge, MA eingeladen wurden (Hartwig 2017, 84 ff.). | Doch gleichzeitig stellt ''Malina'' auch einen publizistischen Einschnitt für die Schriftstellerin dar: Nach einem Streit verlässt sie im Frühjahr 1967 ihren bisherigen Verlag, Piper in München, und möchte ihren Roman nun im Frankfurter Suhrkamp-Verlag veröffentlicht wissen (Hoell 2001, 128 f.). Bachmann hatte dessen Verleger Siegfried Unseld (1924–2002) bereits auf ihrer ersten USA-Reise im Sommer 1955 kennengelernt, als beide von Henry Kissinger (geb. 1923) zur "Summer School of Arts and Sciences and of Education" an die Harvard University nach Cambridge, MA eingeladen wurden (Hartwig 2017, 84 ff.). | ||
Mit Unseld steht sie ab 1967 in einem regen Briefkontakt, der ihre Arbeit an ''Malina'', ihre Überlegungen, Schwierigkeiten und Zweifel gut dokumentiert. So scheint sie gegen Ende des Jahres – bei Spaziergängen durch das heimatliche Kärnten – die Idee eines umfangreichen Traumkapitels für den noch problematischen Mittelteil entwickelt zu haben ( | Mit Unseld steht sie ab 1967 in einem regen Briefkontakt, der ihre Arbeit an ''Malina'', ihre Überlegungen, Schwierigkeiten und Zweifel gut dokumentiert. So scheint sie gegen Ende des Jahres – bei Spaziergängen durch das heimatliche Kärnten – die Idee eines umfangreichen Traumkapitels für den noch problematischen Mittelteil entwickelt zu haben (M 792). | ||
Schließlich erscheint der Roman – Lektoren bei Suhrkamp sind, auf Bachmanns ausdrücklichen Wunsch hin (vgl. Leuchtenberger 2012, 69), die Schriftsteller Martin Walser (geb. 1927) und Uwe Johnson (1934–1984) – im März 1971 und wird von Lesereisen der Autorin durch Deutschland begleitet. Schnell steht das Buch zum Preis von 24 DM ab Mitte April auf der Bestseller-Liste des Nachrichtenmagazins ''Der Spiegel'' (vgl. Bestseller 1971a, 169) und klettert schon im folgenden Monat auf den zweiten Platz (vgl. Bestseller 1971b, 170), bevor bereits im Januar 1972 die vierte Auflage nachgedruckt und ausgeliefert wird. | Schließlich erscheint der Roman – Lektoren bei Suhrkamp sind, auf Bachmanns ausdrücklichen Wunsch hin (vgl. Leuchtenberger 2012, 69), die Schriftsteller Martin Walser (geb. 1927) und Uwe Johnson (1934–1984) – im März 1971 und wird von Lesereisen der Autorin durch Deutschland begleitet. Schnell steht das Buch zum Preis von 24 DM ab Mitte April auf der Bestseller-Liste des Nachrichtenmagazins ''Der Spiegel'' (vgl. Bestseller 1971a, 169) und klettert schon im folgenden Monat auf den zweiten Platz (vgl. Bestseller 1971b, 170), bevor bereits im Januar 1972 die vierte Auflage nachgedruckt und ausgeliefert wird. | ||
Denn die Erwartungen an ''Malina'' – nach dem Erzählband ''Das dreißigste Jahr'' (1961) erfolgte keine größere Veröffentlichung mehr – und die mit dem Preis der Gruppe 47 (1953) und dem Georg-Büchner-Preis (1964) ausgezeichneten Autorin sind groß. ''Malina'' wird dementsprechend vom Verlag breit beworben; Suhrkamp kündigt den Roman auf der Innenseite des Buches programmatisch an: "Das Buch handelt von nichts anderem als von Liebe" ( | Denn die Erwartungen an ''Malina'' – nach dem Erzählband ''Das dreißigste Jahr'' (1961) erfolgte keine größere Veröffentlichung mehr – und die mit dem Preis der Gruppe 47 (1953) und dem Georg-Büchner-Preis (1964) ausgezeichneten Autorin sind groß. ''Malina'' wird dementsprechend vom Verlag breit beworben; Suhrkamp kündigt den Roman auf der Innenseite des Buches programmatisch an: "Das Buch handelt von nichts anderem als von Liebe" (M 740 f.). | ||
Die Schriftstellerin Gabriele Wohmann (1932–2015) schreibt in ihrer Kritik: "Ich habe keineswegs alles verstanden, ich habe immer dort nicht verstanden, wo es konkret sein sollte. Ich verstehe wohl die wahre Inschrift: Leiden" (Wohmann 1971, 164). Andere einflussreiche Kritiker, wie etwa Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) kurz nach seiner Übernahme der FAZ-Literaturredaktion, lehnten ''Malina'' als "peinlichen und gänzlich mißratenen Roman" pauschal ab, auch wenn er Bachmann im Nachruf weiterhin als "eine der bedeutendsten Dichterinnen nach 1945" (Reich-Ranicki 1974, 22) hervorhebt. | Die Schriftstellerin Gabriele Wohmann (1932–2015) schreibt in ihrer Kritik: "Ich habe keineswegs alles verstanden, ich habe immer dort nicht verstanden, wo es konkret sein sollte. Ich verstehe wohl die wahre Inschrift: Leiden" (Wohmann 1971, 164). Andere einflussreiche Kritiker, wie etwa Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) kurz nach seiner Übernahme der FAZ-Literaturredaktion, lehnten ''Malina'' als "peinlichen und gänzlich mißratenen Roman" pauschal ab, auch wenn er Bachmann im Nachruf weiterhin als "eine der bedeutendsten Dichterinnen nach 1945" (Reich-Ranicki 1974, 22) hervorhebt. | ||
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==Träume in ''Malina''== | ==Träume in ''Malina''== | ||
===Einordnung=== | ===Einordnung=== | ||
Dem Roman ist ein kurzes Personenregister – an das ''dramatis personae'' eines Theaterstücks erinnernd – und eine zunächst allgemein gehaltene Orts- und Zeitangabe (Zeit: heute, Ort: Wien) vorangestellt. In einem längeren Prolog wird die Geschichte durch das erzählende Ich konkreter in der "Ungargasse" im III. Wiener Bezirk verortet; diese selbstreflexive, aber auch höchst ambivalente Erzählinstanz scheint jedoch zwischen der Überzeugung: "Ich muss erzählen. Ich werde erzählen. Es gibt nichts mehr, was mich in meiner Erinnerung stört | Dem Roman ist ein kurzes Personenregister – an das ''dramatis personae'' eines Theaterstücks erinnernd – und eine zunächst allgemein gehaltene Orts- und Zeitangabe (Zeit: heute, Ort: Wien) vorangestellt. In einem längeren Prolog wird die Geschichte durch das erzählende Ich konkreter in der "Ungargasse" im III. Wiener Bezirk verortet; diese selbstreflexive, aber auch höchst ambivalente Erzählinstanz scheint jedoch zwischen der Überzeugung: "Ich muss erzählen. Ich werde erzählen. Es gibt nichts mehr, was mich in meiner Erinnerung stört" (M 292) und den Zweifeln: "Ich will nicht erzählen, es stört mich alles in meiner Erinnerung" (298) gefangen. | ||
Im Mittelpunkt des ersten Kapitels, überschrieben mit "Glücklich mit Ivan", steht das Verhältnis zwischen dem namenlosen Ich und Ivan, dessen "Injektionen von Wirklichkeit" (364) das Ich "zu heilen anfängt" (305), und dessen Beziehung sich auch symbolisch in der märchenhaften Binnenerzählung "Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran" (348–357) mit zahlreichen intertextuellen Verweisen und Anspielungen spiegelt. | Im Mittelpunkt des ersten Kapitels, überschrieben mit "Glücklich mit Ivan", steht das Verhältnis zwischen dem namenlosen Ich und Ivan, dessen "Injektionen von Wirklichkeit" (364) das Ich "zu heilen anfängt" (305), und dessen Beziehung sich auch symbolisch in der märchenhaften Binnenerzählung "Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran" (348–357) mit zahlreichen intertextuellen Verweisen und Anspielungen spiegelt. | ||
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Das mittlere der drei Kapitel des Romans – die Überschrift "Der dritte Mann" verweist auf Carol Reeds (1906–1976) im Nachkriegswien angesiedelten Film ''The Third Man'' (1949) – stellt einen radikalen Bruch mit der Erzählung (Wien, 'heute') dar. In orts- und zeitlosen (Alb-)Träumen – programmatisch als "Überall und Nirgends" (501) angekündigt – tritt nun (als ebenjener 'dritter Mann' des Romans) neben Malina und Ivan noch "der Vater" auf. | Das mittlere der drei Kapitel des Romans – die Überschrift "Der dritte Mann" verweist auf Carol Reeds (1906–1976) im Nachkriegswien angesiedelten Film ''The Third Man'' (1949) – stellt einen radikalen Bruch mit der Erzählung (Wien, 'heute') dar. In orts- und zeitlosen (Alb-)Träumen – programmatisch als "Überall und Nirgends" (501) angekündigt – tritt nun (als ebenjener 'dritter Mann' des Romans) neben Malina und Ivan noch "der Vater" auf. | ||
Das Ich erzählt insgesamt 35 Träume und 'fällt' dabei (wortwörtlich) in einer langen Kette von Traum zu Traum (Leahy 2006, 113 f.), wenn programmatischerweise die "chronologische Ordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" (Vordermayer 2021, 205) im bisherigen Zeitverständnis nun radikal aufgehoben wird. Unterbrochen sind die in einer symbolisch-verschlüsselten Sprache des Unbewussten gehaltenen, polyphonen Traumsequenzen dabei von zehn Einschüben aus der "Wachwelt": Malina – bereits am Ende des ersten Kapitels für das erzählende Ich wichtiger werdend ( | Das Ich erzählt insgesamt 35 Träume und 'fällt' dabei (wortwörtlich) in einer langen Kette von Traum zu Traum (Leahy 2006, 113 f.), wenn programmatischerweise die "chronologische Ordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" (Vordermayer 2021, 205) im bisherigen Zeitverständnis nun radikal aufgehoben wird. Unterbrochen sind die in einer symbolisch-verschlüsselten Sprache des Unbewussten gehaltenen, polyphonen Traumsequenzen dabei von zehn Einschüben aus der "Wachwelt": Malina – bereits am Ende des ersten Kapitels für das erzählende Ich wichtiger werdend (M 499) – fungiert hier im Dialog mit dem Ich als gespiegelter Zuhörer und Traumdeuter. | ||
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Dies gilt vor allem für den ersten, wenn auch verhältnismäßig kurzen Traum, der als besonders programmatisch für die weiteren Traumepisoden verstanden werden kann: Hinter einem großen Fenster liegt ein See mit zahlreichen Friedhöfen; das Ich befindet sich dabei neben dem Vater und einem Totengräber auf dem "Friedhof der ermordeten Töchter" (502). | Dies gilt vor allem für den ersten, wenn auch verhältnismäßig kurzen Traum, der als besonders programmatisch für die weiteren Traumepisoden verstanden werden kann: Hinter einem großen Fenster liegt ein See mit zahlreichen Friedhöfen; das Ich befindet sich dabei neben dem Vater und einem Totengräber auf dem "Friedhof der ermordeten Töchter" (502). | ||
Die übermächtige, inzestuöse Vaterfigur erscheint zwar erst relativ spät im sechsten der zehn Sätze als Personifikation der männlich-patriarchalen Gewalt, die sich ebenso im "Friedhof der ermordeten Töchter" räumlich manifestiert (vgl. Lennox 2006, 111) – ein Ort, der auch in Bachmanns Romanfragment des ''Buch Franza'' (vgl. Bachmann 1995b, 229) sowie auch den frühesten Textstufen von ''Malina'' (sogar ohne Verweis auf den Vater) vorkommt ( | Die übermächtige, inzestuöse Vaterfigur erscheint zwar erst relativ spät im sechsten der zehn Sätze als Personifikation der männlich-patriarchalen Gewalt, die sich ebenso im "Friedhof der ermordeten Töchter" räumlich manifestiert (vgl. Lennox 2006, 111) – ein Ort, der auch in Bachmanns Romanfragment des ''Buch Franza'' (vgl. Bachmann 1995b, 229) sowie auch den frühesten Textstufen von ''Malina'' (sogar ohne Verweis auf den Vater) vorkommt (M 100). Übergibt der Vater hier das Ich noch an den Totengräber, hat er seine Tochter im folgenden Traum in "die größte Gaskammer der Welt" (503) eingeschlossen, und versucht sie mit den unterschiedlichsten 'Todesarten' (symbolisch) zu entmündigen oder (tatsächlich) zu ermorden. | ||
Zwar ist diese verstörende Assoziation des Vaters mit Inzest und Naziverbrechen (wenn auch mit der künstlerischen Freiheit der Schriftstellerei) letztlich biographisch kaum zu überprüfen (vgl. Hartwig 2017, 167 f.), doch bleibt die inszenierte Nähe zu Bachmanns Lebens auffällig; so wurde beispielsweise diese (auch erneut in Traum 15 und 28 auftauchende) Seelandschaft immer wieder auch mit Bachmanns Kärntner Heimat in Verbindung gebracht (vgl. etwa Höller 2009, 36). | Zwar ist diese verstörende Assoziation des Vaters mit Inzest und Naziverbrechen (wenn auch mit der künstlerischen Freiheit der Schriftstellerei) letztlich biographisch kaum zu überprüfen (vgl. Hartwig 2017, 167 f.), doch bleibt die inszenierte Nähe zu Bachmanns Lebens auffällig; so wurde beispielsweise diese (auch erneut in Traum 15 und 28 auftauchende) Seelandschaft immer wieder auch mit Bachmanns Kärntner Heimat in Verbindung gebracht (vgl. etwa Höller 2009, 36). | ||
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Dies zeigt sich gerade bei der Figur der Melanie, deren Name eine gewisse ('traumverschobene') Nähe zu "Malina" aufweist: Auffällig ist dabei, wie das (die Träume nacherzählende) Ich immer wieder das körperliche Aussehen und speziell den "Busen" (vgl. neben Traum 13 auch Traum 27) hervorhebt, und das Ich in der Folge immer stärker "MelaNIE" als jene "Frau, die nicht meine Mutter ist" (Traum 9), ablehnt. Doch scheint Melanie als archetypische Figur im Verlauf des Träumens auch mehrfach in unterschiedlichen Konstellationen und mit verschiedenen Assoziationen und Zuschreibungen aufzutauchen – vom aufreizenden Mädchen (im siebenten Traum) und dem sexuell aufgeladenen Tanz im Ballsaal aus dem Roman ''Krieg und Frieden'' (1868/69) von Lew Tolstoi (1828–1910) im achten Traum, über den Gewaltausbruch des Vaters (in Traum 11), bis hin zu Melanies Ernennung als Zarin (in Traum 21) respektive ihrer Absetzung (in Traum 24). | Dies zeigt sich gerade bei der Figur der Melanie, deren Name eine gewisse ('traumverschobene') Nähe zu "Malina" aufweist: Auffällig ist dabei, wie das (die Träume nacherzählende) Ich immer wieder das körperliche Aussehen und speziell den "Busen" (vgl. neben Traum 13 auch Traum 27) hervorhebt, und das Ich in der Folge immer stärker "MelaNIE" als jene "Frau, die nicht meine Mutter ist" (Traum 9), ablehnt. Doch scheint Melanie als archetypische Figur im Verlauf des Träumens auch mehrfach in unterschiedlichen Konstellationen und mit verschiedenen Assoziationen und Zuschreibungen aufzutauchen – vom aufreizenden Mädchen (im siebenten Traum) und dem sexuell aufgeladenen Tanz im Ballsaal aus dem Roman ''Krieg und Frieden'' (1868/69) von Lew Tolstoi (1828–1910) im achten Traum, über den Gewaltausbruch des Vaters (in Traum 11), bis hin zu Melanies Ernennung als Zarin (in Traum 21) respektive ihrer Absetzung (in Traum 24). | ||
Auf der anderen Seite spielt mit der Andeutung einer inzestuösen "Blutschande" (Traum 5, vgl. auch Traum 19) sowie dem "Friedhof der ermordeten Töchter" (im Plural) auch die Schwester des Ich, Eleonore – Ingeborg Bachmanns tatsächliche Schwester heißt Isolde (vgl. Hartwig 2017, 167) –, als weitere Figur eine zentrale und ähnlich ambivalente Rolle in den Träumen. Diese erleidet offenbar immer wieder ähnliche, dem Ich aber wohl nicht immer bekannte Erfahrungen, da die Schwester nur in verhältnismäßig wenigen Träumen vorkommt (vgl. etwa Traum 23 und 24) bzw. vom Ich der Wachwelt im Gespräch mit Malina sogar als "in der Fremde gestorben" ( | Auf der anderen Seite spielt mit der Andeutung einer inzestuösen "Blutschande" (Traum 5, vgl. auch Traum 19) sowie dem "Friedhof der ermordeten Töchter" (im Plural) auch die Schwester des Ich, Eleonore – Ingeborg Bachmanns tatsächliche Schwester heißt Isolde (vgl. Hartwig 2017, 167) –, als weitere Figur eine zentrale und ähnlich ambivalente Rolle in den Träumen. Diese erleidet offenbar immer wieder ähnliche, dem Ich aber wohl nicht immer bekannte Erfahrungen, da die Schwester nur in verhältnismäßig wenigen Träumen vorkommt (vgl. etwa Traum 23 und 24) bzw. vom Ich der Wachwelt im Gespräch mit Malina sogar als "in der Fremde gestorben" (M 542) verleugnet wird. | ||
===Dreizehnter Traum ("Prinzessin von Kagran")=== | ===Dreizehnter Traum ("Prinzessin von Kagran")=== | ||
Der sich an die vierte Unterbrechung anschließende 13. Traum greift zunächst die Thematik und Symbolik der faschistischen Vernichtungslogik mit dem drastischen Bild des 'sibirischen Judenmantels' auf – verfremdet dieses Grundmotiv jetzt aber noch auf der weiteren Ebene des Mythischen: Denn die bereits erzählte "Legende einer Frau, die es nie gegeben hat" ( | Der sich an die vierte Unterbrechung anschließende 13. Traum greift zunächst die Thematik und Symbolik der faschistischen Vernichtungslogik mit dem drastischen Bild des 'sibirischen Judenmantels' auf – verfremdet dieses Grundmotiv jetzt aber noch auf der weiteren Ebene des Mythischen: Denn die bereits erzählte "Legende einer Frau, die es nie gegeben hat" (M 347) wird an dieser Stelle als weiterer Figurentypus transformiert und aktualisiert. | ||
So vermischen sich gerade in diesem Traum nun unterschiedliche Traditionslinien des weiblichen 'Opfermythos' (vgl. Frei Gerlach 1998, 300) mit verschiedenen intertextuellen und autobiographischen Verweisen (vgl. Schmaus 1998, 99). Indem die Legende der "Prinzessin von Kagran" aus dem ersten Teil des Romans – als eine von zahlreichen intratextuellen (innerhalb des "Todesarten"-Projekts) und intertextuellen (auf andere literarische Texte, vor allem im sechsten Traum) Verweise im Roman ''Malina'' (vgl. Albrecht/Göttsche 2020a, 128 f.) – gewissermaßen in der Traumwelt gespiegelt wird, eröffnet sich so eine weitere Übertragungsebene des eigentlich nicht-Erzählbaren, denn das Unbegreifliche, wie etwa der Tod "eines Geliebten auf der Fahrt in ein Konzentrationslager, wird nur erzählbar über den Rekurs auf mythische Elemente" (Jagow 2003, 32). | So vermischen sich gerade in diesem Traum nun unterschiedliche Traditionslinien des weiblichen 'Opfermythos' (vgl. Frei Gerlach 1998, 300) mit verschiedenen intertextuellen und autobiographischen Verweisen (vgl. Schmaus 1998, 99). Indem die Legende der "Prinzessin von Kagran" aus dem ersten Teil des Romans – als eine von zahlreichen intratextuellen (innerhalb des "Todesarten"-Projekts) und intertextuellen (auf andere literarische Texte, vor allem im sechsten Traum) Verweise im Roman ''Malina'' (vgl. Albrecht/Göttsche 2020a, 128 f.) – gewissermaßen in der Traumwelt gespiegelt wird, eröffnet sich so eine weitere Übertragungsebene des eigentlich nicht-Erzählbaren, denn das Unbegreifliche, wie etwa der Tod "eines Geliebten auf der Fahrt in ein Konzentrationslager, wird nur erzählbar über den Rekurs auf mythische Elemente" (Jagow 2003, 32). | ||
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Neben den konkreten Versuchen, das Ich einzusperren und/oder zu ermorden – in der Gaskammer, unter der Lawine im Eispalast usw. usf. – sind die Träume ebenso von geprägt von der Unmöglichkeit des Sprechens und Schreibens (vgl. etwa Traum 17), etwa durch ein Nicht-Gehört-Werden trotz verschiedener Sprachen (im dritten Traum, vgl. dazu auch Bachmanns nahezu zeitgleich erschienene Erzählung ''Simultan''). | Neben den konkreten Versuchen, das Ich einzusperren und/oder zu ermorden – in der Gaskammer, unter der Lawine im Eispalast usw. usf. – sind die Träume ebenso von geprägt von der Unmöglichkeit des Sprechens und Schreibens (vgl. etwa Traum 17), etwa durch ein Nicht-Gehört-Werden trotz verschiedener Sprachen (im dritten Traum, vgl. dazu auch Bachmanns nahezu zeitgleich erschienene Erzählung ''Simultan''). | ||
Dabei stellt der 33. Traum jetzt allerdings einen gewissen Kippmoment dar: Das träumende Ich wird zwar erneut vom Vater eingesperrt, droht zu Verdursten und hat keine Möglichkeit sich schriftlich oder mündlich zu äußern – doch zeichnet sich mit den darauf folgenden, letzten Träumen des Romankapitels eine gewisse 'Emanzipation' ab. Denn als die Vater- und Mutter-Figuren nun zunehmend verschwimmen und verstummen (vgl. Traum 34 und 35), scheint das Ich in den Träumen als einem der Realität entgegengesetzten Erfahrungsraum die Ungerechtigkeiten immer stärker zu durchschauen, ja eine gewisse 'Überlegenheit' zu entwickeln. Die (wohl traumatische) Grundsituation scheint für das Ich damit aber durch die Erinnerungsarbeit der Träume noch längst nicht aufgearbeitet – es bleibt beim "Krieg" ( | Dabei stellt der 33. Traum jetzt allerdings einen gewissen Kippmoment dar: Das träumende Ich wird zwar erneut vom Vater eingesperrt, droht zu Verdursten und hat keine Möglichkeit sich schriftlich oder mündlich zu äußern – doch zeichnet sich mit den darauf folgenden, letzten Träumen des Romankapitels eine gewisse 'Emanzipation' ab. Denn als die Vater- und Mutter-Figuren nun zunehmend verschwimmen und verstummen (vgl. Traum 34 und 35), scheint das Ich in den Träumen als einem der Realität entgegengesetzten Erfahrungsraum die Ungerechtigkeiten immer stärker zu durchschauen, ja eine gewisse 'Überlegenheit' zu entwickeln. Die (wohl traumatische) Grundsituation scheint für das Ich damit aber durch die Erinnerungsarbeit der Träume noch längst nicht aufgearbeitet – es bleibt beim "Krieg" (M 565). | ||
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Und ohnehin wirken die Traumsequenzen in ihrer nahezu lehrbuchartigen Perfektion, in der Konstruiertheit der Figuren und Räume, der sprachlichen Verfremdungs- und Verschiebungsarbeit fast wie ein parodistisches Spiel, zumal zahlreiche archetypische Symbole – wie etwa das Krokodil etwa als möglicher Verweis auf C.G. Jung (vgl. Kanz 2020, 362) – aus der einschlägigen Traumforschung entnommen scheinen. Denn zwar tauchen auch bereits in Bachmanns Hörspiel [["Ein Geschäft mit Träumen" (Ingeborg Bachmann)|Ein Geschäft mit Träumen]] (1952) die 'kanonischen' Bilder sexualisierter Trauminhalte auf, doch dürften sowohl ihre sprachreflexive und sprachphilosophische Beschäftigungen wie auch ihre höchstpersönliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Traums/Träumens gerade in den unmittelbaren Jahren der Romanentstehung zu einer nochmals gesteigerten Reflektion traumtypischer Merkmale (Struktur, Narration, Symbolik usw.) geführt haben. So lässt der geplante "Todesarten"-Zyklus mit Bachmanns Ansätzen einer Sprache des Unbewussten (vgl. Leahy 2006; Steinhoff 2008) eine intensive Auseinandersetzung mit Sigmund Freud vermuten, die besonders am Romanfragment ''Das Buch Franza'' deutlich wird, das ebenfalls zahlreiche "Traumrätsel" (Bachmann 1995b, 229) enthält. Dort bezeichnet Bachmann etwa den Wiener 'Übervater' in ihrem Entwurf zur Vorrede als "größten Pionier" (Bachmann 1995b, 16); in ihrer persönlichen Bibliothek sind mehrere Bände Sigmund Freuds verzeichnet, darunter die im Fischer Verlag erschienene Studienausgabe. | Und ohnehin wirken die Traumsequenzen in ihrer nahezu lehrbuchartigen Perfektion, in der Konstruiertheit der Figuren und Räume, der sprachlichen Verfremdungs- und Verschiebungsarbeit fast wie ein parodistisches Spiel, zumal zahlreiche archetypische Symbole – wie etwa das Krokodil etwa als möglicher Verweis auf C.G. Jung (vgl. Kanz 2020, 362) – aus der einschlägigen Traumforschung entnommen scheinen. Denn zwar tauchen auch bereits in Bachmanns Hörspiel [["Ein Geschäft mit Träumen" (Ingeborg Bachmann)|Ein Geschäft mit Träumen]] (1952) die 'kanonischen' Bilder sexualisierter Trauminhalte auf, doch dürften sowohl ihre sprachreflexive und sprachphilosophische Beschäftigungen wie auch ihre höchstpersönliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Traums/Träumens gerade in den unmittelbaren Jahren der Romanentstehung zu einer nochmals gesteigerten Reflektion traumtypischer Merkmale (Struktur, Narration, Symbolik usw.) geführt haben. So lässt der geplante "Todesarten"-Zyklus mit Bachmanns Ansätzen einer Sprache des Unbewussten (vgl. Leahy 2006; Steinhoff 2008) eine intensive Auseinandersetzung mit Sigmund Freud vermuten, die besonders am Romanfragment ''Das Buch Franza'' deutlich wird, das ebenfalls zahlreiche "Traumrätsel" (Bachmann 1995b, 229) enthält. Dort bezeichnet Bachmann etwa den Wiener 'Übervater' in ihrem Entwurf zur Vorrede als "größten Pionier" (Bachmann 1995b, 16); in ihrer persönlichen Bibliothek sind mehrere Bände Sigmund Freuds verzeichnet, darunter die im Fischer Verlag erschienene Studienausgabe. | ||
Und auch ihr Interesse an psychischen Vorgängen in Verbindung mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ist nicht neu: So hat sich Ingeborg Bachmann, die in Graz und später in Wien Psychologie im Nebenfach studiert und im September 1947 ein Praktikum in einer Nervenheilanstalt in der österreichischen Hauptstadt absolvierte, tatsächlich auch schon früh für eine Verbindung zwischen Psychologie und den nationalsozialistischen Konzentrationslagern interessiert. Hier scheint gerade der Einfluss ihres Professors, dem Neurologen Viktor Frankl (1905–1997), besonders deutlich zu werden, der 1946 sein Buch ''…trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager'' veröffentlicht hat. Von ihm stammt auch der im 25. Traum abgewandelte – und selbst frei auf ein Zitat des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900) zurückgehende – Satz: "Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie | Und auch ihr Interesse an psychischen Vorgängen in Verbindung mit den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ist nicht neu: So hat sich Ingeborg Bachmann, die in Graz und später in Wien Psychologie im Nebenfach studiert und im September 1947 ein Praktikum in einer Nervenheilanstalt in der österreichischen Hauptstadt absolvierte, tatsächlich auch schon früh für eine Verbindung zwischen Psychologie und den nationalsozialistischen Konzentrationslagern interessiert. Hier scheint gerade der Einfluss ihres Professors, dem Neurologen Viktor Frankl (1905–1997), besonders deutlich zu werden, der 1946 sein Buch ''…trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager'' veröffentlicht hat. Von ihm stammt auch der im 25. Traum abgewandelte – und selbst frei auf ein Zitat des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900) zurückgehende – Satz: "Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie" (M 544). | ||