"Resto qui" (Marco Balzano): Unterschied zwischen den Versionen
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Der 2018 veröffentlichter Roman ''Resto qui'' (dt.: ''Ich bleibe hier'') des italienischen Autors Marco Balzano (*1978) gehört zur Gattung des Familien- oder Generationenromans, der seit einigen Jahren sowohl unter deutsch- als auch unter italienischsprachigen Autor:innen eine wichtige Rolle für die Beschäftigung mit der Südtiroler Vergangenheit spielt (Grugger 2021; Klettenhammer 2013, 243). ''Resto qui'' erzählt die Lebensgeschichte der Südtirolerin Trina und reflektiert dabei das Schicksal des Dorfs Graun im Vinschgau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. | |||
== Handlung == | == Handlung == | ||
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Wenige Jahre später wird die radikale Assimilationspolitik durch den „Stahlpakt“ („Patto d’Acciaio“) gekippt – ein im Mai 1939 unterzeichnetes Abkommen zwischen dem faschistischen Italien und dem Dritten Reich, das der Italianisierung ein Ende setzt und Südtirol nun wieder ins Deutsche Reich eingliedert. So sehen sich die Bewohner der Alpendörfer um Graun und Reschen einmal mehr einem faschistischen Regime ausgeliefert. Um der allgemeinen Mobilmachung zu entkommen, beschließt Erich, gemeinsam mit seiner Frau Trina den heimatlichen Hof zu verlassen und in die unwegsamen Hochalpen zu fliehen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehren sie in ihr, nun wieder italienisches, Heimatdorf zurück. Ab 1946 werden die Bauarbeiten am geplanten Stausee wieder aufgenommen. Nach Jahren des Widerstands sehen sich Trina und Erich dazu gezwungen, ihren Hof erneut zu verlassen und in Neu-Graun von vorne zu beginnen. Während sich der Staudamm wirtschaftlich nicht gerechnet hat, ist der einsam aus dem Wasser ragende Kirchturm als letztes Relikt der überfluteten Dörfer schnell zu einer Touristenattraktion geworden, die den Aufhänger für Balzanos Roman bildet. | Wenige Jahre später wird die radikale Assimilationspolitik durch den „Stahlpakt“ („Patto d’Acciaio“) gekippt – ein im Mai 1939 unterzeichnetes Abkommen zwischen dem faschistischen Italien und dem Dritten Reich, das der Italianisierung ein Ende setzt und Südtirol nun wieder ins Deutsche Reich eingliedert. So sehen sich die Bewohner der Alpendörfer um Graun und Reschen einmal mehr einem faschistischen Regime ausgeliefert. Um der allgemeinen Mobilmachung zu entkommen, beschließt Erich, gemeinsam mit seiner Frau Trina den heimatlichen Hof zu verlassen und in die unwegsamen Hochalpen zu fliehen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehren sie in ihr, nun wieder italienisches, Heimatdorf zurück. Ab 1946 werden die Bauarbeiten am geplanten Stausee wieder aufgenommen. Nach Jahren des Widerstands sehen sich Trina und Erich dazu gezwungen, ihren Hof erneut zu verlassen und in Neu-Graun von vorne zu beginnen. Während sich der Staudamm wirtschaftlich nicht gerechnet hat, ist der einsam aus dem Wasser ragende Kirchturm als letztes Relikt der überfluteten Dörfer schnell zu einer Touristenattraktion geworden, die den Aufhänger für Balzanos Roman bildet. | ||
== Subjektivität und Traumerleben == | == Subjektivität und Traumerleben == | ||
Mit seinem Roman möchte Marco Balzano bewusst einen subjektiv aufgeladenen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis Südtirols und Italiens leisten ( | Mit seinem Roman möchte Marco Balzano bewusst einen subjektiv aufgeladenen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis Südtirols und Italiens leisten (Grite/Siller 2011). In einer Anmerkung des Autors begründet er sein Vorhaben wie folgt: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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Die Tatsache, dass Marica in dieser Begegnung noch ein Kind ist, deutet darauf hin, dass Trina die ganze Szene halluziniert haben muss: Phantasie und Realität vermischen sich in dieser Passage, zum Beispiel, wenn Trina als Reaktion auf die plötzliche Vision den Namen ihrer Tochter zu schreien beginnt und damit deren Existenz in der Gegenwart markiert. Maricas Erscheinung als reines, fast nacktes kleines Mädchen unterstreicht den Wunsch der Mutter, das zu schützen, was sie Jahre zuvor verloren hat. Doch Marica läuft einmal mehr vor Trina davon, und auch wenn sie langsam geht, viel langsamer als die eilende Mutter, bleibt die Distanz zwischen Mutter und Tochter unüberwindbar. Es ist nicht verwunderlich, dass Trina auf die beunruhigende Vision zunächst mit Verzweiflung, dann mit Wut reagiert: Erneut verflucht sie ihre Tochter für das, was sie ihrer Familie angetan hat; erneut beschließt sie, ihr Leben, ihre ganze Existenz, zu vergessen. Während unklar bleibt, ob Trina die Spielsachen ihrer Tochter tatsächlich zerstört, weiß der Leser bereits, dass es Trina einmal mehr nicht gelingen wird, die Vergangenheit zu verarbeiten: Der gesamte Roman, der in Form eines Briefs an die verschwundene Tochter geschrieben ist, unterstreicht die Unmöglichkeit zu vergessen. | Die Tatsache, dass Marica in dieser Begegnung noch ein Kind ist, deutet darauf hin, dass Trina die ganze Szene halluziniert haben muss: Phantasie und Realität vermischen sich in dieser Passage, zum Beispiel, wenn Trina als Reaktion auf die plötzliche Vision den Namen ihrer Tochter zu schreien beginnt und damit deren Existenz in der Gegenwart markiert. Maricas Erscheinung als reines, fast nacktes kleines Mädchen unterstreicht den Wunsch der Mutter, das zu schützen, was sie Jahre zuvor verloren hat. Doch Marica läuft einmal mehr vor Trina davon, und auch wenn sie langsam geht, viel langsamer als die eilende Mutter, bleibt die Distanz zwischen Mutter und Tochter unüberwindbar. Es ist nicht verwunderlich, dass Trina auf die beunruhigende Vision zunächst mit Verzweiflung, dann mit Wut reagiert: Erneut verflucht sie ihre Tochter für das, was sie ihrer Familie angetan hat; erneut beschließt sie, ihr Leben, ihre ganze Existenz, zu vergessen. Während unklar bleibt, ob Trina die Spielsachen ihrer Tochter tatsächlich zerstört, weiß der Leser bereits, dass es Trina einmal mehr nicht gelingen wird, die Vergangenheit zu verarbeiten: Der gesamte Roman, der in Form eines Briefs an die verschwundene Tochter geschrieben ist, unterstreicht die Unmöglichkeit zu vergessen. | ||
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Sophia Mehrbrey]]</div> | |||
== Literatur == | |||
=== Ausgaben === | |||
* Balzano, Marco: Resto qui. Torino: Einaudi 2018. | |||
* Balzano, Marco: Ich bleibe hier. Übers. von Maja Pflug. Zürich: Diogenes 2020. | |||
Klettenhammer, S. (2013) ‘Die Wiederentdeckung der Geschichte. Zu Familien- und Generationenromanen Südtiroler Autorinnen und Autoren seit der Jahrtausendwende’, in Cescutti, M., Holzner, J. and Vorderegger, R. ( | === Forschungsliteratur === | ||
* Beyer, R./ Plewnia, A. (Hg.): Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen. Tübingen: Narr 2019. | |||
* Forkel, R.: ‘Literarisches Erzählen über die Zeit des Nationalsozialismus seit der Jahrhundertwende: Bestandaufnahme und Typologie. In: Daniel Fulda/Jaegere, S. (Hg.), Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Berlin: de Gruyter 2019, 205–229. | |||
* Grote, G. / Siller, B. (2011): Südtirolismen. Erinnerungskulturen, Gegenwartsreflexionen, Zukunftsvisionen. Innsbruck: Wagner 2011. | |||
* Grugger, H. (2021) ‘Zum Begriff des Generationenromans’, in Grugger, H. and Holzner, J. (Eds.), ''Der'' ''Generationenroman'', de Gruyter, Berlin, S. 3–17. | |||
* Klettenhammer, S. (2013) ‘Die Wiederentdeckung der Geschichte. Zu Familien- und Generationenromanen Südtiroler Autorinnen und Autoren seit der Jahrtausendwende’, in Cescutti, M., Holzner, J. and Vorderegger, R. (Hg.): ''Raum, Region, Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse. Innsbruck: Wagner 2013, 241–269. | |||
* Orosz, M. (2016): ‘Kriegsgeschichte aus der Retrospektive: Erinnerung in diskursiver Verarbeitung’, in Beßlich, B. and Felder, E. (Eds.), ''Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert''. Bern: Lang 2016, 133–153. | |||
* Riel, C.M. (2001): Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien. Tübingen: Stauffenberg 2001. | |||
==Anmerkungen== | ==Anmerkungen== | ||
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