"Ministerium der Träume" (Hengameh Yaghoobifarah): Unterschied zwischen den Versionen

keine Bearbeitungszusammenfassung
(Die Seite wurde neu angelegt: „''Ministerium der Träume'' (2021) ist der Debütroman von Journalist*in und Schriftsteller*in Hengameh Yaghoobifarah (*1991 in Kiel). Der Roman erzählt auf v…“)
 
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 3: Zeile 3:


== Überblick ==
== Überblick ==
Die Handlung des Romans ist in der Südtiroler Region Graun/Curon angesiedelt, die über Jahrzehnte hinweg starken politischen und kulturellen Veränderungen unterworfen war und dabei zum Schauplatz eines der wohl bemerkenswertesten menschlichen Eingriffe in die Alpenlandschaft wurde. Mit einem Fokus auf die Lehrerin und Ich-Erzählerin Trina beschreibt der Text die Geschichte einer Grauner Familie, ihre Erlebnisse während des zweiten Weltkriegs, sowie ihren erfolglosen Kampf gegen die Flutung mehrerer Dörfer im Reschengebiet zur Konstruktion eines Stausees. Rund um dieses Bauprojekt, das erstmals 1911 beschlossen, schlussendlich jedoch erst 1950 umgesetzt wurde, umspannt die Erzählung mehrere Jahrzehnte, beginnend mit Trinas Ausbildung zur Lehrerin im damaligen deutschsprachigen Teil Südtirols. Die Situation ändert sich drastisch, als 1922 die Mitglieder der faschistischen Partei den Marsch auf Bozen organisieren, der in einer radikalen Unterdrückung der deutschen Subkultur in Südtirol resultiert. Diese Italianisierung zwingt die Bevölkerung, eine neue Sprache zu lernen, sich an ein anderes bürokratisches System zu gewöhnen und sich mit neuen Traditionen vertraut zu machen (Beyer/Plewnia 2019; Riel 2001, 18 f.). Von einem Tag auf den anderen wird das kulturelle Gedächtnis einer ganzen Region ausgelöscht. Die Bevölkerung wird zum Spielball geopolitischer Interessen: Deutsch wird als Unterrichtssprache in den Schulen abgeschafft, und Trina ist gezwungen, ihre Schüler:innen fortan nur noch an geheimen Orten zu unterrichten. Der junge Bauer Erich, Trinas zukünftiger Ehemann, führt im Untergrund einen erbitterten Kampf gegen die italienischen Unterdrücker und deren Plan, das Dorf zu fluten.
Das Geschehen von ''Ministerium der Träume'' spielt auf zwei zeitlichen Schienen, die eng miteinander verbunden sind. In der Gegenwart arbeitet die Ich-Erzählerin Nasrin Behzadi als Türsteherin in einer queeren Berliner Bar. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Schwester Nushin, die in einem brennenden Auto ums Leben gekommen ist, treibt Nasrin die Frage um, ob ihre Schwester einen Unfall hatte, einen Suizid begangen hat oder ermordet wurde. Gleichzeitig wird sie zum Vormund ihrer 14-jährigen Nichte Parvin, zieht in die Wohnung ihrer Schwester und versucht, sich mit ihrer Nichte ein neues Leben einzurichten. Die Trauer um Nushin, unverarbeitete Traumata und die Suche nach Antworten durchkreuzen dieses Vorhaben allerdings immer wieder.


Wenige Jahre später wird die radikale Assimilationspolitik durch den „Stahlpakt“ („Patto d’Acciaio“) gekippt – ein im Mai 1939 unterzeichnetes Abkommen zwischen dem faschistischen Italien und dem Dritten Reich, das der Italianisierung ein Ende setzt und Südtirol nun wieder ins Deutsche Reich eingliedert. So sehen sich die Bewohner der Alpendörfer um Graun und Reschen einmal mehr einem faschistischen Regime ausgeliefert. Um der allgemeinen Mobilmachung zu entkommen, beschließt Erich, gemeinsam mit seiner Frau Trina den heimatlichen Hof zu verlassen und in die unwegsamen Hochalpen zu fliehen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kehren sie in ihr, nun wieder italienisches, Heimatdorf zurück. Ab 1946 werden die Bauarbeiten am geplanten Stausee wieder aufgenommen. Nach Jahren des Widerstands sehen sich Trina und Erich dazu gezwungen, ihren Hof erneut zu verlassen und in Neu-Graun von vorne zu beginnen. Während sich der Staudamm wirtschaftlich nicht gerechnet hat, ist der einsam aus dem Wasser ragende Kirchturm als letztes Relikt der überfluteten Dörfer schnell zu einer Touristenattraktion geworden, die den Aufhänger für Balzanos Roman bildet.
Dieser Erzählstrang wird durch insgesamt neun Rückblenden durchbrochen, die durch entsprechende Jahreszahlen und Tempuswechsel deutlich markiert sind. Die erste Rückblende setzt im Jahr 1981 an, als Nasrin sieben Jahre alt ist und mit ihrer Mutter (Mâmân) und ihrer jüngeren Schwester Nushin vor dem Ersten Golfkrieg (1980–1988) aus dem Iran fliehen muss. Die Familie zieht in den Hudekamp, eine teils als „sozialen Brennpunkt“ beschriebene Siedlung in Lübeck (siehe z. B. Lenz 2013). Der Vater (Bâbâ) wird in Teheran ermordet, bevor er seiner Familie nachfolgen kann. Nasrins Kindheit und Jugend sind von Entbehrungen und Gewalterfahrungen geprägt. Die hart arbeitende und strenge Mutter schlägt ihre Töchter, später wird sie sich weigern zu akzeptieren, dass Nasrin lesbisch ist. Mit zwölf Jahren irrt Nasrin durch Lübeck und wird von einem Pädophilen, der später trotz nationalsozialistischer Gesinnung Karriere machen wird und in der Geschichte noch mehrmals auftaucht, vergewaltigt. Nasrins Jugendclique, immer wieder Ziel rassistischer Anfeindungen, entgeht einmal nur knapp einem Angriff gewalttätiger Skinheads. Überhaupt ist die deutsche Rassismusgeschichte der 90er Jahre ein bedrohliches Hintergrundrauschen der Schilderungen aus dieser Zeit, die sich explizit auf reale rassistische Anschläge und das Desinteresse der Polizei beziehen (darunter die Angriffe auf Migrant*innen in Wohnheimen in Hoyerswerda im Jahr 1991 (MdT 175) und den Lübecker Brandanschlag von 1996, bei dem 10 Menschen ermordet wurden (MdT 252)). Beides setzt sich bis in die Gegenwart fort, was die beiden letzten Rückblenden (2001 und 2006), die auf die Morde des NSU Bezug nehmen (MdT 265, 327), die polizeilichen Ermittlungen im Fall von Nasrins Schwester und der empathielose Umgang der Polizist*innen mit ihr als Hinterbliebener (MdT 21) deutlich markieren.
 
Neben der vielschichtigen traumatischen Vergangenheit ziehen sich weitere Leitthemen und -motive durch den Roman, die allerdings eng mit ihr verwoben sind. Dazu gehört das Thema der fragmentierten Erinnerung, die die Ich-Erzählerin wiederholt mit dem Wort „Krater“ umschreibt (u. a. MdT 206, 253, 276). Hervorzuheben ist auch die klangliche Dimension. So tauchen auf allen Zeitebenen der Erzählungen immer wieder Ausschnitte aus Songtexten auf. Auf der Vergangenheitsebene korrespondieren die Releases der jeweiligen Songs, die Autor*in Yaghoobifarah auch auf einer Spotify-Playlist gesammelt hat, mit dem zeitlichen Rahmen des Geschehens. Zu der klanglichen Dimension zählt zudem das Telefonklingeln, das Nasrin regelmäßig als einzige zu hören scheint und das bei ihr traumatische Flashbacks auslöst (MdT 276, 380). In dem immer wieder auftauchenden Motiv der Telefonzelle bekommt das retraumatisierende Geräusch ein Bild. Alle erwähnten Aspekte manifestieren sich insbesondere in den Träumen der Protagonistin, die so zu einem Brennglas für all das werden, an dem Nasrin in Gegenwart und Vergangenheit zerbricht.


== Subjektivität und Traumerleben ==
== Subjektivität und Traumerleben ==
37

Bearbeitungen