"Werde munter mein Gemüte" (Johann Rist): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 15. Mai 2022, 13:12 Uhr
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=Entstehung und Rezeption= | |||
Das Abendlied erschien erstmals 1642 unter dem Titel ''Christliches Abend=Lied / Sich dem Schutz des Allerhöhesten zu befehlen'' im dritten Band von Johann Rists Liedersammlung ''Himlische Lieder'' (1641-42). Die Sammlung wurde zusammen mit dem Hamburger Ratsmusiker und Kantor Johann Schop (1590-1644) herausgegeben, welcher die Melodien der meisten darin enthaltenen Lieder komponierte. In der überarbeiteten, neu angeordneten Ausgabe der ''Himlische[n] Lieder'' von 1652 ist das Abendlied in einer von der Erstveröffentlichung minimal abweichenden Version im fünften und letzten Teil unter der Rubrik „Lob= und Danklieder“ vorzufinden; eingeleitet wird es dort mit der Angabe „Das siebende Lied/ Ist Ein Abendgesang/ Mit welcher sich ein jedweder frommer Christ/ weil er sich zur Ruhe wil legen/ der gnädigen Obhuht und väterlichen Beschirmung des Allerhöchsten kan befehlen“. Es liegen einige weitere Bearbeitungen des Abendliedes vor, welche teilweise durch den Verfasser selbst, teilweise bei der Aufnahme des Liedes in verschiedene Gesangbücher zustande kamen. Während die ältere Forschung die 1657 im ersten Teil von Rists ''Geistliche[n] Poetische[n] Schriften'' erschienene Fassung des Abendliedes bevorzugt, „da man sie in Wahrheit eine verbesserte nennen“ könne (Fischer 1878, 356; mit Verweis auf Mützell 1855), wird im vorliegenden Artikel der Originaltext von 1642 nach der kritischen Ausgabe ''Himmlische Lieder'' aus dem Jahr 2012 zitiert. | Das Abendlied erschien erstmals 1642 unter dem Titel ''Christliches Abend=Lied / Sich dem Schutz des Allerhöhesten zu befehlen'' im dritten Band von Johann Rists Liedersammlung ''Himlische Lieder'' (1641-42). Die Sammlung wurde zusammen mit dem Hamburger Ratsmusiker und Kantor Johann Schop (1590-1644) herausgegeben, welcher die Melodien der meisten darin enthaltenen Lieder komponierte. In der überarbeiteten, neu angeordneten Ausgabe der ''Himlische[n] Lieder'' von 1652 ist das Abendlied in einer von der Erstveröffentlichung minimal abweichenden Version im fünften und letzten Teil unter der Rubrik „Lob= und Danklieder“ vorzufinden; eingeleitet wird es dort mit der Angabe „Das siebende Lied/ Ist Ein Abendgesang/ Mit welcher sich ein jedweder frommer Christ/ weil er sich zur Ruhe wil legen/ der gnädigen Obhuht und väterlichen Beschirmung des Allerhöchsten kan befehlen“. Es liegen einige weitere Bearbeitungen des Abendliedes vor, welche teilweise durch den Verfasser selbst, teilweise bei der Aufnahme des Liedes in verschiedene Gesangbücher zustande kamen. Während die ältere Forschung die 1657 im ersten Teil von Rists ''Geistliche[n] Poetische[n] Schriften'' erschienene Fassung des Abendliedes bevorzugt, „da man sie in Wahrheit eine verbesserte nennen“ könne (Fischer 1878, 356; mit Verweis auf Mützell 1855), wird im vorliegenden Artikel der Originaltext von 1642 nach der kritischen Ausgabe ''Himmlische Lieder'' aus dem Jahr 2012 zitiert. | ||
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Auch über das 17. Jahrhundert hinaus verlor Rists Abendlied nicht an Aktualität: In Fischers Kirchenlieder-Lexikon aus dem Jahr 1879 ist es als „Kernlied“ markiert, was bedeutet, dass es in nahezu allen für die Zusammenstellung des Lexikons verwendeten Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert vertreten ist. Heute ist es als Lied Nr. 475 unter der Rubrik „Abend“ in aktuellen Ausgaben des Evangelischen Gesangbuchs abgedruckt. Der Text dieser Version unterscheidet sich an einigen Stellen von Rists Erstfassung: Die Eröffnungsstrophe beispielweise schließt nicht mit dem Dank des Sprecher-Ichs für Gottes Schutz vor dem Teufel („da er mich den gantzen Tag/ für so mancher schweren Plag’/ hat erhalten und beschützet/ daß mich Satan nicht beschmitze“), sondern listet andere Qualen auf, vor denen Gott das Ich bewahrt hat: „da er mich den ganzen Tag vor so mancher schweren Plag, vor Betrübnis, Schand und Schaden treu behütet hat in Gnaden“. Weitere Abweichungen vom Original sind u. a. in der dritten („mich umgebe und beschütze“ statt „Und mein kaltes Hertz erhitze“) und vierten Strophe („lösen von der Sünde Ketten“ statt „Straffe nicht mein Ubertretten“) festzustellen. Zudem wurde Rists Abendlied hier auf acht der ursprünglich zwölf Strophen gekürzt: Die Strophen 3, 7 und 8 sowie die für vorliegenden Artikel interessante ‚Traumstrophe‘ (Str. 9) der Originalfassung sind nicht mehr enthalten. | Auch über das 17. Jahrhundert hinaus verlor Rists Abendlied nicht an Aktualität: In Fischers Kirchenlieder-Lexikon aus dem Jahr 1879 ist es als „Kernlied“ markiert, was bedeutet, dass es in nahezu allen für die Zusammenstellung des Lexikons verwendeten Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert vertreten ist. Heute ist es als Lied Nr. 475 unter der Rubrik „Abend“ in aktuellen Ausgaben des Evangelischen Gesangbuchs abgedruckt. Der Text dieser Version unterscheidet sich an einigen Stellen von Rists Erstfassung: Die Eröffnungsstrophe beispielweise schließt nicht mit dem Dank des Sprecher-Ichs für Gottes Schutz vor dem Teufel („da er mich den gantzen Tag/ für so mancher schweren Plag’/ hat erhalten und beschützet/ daß mich Satan nicht beschmitze“), sondern listet andere Qualen auf, vor denen Gott das Ich bewahrt hat: „da er mich den ganzen Tag vor so mancher schweren Plag, vor Betrübnis, Schand und Schaden treu behütet hat in Gnaden“. Weitere Abweichungen vom Original sind u. a. in der dritten („mich umgebe und beschütze“ statt „Und mein kaltes Hertz erhitze“) und vierten Strophe („lösen von der Sünde Ketten“ statt „Straffe nicht mein Ubertretten“) festzustellen. Zudem wurde Rists Abendlied hier auf acht der ursprünglich zwölf Strophen gekürzt: Die Strophen 3, 7 und 8 sowie die für vorliegenden Artikel interessante ‚Traumstrophe‘ (Str. 9) der Originalfassung sind nicht mehr enthalten. | ||
=Autor= | |||
==Lebensstationen== | |||
Johann (auch: Johannes) Rist wurde am 8. März 1607 in Ottensen bei Hamburg als Sohn eines evangelischen Pastors geboren. Er wurde zunächst durch den Vater unterrichtet und besuchte anschließend das Hamburger Johanneum sowie das Bremer Gymnasium illustre. Ab 1626 studierte er an der Universität Rostock Theologie, Naturwissenschaften sowie Medizin und Pharmazie. 1629 führte er sein Studium an der Universität Rinteln fort, wo er auf den Theologen und Kirchenlieddichter Josua Stegmann (1588-1632) traf, der Rists Interesse für die deutsche Literatur weckte. Nachdem er etwa zwei Jahre lang als Hauslehrer gearbeitet hatte, wurde Rist 1635 als Pastor nach Wedel im südlichen Schleswig-Holstein berufen (vgl. Diecks 2003, 646f.). | Johann (auch: Johannes) Rist wurde am 8. März 1607 in Ottensen bei Hamburg als Sohn eines evangelischen Pastors geboren. Er wurde zunächst durch den Vater unterrichtet und besuchte anschließend das Hamburger Johanneum sowie das Bremer Gymnasium illustre. Ab 1626 studierte er an der Universität Rostock Theologie, Naturwissenschaften sowie Medizin und Pharmazie. 1629 führte er sein Studium an der Universität Rinteln fort, wo er auf den Theologen und Kirchenlieddichter Josua Stegmann (1588-1632) traf, der Rists Interesse für die deutsche Literatur weckte. Nachdem er etwa zwei Jahre lang als Hauslehrer gearbeitet hatte, wurde Rist 1635 als Pastor nach Wedel im südlichen Schleswig-Holstein berufen (vgl. Diecks 2003, 646f.). | ||
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Rist wurde 1646 zum Diakon ernannt, im selben Jahr wurde ihm die Dichterkrone verliehen. 1654 erfolgte die Erhebung zum kaiserlichen Hofpfalzgrafen, die das „Zenit seiner öffentlichen Ehrungen“ (Dünnhaupt 1991, 3374) bedeutete. Er starb am 31. August 1667 in Wedel. | Rist wurde 1646 zum Diakon ernannt, im selben Jahr wurde ihm die Dichterkrone verliehen. 1654 erfolgte die Erhebung zum kaiserlichen Hofpfalzgrafen, die das „Zenit seiner öffentlichen Ehrungen“ (Dünnhaupt 1991, 3374) bedeutete. Er starb am 31. August 1667 in Wedel. | ||
==Traum im Werk Johann Rists== | |||
Rist zählt zu den produktivsten Autoren der Barockzeit: Er hinterließ zwölf Lyriksammlungen, die sowohl weltliche als auch geistliche Dichtung enthalten. Daneben schrieb er 30 Dramen, von denen allerdings nur vier überliefert sind (vgl. Diecks 2003, 646f.). Bekannt sind vor allem Rists geistliche Lieder, von denen er über 650 verfasste und „die ihm bis in die heutige Zeit unverlöschlichen Ruhm eintrugen“ (Dünnhaupt 1991, 3374). | Rist zählt zu den produktivsten Autoren der Barockzeit: Er hinterließ zwölf Lyriksammlungen, die sowohl weltliche als auch geistliche Dichtung enthalten. Daneben schrieb er 30 Dramen, von denen allerdings nur vier überliefert sind (vgl. Diecks 2003, 646f.). Bekannt sind vor allem Rists geistliche Lieder, von denen er über 650 verfasste und „die ihm bis in die heutige Zeit unverlöschlichen Ruhm eintrugen“ (Dünnhaupt 1991, 3374). | ||
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(V. 61-68)</blockquote>Auch in Rists Dramen ist der Traum vertreten: In seinem Stück ''Perseus'' (ED und Uraufführung 1634) etwa hat die Figur Eudocia einen auf den melancholischen Zustand ihres zukünftigen Ehemanns Demetrius vorausdeutenden Traum, wie aus folgendem Dialog zwischen ihr und ihrem Bruder Alexander hervorgeht:<blockquote>EUDOCIA: […] Jtzo aber stehe ich vnd betrachte den sehr trawrigen Traum / der mir die nechstverwichene Nacht im schlaffe ist vorkommen / welches Traums wegen / ich fast diesen gantzen Tag über sehr bestürtzet bin gewesen. […]</blockquote><blockquote>ALEXANDER: Ob ich zwahr nicht viel auff Träume halte / dennoch bitte ich / die Schwester wolle mir diesen jhren Traum erzehlen. Aber wen sehe ich dar so gahr trawrig vnd betrübt herümmer gehen / ist mir recht / so ist es niemandt anders alß der Printz Demetrius.</blockquote>Die genannten Textbeispiele geben singuläre Einblicke in Rists dichterische Umsetzung der Traummotivik. Um ein aussagekräftigeres Bild ebendieser zu erhalten, bedarf es einer intensiven Sichtung des umfangreichen Werks des Dichters. | (V. 61-68)</blockquote>Auch in Rists Dramen ist der Traum vertreten: In seinem Stück ''Perseus'' (ED und Uraufführung 1634) etwa hat die Figur Eudocia einen auf den melancholischen Zustand ihres zukünftigen Ehemanns Demetrius vorausdeutenden Traum, wie aus folgendem Dialog zwischen ihr und ihrem Bruder Alexander hervorgeht:<blockquote>EUDOCIA: […] Jtzo aber stehe ich vnd betrachte den sehr trawrigen Traum / der mir die nechstverwichene Nacht im schlaffe ist vorkommen / welches Traums wegen / ich fast diesen gantzen Tag über sehr bestürtzet bin gewesen. […]</blockquote><blockquote>ALEXANDER: Ob ich zwahr nicht viel auff Träume halte / dennoch bitte ich / die Schwester wolle mir diesen jhren Traum erzehlen. Aber wen sehe ich dar so gahr trawrig vnd betrübt herümmer gehen / ist mir recht / so ist es niemandt anders alß der Printz Demetrius.</blockquote>Die genannten Textbeispiele geben singuläre Einblicke in Rists dichterische Umsetzung der Traummotivik. Um ein aussagekräftigeres Bild ebendieser zu erhalten, bedarf es einer intensiven Sichtung des umfangreichen Werks des Dichters. | ||
=Kontextualisierung= | |||
==Abendliedgenre== | |||
Der heute geläufige Titel ''Werde munter mein Gemüte'' ergibt sich durch den ersten Vers des barocken Abendliedes. Die darin enthaltene Aufforderung erstreckt sich noch weiter über die erste Strophe: „WErde munter mein Gemüte/ vnd jr Sinne geht herfür/ Daß jhr preiset Gottes Güte“. Sie erinnert an das wenig später erschienene, vermutlich prominenteste Abendlied des 17. Jahrhunderts, Paul Gerhardts (1607 bis 1676) ''Nun ruhen alle Wälder'' (ED 1647), welches mit einem ähnlichen Aufruf beginnt: „Ihr aber/ meine sinnen/ Auf/ auf/ ihr sollt beginnen/ Was eurem Schöpffer wol gefällt.“<ref>Gerhardts Abendlied ''Nun ruhen alle Wälder'' erschien erstmals 1647 als Lied Nr. 19 in Crügers ''Praxis Pietatis Melica''.</ref> Beide Appelle an das eigene Gemüt bzw. die eigenen Sinne spiegeln die praktische Ausrichtung des Abendliedgenres wider: Abendlieder sind einerseits als Handlung zu verstehen, als „Aufruf zum Lob oder Trost oder Wendung an Gott in Bitte und Dank und Preis“, andererseits als „Heilmittel des inwendigen Menschen“ (Thomas & Ameln 1930, 5f.). Eine heilende Wirkung soll vor allem dadurch erzielt werden, dass das Abendlied, gerade im Barockzeitalter, einen Moment des Innehaltens bedeutet: Hübert beschreibt die frühneuzeitliche Empfindung von Abend und Nacht „als Zeit der Stille zwischen Tag und Traum, in der die Seele, befreit von dem tätigen Einsatz des Menschen bei Tage, endlich ›zu Wort‹ kommen kann“ (Hübert 1963, 223). Die dem Abendlied folglich zukommende „Funktion eines Zwiegesprächs mit Gott“ (Scherf 2020, 6) kann in Rists ''Werde munter mein Gemüte'' anschaulich beobachtet werden. Daneben erfüllt der Rist’sche Text durch seine Schlussstrophe auch die dem Abendliedgenre zugesprochene Gebetsfunktion (vgl. Scherf 2020, 6). | Der heute geläufige Titel ''Werde munter mein Gemüte'' ergibt sich durch den ersten Vers des barocken Abendliedes. Die darin enthaltene Aufforderung erstreckt sich noch weiter über die erste Strophe: „WErde munter mein Gemüte/ vnd jr Sinne geht herfür/ Daß jhr preiset Gottes Güte“. Sie erinnert an das wenig später erschienene, vermutlich prominenteste Abendlied des 17. Jahrhunderts, Paul Gerhardts (1607 bis 1676) ''Nun ruhen alle Wälder'' (ED 1647), welches mit einem ähnlichen Aufruf beginnt: „Ihr aber/ meine sinnen/ Auf/ auf/ ihr sollt beginnen/ Was eurem Schöpffer wol gefällt.“<ref>Gerhardts Abendlied ''Nun ruhen alle Wälder'' erschien erstmals 1647 als Lied Nr. 19 in Crügers ''Praxis Pietatis Melica''.</ref> Beide Appelle an das eigene Gemüt bzw. die eigenen Sinne spiegeln die praktische Ausrichtung des Abendliedgenres wider: Abendlieder sind einerseits als Handlung zu verstehen, als „Aufruf zum Lob oder Trost oder Wendung an Gott in Bitte und Dank und Preis“, andererseits als „Heilmittel des inwendigen Menschen“ (Thomas & Ameln 1930, 5f.). Eine heilende Wirkung soll vor allem dadurch erzielt werden, dass das Abendlied, gerade im Barockzeitalter, einen Moment des Innehaltens bedeutet: Hübert beschreibt die frühneuzeitliche Empfindung von Abend und Nacht „als Zeit der Stille zwischen Tag und Traum, in der die Seele, befreit von dem tätigen Einsatz des Menschen bei Tage, endlich ›zu Wort‹ kommen kann“ (Hübert 1963, 223). Die dem Abendlied folglich zukommende „Funktion eines Zwiegesprächs mit Gott“ (Scherf 2020, 6) kann in Rists ''Werde munter mein Gemüte'' anschaulich beobachtet werden. Daneben erfüllt der Rist’sche Text durch seine Schlussstrophe auch die dem Abendliedgenre zugesprochene Gebetsfunktion (vgl. Scherf 2020, 6). | ||
==(Alb-)Träume in Abendliedern== | |||
Das Motiv des Traums, das Rist in seinem Abendlied als Verbindungsmöglichkeit zu Gott fruchtbar macht, ist im Abendliedgenre nicht unüblich. In Scherfs Abendliedersammlung beispielsweise finden sich mindestens um die 40 von insgesamt 526 Abendliedern aus fünf Jahrunderten, in denen der Traum zur Sprache kommt (vgl. Scherf 2020). Auffällig ist, dass etwa die Hälfte dieser Lieder erstens der Barockepoche zuzuordnen ist und zweitens den Traum in einen negativen Zusammenhang stellt: So werden in der Regel nur „böse“ Träume in einer Reihe mit Gespenstern und anderen Gefahren der Nacht thematisiert, wie etwa bei Johann Franck (auch: Frank; 1618 bis 1677): „Oeffne deiner güte fenster / Sende deine macht herab / Daß die schwartzen nacht=gespenster / Daß des todes finstres grab/ Daß das übel so bey nacht / Unsern leib zu fällen tracht’t / Mich nicht mit dem netz ümdecke / Noch ein böser traum mich schrecke.“ (Str. 5)<ref>Francks Abendlied beginnt mit den Versen „UNsre müden augen=lieder/Schliessen sich itzt schläffrig zu“ und findet sich als Lied Nr. 709 in der Hildesheimer Ausgabe des ''Neu=vermehrte[n] Geistliche[n] Gesangbuch[s]'' von 1700.</ref> In einem vergleichbaren Abendlied soll Gott, so bittet das Ich, dabei helfen, „[d]aß kein gespenst im schlaff mich thör/ Noch böser traum mein ruh verstöhr“ (Str. 9);<ref>Vgl. Lied Nr. 710 mit dem Liedanfang „DUhast/ o Vater/ tag und nacht“ (ohne Verfasserangabe) in der Hildesheimer Ausgabe des ''Neu=vermehrte[n] Geistliche[n] Gesangbuch[s]'' von 1700.</ref> in einem anderen Beispiel heißt es: „Für bösen träumen mich bewahr/ Entzeuch mich aller angst=gefahr“ (Str. 4).<ref>Vgl. Lied Nr. 723 mit dem Liedanfang „HJnunter ist der sonnen=schein“ (ohne Verfasserangabe) in der Hildesheimer Ausgabe des ''Neu=vermehrte[n] Geistliche[n] Gesangbuch[s]'' von 1700.</ref> Auch in der Abendlieddichtung Georg Philipp Harsdörffers (1607 bis 1658) ist das Träumen mit negativen Implikationen verbunden; in einem seiner Lieder bittet die Sprechinstanz beispielsweise um ruhigen Schlaf „[o]hn böse Träum und Schmertz“ (Str. 7).<ref>Harsdörffers Abendlied beginnt mit den Versen „DEr Tag ist nun vergangen mit seiner Sorgenlast“ und erschien erstmals 1647 in Dilherrs ''Weg zur Seligkeit''.</ref> | Das Motiv des Traums, das Rist in seinem Abendlied als Verbindungsmöglichkeit zu Gott fruchtbar macht, ist im Abendliedgenre nicht unüblich. In Scherfs Abendliedersammlung beispielsweise finden sich mindestens um die 40 von insgesamt 526 Abendliedern aus fünf Jahrunderten, in denen der Traum zur Sprache kommt (vgl. Scherf 2020). Auffällig ist, dass etwa die Hälfte dieser Lieder erstens der Barockepoche zuzuordnen ist und zweitens den Traum in einen negativen Zusammenhang stellt: So werden in der Regel nur „böse“ Träume in einer Reihe mit Gespenstern und anderen Gefahren der Nacht thematisiert, wie etwa bei Johann Franck (auch: Frank; 1618 bis 1677): „Oeffne deiner güte fenster / Sende deine macht herab / Daß die schwartzen nacht=gespenster / Daß des todes finstres grab/ Daß das übel so bey nacht / Unsern leib zu fällen tracht’t / Mich nicht mit dem netz ümdecke / Noch ein böser traum mich schrecke.“ (Str. 5)<ref>Francks Abendlied beginnt mit den Versen „UNsre müden augen=lieder/Schliessen sich itzt schläffrig zu“ und findet sich als Lied Nr. 709 in der Hildesheimer Ausgabe des ''Neu=vermehrte[n] Geistliche[n] Gesangbuch[s]'' von 1700.</ref> In einem vergleichbaren Abendlied soll Gott, so bittet das Ich, dabei helfen, „[d]aß kein gespenst im schlaff mich thör/ Noch böser traum mein ruh verstöhr“ (Str. 9);<ref>Vgl. Lied Nr. 710 mit dem Liedanfang „DUhast/ o Vater/ tag und nacht“ (ohne Verfasserangabe) in der Hildesheimer Ausgabe des ''Neu=vermehrte[n] Geistliche[n] Gesangbuch[s]'' von 1700.</ref> in einem anderen Beispiel heißt es: „Für bösen träumen mich bewahr/ Entzeuch mich aller angst=gefahr“ (Str. 4).<ref>Vgl. Lied Nr. 723 mit dem Liedanfang „HJnunter ist der sonnen=schein“ (ohne Verfasserangabe) in der Hildesheimer Ausgabe des ''Neu=vermehrte[n] Geistliche[n] Gesangbuch[s]'' von 1700.</ref> Auch in der Abendlieddichtung Georg Philipp Harsdörffers (1607 bis 1658) ist das Träumen mit negativen Implikationen verbunden; in einem seiner Lieder bittet die Sprechinstanz beispielsweise um ruhigen Schlaf „[o]hn böse Träum und Schmertz“ (Str. 7).<ref>Harsdörffers Abendlied beginnt mit den Versen „DEr Tag ist nun vergangen mit seiner Sorgenlast“ und erschien erstmals 1647 in Dilherrs ''Weg zur Seligkeit''.</ref> | ||
Rists ''Werde munter mein Gemüte'' präsentiert einen Gegenentwurf dieser im Abendliedgenre verbreiteten negativen Trauminszenierung: In seinem Abendlied geht es nicht um böse, sondern um göttliche, vor den Gefahren der Nacht schützende Träume. Anstatt dass der Traum die Ängste vor Nacht und Schlaf noch steigert, erfüllt er hier eine Verbindungs- und zugleich eine Art Wächterfunktion: Über ihn wird eine Glaubensbindung an Gott geschaffen, die selbst im Schlaf eine bestimmte Form der Wachsamkeit und dadurch einen gewissen Schutz vor den Gefahren der Nacht ermöglichen soll. Andere Abendliedbeispiele, in denen der Traum auf diese produktive Weise eingesetzt wird, finden sich etwa im Werk der bereits erwähnten Gräfin Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt.<ref>Vgl. die Abendlieder mit den Liedanfängen „GOtt Lob! der Tag ist auch mit seiner Plag verschwunden“, „IN JEsu Nahmen will ich nun zu Bette gehen“ sowie „WEr kan so frölich / als wie ich“ in Schwarzburg-Rudolstadts Werksammlung ''Der Freundin des Lammes Geistlicher Braut=Schmuck'' von 1714.</ref> | Rists ''Werde munter mein Gemüte'' präsentiert einen Gegenentwurf dieser im Abendliedgenre verbreiteten negativen Trauminszenierung: In seinem Abendlied geht es nicht um böse, sondern um göttliche, vor den Gefahren der Nacht schützende Träume. Anstatt dass der Traum die Ängste vor Nacht und Schlaf noch steigert, erfüllt er hier eine Verbindungs- und zugleich eine Art Wächterfunktion: Über ihn wird eine Glaubensbindung an Gott geschaffen, die selbst im Schlaf eine bestimmte Form der Wachsamkeit und dadurch einen gewissen Schutz vor den Gefahren der Nacht ermöglichen soll. Andere Abendliedbeispiele, in denen der Traum auf diese produktive Weise eingesetzt wird, finden sich etwa im Werk der bereits erwähnten Gräfin Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt.<ref>Vgl. die Abendlieder mit den Liedanfängen „GOtt Lob! der Tag ist auch mit seiner Plag verschwunden“, „IN JEsu Nahmen will ich nun zu Bette gehen“ sowie „WEr kan so frölich / als wie ich“ in Schwarzburg-Rudolstadts Werksammlung ''Der Freundin des Lammes Geistlicher Braut=Schmuck'' von 1714.</ref> | ||
=Analyse und Interpretation= | |||
==Form== | |||
Rists “Werde munter mein Gemüte” weist eine regelmäßige formale Gestalt auf, die die Sangbarkeit des Abendliedes unterstützt: Es besteht aus zwölf Strophen mit jeweils acht Versen. Das Reimschema setzt sich zusammen aus einem Kreuzreim gefolgt von zwei Paarreimen (ababccdd) mit regelmäßig wechselnden weiblichen (a- und d-Reim) und männlichen Kadenzen (b- und c-Reim). Beim Metrum handelt es sich um einen vierhebigen Trochäus. Die schlichte Form ist charakteristisch für barocke (Abend-)Lieder bzw. geistliche Barockdichtung im Allgemeinen: „Die Gestalt der geistlichen Lyrik ist weitgehend durch die Tradition bestimmt. Ihre Themen werden seit Luthers Tagen von Generation zu Generation weitergegeben. Die alten Melodien bestimmen den Rhythmus der Lieder; nur sehr zögernd dringt der Alexandriner in das Kirchenlied ein.“ (Zell 1971, 80) Ebenso ist Rists Abendlied wie auch vergleichbare geistliche Lieder des Barock hinsichtlich der Sprache eher einfach gehalten; der zeitgenössische Schriftsteller Albert Graf Curtz (1600-1671) spricht diesbezüglich von der „Einfalt deß heyligen Lieds“ (Curtz 1659, Ax r.). Als Stilprinzip der geistlichen Barocklyrik tritt anstelle der rhetorischen Ausschmückung die (häusliche) Andacht (vgl. Zell 1971). | Rists “Werde munter mein Gemüte” weist eine regelmäßige formale Gestalt auf, die die Sangbarkeit des Abendliedes unterstützt: Es besteht aus zwölf Strophen mit jeweils acht Versen. Das Reimschema setzt sich zusammen aus einem Kreuzreim gefolgt von zwei Paarreimen (ababccdd) mit regelmäßig wechselnden weiblichen (a- und d-Reim) und männlichen Kadenzen (b- und c-Reim). Beim Metrum handelt es sich um einen vierhebigen Trochäus. Die schlichte Form ist charakteristisch für barocke (Abend-)Lieder bzw. geistliche Barockdichtung im Allgemeinen: „Die Gestalt der geistlichen Lyrik ist weitgehend durch die Tradition bestimmt. Ihre Themen werden seit Luthers Tagen von Generation zu Generation weitergegeben. Die alten Melodien bestimmen den Rhythmus der Lieder; nur sehr zögernd dringt der Alexandriner in das Kirchenlied ein.“ (Zell 1971, 80) Ebenso ist Rists Abendlied wie auch vergleichbare geistliche Lieder des Barock hinsichtlich der Sprache eher einfach gehalten; der zeitgenössische Schriftsteller Albert Graf Curtz (1600-1671) spricht diesbezüglich von der „Einfalt deß heyligen Lieds“ (Curtz 1659, Ax r.). Als Stilprinzip der geistlichen Barocklyrik tritt anstelle der rhetorischen Ausschmückung die (häusliche) Andacht (vgl. Zell 1971). | ||
==Thema und Hinführung== | |||
Beim zentralen Thema des Abendliedes handelt es sich um die Bitte um göttlichen Schutz vor der Bedrohlichkeit der Nacht. Dieses transportiert Rist u. a. über die Gegenspieler Gott und Teufel bzw. Satan sowie verwandte Antonyme, etwa Segen versus Unheil, Licht versus Finsternis, Tag versus Nacht. Letzteres Gegensatzpaar findet explizite Erwähnung in der vierten Strophe durch die Antithese „Dieser Tag ist nun vergangen Die betrübte Nacht bricht an“, die zugleich den (späten) Abend als konkreten Sprechzeitpunkt des Textes markiert. In den drei vorangehenden Strophen findet eine Art Tagesrekapitulation und eine daraus hervorgehende Lobrede auf Gott statt, in der das Sprecher-Ich letzterem für das Be- und Überstehen der täglichen Aufgaben und Herausforderungen dankt. Der in der vierten Strophe angekündigte Eintritt der Nacht ist mit Ängsten des sich zu Bett begebenden Ichs besetzt: Die bevorstehende Schlafenszeit bedeutet eine Beeinträchtigung der tagsüber gegebenen Wachsamkeit und somit eine Anfälligkeit für potenzielle Gefahren der Nacht. Zur Veranschaulichung des verängstigten Zustands des Ichs wird das Bild eines in der Nacht erkalteten Herzens entworfen, das durch den „Glantz“ Gottes „erhitz[t]“ werden soll (Str. 4). Dieses Bild wird im Folgenden weitergeführt: In der fünften Strophe beschreibt die Sprechinstanz ihr Herz als von Sünden und schlechten Taten „beladen/ Und so gar vergifftet“, was sie für den Teufel empfänglich mache: „Daß auch Satan durch sein Spiel Mich zur Hellen stürtzen wil“ (Str. 5). Dem entgegen steht die positive Darstellung des von Gott erfüllten Herzens in der achten Strophe: „Wenn ich dich nur hab’ im Hertzen Fühl’ ich nicht der Seelen Schmertzen.“ | Beim zentralen Thema des Abendliedes handelt es sich um die Bitte um göttlichen Schutz vor der Bedrohlichkeit der Nacht. Dieses transportiert Rist u. a. über die Gegenspieler Gott und Teufel bzw. Satan sowie verwandte Antonyme, etwa Segen versus Unheil, Licht versus Finsternis, Tag versus Nacht. Letzteres Gegensatzpaar findet explizite Erwähnung in der vierten Strophe durch die Antithese „Dieser Tag ist nun vergangen Die betrübte Nacht bricht an“, die zugleich den (späten) Abend als konkreten Sprechzeitpunkt des Textes markiert. In den drei vorangehenden Strophen findet eine Art Tagesrekapitulation und eine daraus hervorgehende Lobrede auf Gott statt, in der das Sprecher-Ich letzterem für das Be- und Überstehen der täglichen Aufgaben und Herausforderungen dankt. Der in der vierten Strophe angekündigte Eintritt der Nacht ist mit Ängsten des sich zu Bett begebenden Ichs besetzt: Die bevorstehende Schlafenszeit bedeutet eine Beeinträchtigung der tagsüber gegebenen Wachsamkeit und somit eine Anfälligkeit für potenzielle Gefahren der Nacht. Zur Veranschaulichung des verängstigten Zustands des Ichs wird das Bild eines in der Nacht erkalteten Herzens entworfen, das durch den „Glantz“ Gottes „erhitz[t]“ werden soll (Str. 4). Dieses Bild wird im Folgenden weitergeführt: In der fünften Strophe beschreibt die Sprechinstanz ihr Herz als von Sünden und schlechten Taten „beladen/ Und so gar vergifftet“, was sie für den Teufel empfänglich mache: „Daß auch Satan durch sein Spiel Mich zur Hellen stürtzen wil“ (Str. 5). Dem entgegen steht die positive Darstellung des von Gott erfüllten Herzens in der achten Strophe: „Wenn ich dich nur hab’ im Hertzen Fühl’ ich nicht der Seelen Schmertzen.“ | ||
==Traumdarstellung== | |||
In Strophe neun wird die Herzensmetaphorik um einen weiteren Aspekt ergänzt, indem Rist sie mit dem Schlaf- bzw. Traumvorgang verknüpft: Dem Herzen wird die Funktion eines Verbindungsmediums zwischen schlafendem Ich und Gott zugeschrieben: Wenn sich die Augen des Ichs beim Einschlafen schließen, soll das Herz dennoch wachsam bzw. bestrebt („gefliessen“<ref>Vgl. „geflissen“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=G03889>, abgerufen am 19.04.2022.</ref>) auf Gott fokussiert sein; es löst sozusagen die Augen als (Seh-)Sinnesorgan im Schlaf ab. Die Vorstellung eines dem Herrn entgegenblickenden Herzens erinnert an eine Bibelstelle aus dem Buch Samuel, an der sich ein vergleichbares Bild mit umgekehrter Blickrichtung findet: „Ein Mensch sihet was fur augen ist / ''der HERR aber sihet das hertz an'' [Hervor. d. Verf.].“ (1 Sam 16,7) Die im Bibeltext beschriebene Anschauung kann als göttliche Ergründung des Herzens und damit, aufgrund der Verwobenheit der entsprechenden Begriffe, als Ergründung der Seele verstanden werden: „In vielen Fällen lässt sich die Bezeichnung ›Herz‹ entweder als Synonym oder – sofern man ernst nimmt, dass das Herz in seiner Lokalisierbarkeit, Materialität und Sterblichkeit der Seele nicht entspricht – wenigstens als eine Art ›Metapher‹ für die Seele betrachten. Auch von einer metonymischen Repräsentation der Seele durch das Herz könnte man, dieses als Seelensitz begreifend, sprechen.“ (Doms 2010, 115) Diese Verflechtung von Herz und Seele geht aus Rists Abendlied deutlich hervor: Auf die Schilderung des auf Gott konzentrierten Herzens folgt unmittelbar die Aufforderung an die Seele, „mit Begier“ (Str. 9) und immerzu von Gott zu träumen. Statt von einer Verflechtung könnte hier auch von einer Verschaltung gesprochen werden, denn während die Herzensausrichtung die Grundlage für den Kontaktaufbau mit Gott bildet, ist es im zweiten Schritt die Seele des Ichs, die die erwünschte Verbindung zu Gott über den Traum ermöglicht. Entsprechend der frühneuzeitlichen, u. a. auf die Traumtheorie Philipp Melanchthons (1497-1560) zurückgehenden Vorstellung von göttlichen Träumen als etwas Widerfahrendes, „nit ohn gefähr/ auch nicht auß natürlichen vrsachen/sonder von oben herab“<ref>Vgl. Vorrede in: Artemidor: Traumbuch, S. 25. Melanchthons Beschreibung unterschiedlicher Traumarten (natürliche, weissagende, göttliche und teuflische Träume) findet sich ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der lateinischen Ausgabe des in der frühen Neuzeit viel rezipierten Traumdeutungsbuches des antiken Philosophen Artemidor von Daldis sowie in der deutschen Übersetzung desselben durch Walther Hermann Ryff (um 1500-1548).</ref> Kommendes fällt der Seele dabei die Funktion eines Empfangsmediums zu. Dies wird vor allem anhand der im 17. Jahrhundert verbreiteten Dativkonstruktion des Verbs ›träumen‹<ref>Vgl. „träumen, vb.“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=T09162>, abgerufen am 19.04.2022.</ref> in den beiden Schlüsselversen „Meiner Seele mit Begier Träume stets O Gott von dir“ deutlich, auf deren Wirkung auch Schirrmeister aufmerksam macht: „In der im Deutschen (nicht aber im Englischen oder Französischen) möglichen Formulierung ''ihm träumte'' anstatt des üblichen ''er träumte'' scheint noch die Vorstellung des Träumenden als Objekt statt eines Subjekts seiner Träume auf.“ (Schirrmeister 2001, 298) | In Strophe neun wird die Herzensmetaphorik um einen weiteren Aspekt ergänzt, indem Rist sie mit dem Schlaf- bzw. Traumvorgang verknüpft: Dem Herzen wird die Funktion eines Verbindungsmediums zwischen schlafendem Ich und Gott zugeschrieben: Wenn sich die Augen des Ichs beim Einschlafen schließen, soll das Herz dennoch wachsam bzw. bestrebt („gefliessen“<ref>Vgl. „geflissen“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=G03889>, abgerufen am 19.04.2022.</ref>) auf Gott fokussiert sein; es löst sozusagen die Augen als (Seh-)Sinnesorgan im Schlaf ab. Die Vorstellung eines dem Herrn entgegenblickenden Herzens erinnert an eine Bibelstelle aus dem Buch Samuel, an der sich ein vergleichbares Bild mit umgekehrter Blickrichtung findet: „Ein Mensch sihet was fur augen ist / ''der HERR aber sihet das hertz an'' [Hervor. d. Verf.].“ (1 Sam 16,7) Die im Bibeltext beschriebene Anschauung kann als göttliche Ergründung des Herzens und damit, aufgrund der Verwobenheit der entsprechenden Begriffe, als Ergründung der Seele verstanden werden: „In vielen Fällen lässt sich die Bezeichnung ›Herz‹ entweder als Synonym oder – sofern man ernst nimmt, dass das Herz in seiner Lokalisierbarkeit, Materialität und Sterblichkeit der Seele nicht entspricht – wenigstens als eine Art ›Metapher‹ für die Seele betrachten. Auch von einer metonymischen Repräsentation der Seele durch das Herz könnte man, dieses als Seelensitz begreifend, sprechen.“ (Doms 2010, 115) Diese Verflechtung von Herz und Seele geht aus Rists Abendlied deutlich hervor: Auf die Schilderung des auf Gott konzentrierten Herzens folgt unmittelbar die Aufforderung an die Seele, „mit Begier“ (Str. 9) und immerzu von Gott zu träumen. Statt von einer Verflechtung könnte hier auch von einer Verschaltung gesprochen werden, denn während die Herzensausrichtung die Grundlage für den Kontaktaufbau mit Gott bildet, ist es im zweiten Schritt die Seele des Ichs, die die erwünschte Verbindung zu Gott über den Traum ermöglicht. Entsprechend der frühneuzeitlichen, u. a. auf die Traumtheorie Philipp Melanchthons (1497-1560) zurückgehenden Vorstellung von göttlichen Träumen als etwas Widerfahrendes, „nit ohn gefähr/ auch nicht auß natürlichen vrsachen/sonder von oben herab“<ref>Vgl. Vorrede in: Artemidor: Traumbuch, S. 25. Melanchthons Beschreibung unterschiedlicher Traumarten (natürliche, weissagende, göttliche und teuflische Träume) findet sich ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der lateinischen Ausgabe des in der frühen Neuzeit viel rezipierten Traumdeutungsbuches des antiken Philosophen Artemidor von Daldis sowie in der deutschen Übersetzung desselben durch Walther Hermann Ryff (um 1500-1548).</ref> Kommendes fällt der Seele dabei die Funktion eines Empfangsmediums zu. Dies wird vor allem anhand der im 17. Jahrhundert verbreiteten Dativkonstruktion des Verbs ›träumen‹<ref>Vgl. „träumen, vb.“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=T09162>, abgerufen am 19.04.2022.</ref> in den beiden Schlüsselversen „Meiner Seele mit Begier Träume stets O Gott von dir“ deutlich, auf deren Wirkung auch Schirrmeister aufmerksam macht: „In der im Deutschen (nicht aber im Englischen oder Französischen) möglichen Formulierung ''ihm träumte'' anstatt des üblichen ''er träumte'' scheint noch die Vorstellung des Träumenden als Objekt statt eines Subjekts seiner Träume auf.“ (Schirrmeister 2001, 298) | ||
Darüber hinaus vermischen sich in Rists Traumdarstellung geistige und körperliche Verbundenheit: Das lyrische Ich erhofft sich von seinen nächtlichen Träumen, Gott als Beschützer im Geiste bei sich zu haben, um „auch schlaffend“ sein zu verbleiben (Str. 9); das Adverb „auch“ betont dabei das tiefe Gottvertrauen des Ichs, denn es impliziert, dass die im Schlaf (bzw. in der Nacht) erbetene Verbundenheit im Wachzustand (bzw. bei Tag) bereits gegeben ist. Gleichzeitig sehnt sich das Ich danach, an Gott zu „bekleiben“, will also physisch mit ihm verbunden sein, an ihm ‚kleben‘.<ref>Vgl. „bekleiben“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=B03509>, abgerufen am 19.04.2022.</ref> Mit Berührungsmetaphorik wird auch in den vorangehenden Strophen gespielt, indem das Ich seine Ängste vor sowohl irrealen als auch realen Gefahren als körperliche Angriffe ebendieser darstellt: Es bittet um göttlichen Beistand, vom Teufel „nicht beschmitzet“ (Str. 1) zu werden und von seinen Feinden „unbeschädigt“ (Str. 2) zu bleiben. Dem gegenüber steht das bereits erwähnte schmerzfreie Gefühl, Gott im Herzen zu tragen (vgl. Str. 8). | Darüber hinaus vermischen sich in Rists Traumdarstellung geistige und körperliche Verbundenheit: Das lyrische Ich erhofft sich von seinen nächtlichen Träumen, Gott als Beschützer im Geiste bei sich zu haben, um „auch schlaffend“ sein zu verbleiben (Str. 9); das Adverb „auch“ betont dabei das tiefe Gottvertrauen des Ichs, denn es impliziert, dass die im Schlaf (bzw. in der Nacht) erbetene Verbundenheit im Wachzustand (bzw. bei Tag) bereits gegeben ist. Gleichzeitig sehnt sich das Ich danach, an Gott zu „bekleiben“, will also physisch mit ihm verbunden sein, an ihm ‚kleben‘.<ref>Vgl. „bekleiben“, Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=B03509>, abgerufen am 19.04.2022.</ref> Mit Berührungsmetaphorik wird auch in den vorangehenden Strophen gespielt, indem das Ich seine Ängste vor sowohl irrealen als auch realen Gefahren als körperliche Angriffe ebendieser darstellt: Es bittet um göttlichen Beistand, vom Teufel „nicht beschmitzet“ (Str. 1) zu werden und von seinen Feinden „unbeschädigt“ (Str. 2) zu bleiben. Dem gegenüber steht das bereits erwähnte schmerzfreie Gefühl, Gott im Herzen zu tragen (vgl. Str. 8). | ||
==Schluss== | |||
Das Bild vom göttlichen Beschützer in der Nacht wird in den abschließenden drei Strophen erweitert: Der Segen Gottes wird als Bettdecke metaphorisiert, die sich schützend über das schlafende Ich legen soll. Gott soll jedoch nicht nur das Ich selbst behüten, sondern den christlichen Wertevorstellungen der Zeit folgend auch all das, was diesem zugehörig oder wichtig ist – selbst seine Feinde: „Leib und Seele/ Muth und Blut/ Weib und Kinder/ Haab’ und Gut/ Freunde/ Feind’ und Haußgenossen/ Seyn in deinen Schutz geschlossen.“ (Str. 10) Mit der Formulierung „Weib und Kinder“ wird dabei erstmals eine geschlechtliche Markierung des lyrischen Ichs angedeutet. Eine männliche Sprechinstanz erscheint insofern plausibel, als davon auszugehen ist, dass das Vorsingen von Abendliedern traditionell durch den Hausvater erfolgte, dem in der frühen Neuzeit sowie darüber hinaus die (An-)Leitung häuslicher Andachten zufiel (vgl. Meyer 2020, 476), wie etwa auch das ein Jahrhundert später erschienene Abend- und heutige Volkslied ''Der Mond ist aufgegangen'' (ED 1779)<ref>Claudius’ Abendlied ''Der Mond ist aufgegangen'' erschien erstmals 1779 im ''Musen Almanach''.</ref> von Matthias Claudius (1740 bis 1815) impliziert (vgl. Str. 3 und 7). | Das Bild vom göttlichen Beschützer in der Nacht wird in den abschließenden drei Strophen erweitert: Der Segen Gottes wird als Bettdecke metaphorisiert, die sich schützend über das schlafende Ich legen soll. Gott soll jedoch nicht nur das Ich selbst behüten, sondern den christlichen Wertevorstellungen der Zeit folgend auch all das, was diesem zugehörig oder wichtig ist – selbst seine Feinde: „Leib und Seele/ Muth und Blut/ Weib und Kinder/ Haab’ und Gut/ Freunde/ Feind’ und Haußgenossen/ Seyn in deinen Schutz geschlossen.“ (Str. 10) Mit der Formulierung „Weib und Kinder“ wird dabei erstmals eine geschlechtliche Markierung des lyrischen Ichs angedeutet. Eine männliche Sprechinstanz erscheint insofern plausibel, als davon auszugehen ist, dass das Vorsingen von Abendliedern traditionell durch den Hausvater erfolgte, dem in der frühen Neuzeit sowie darüber hinaus die (An-)Leitung häuslicher Andachten zufiel (vgl. Meyer 2020, 476), wie etwa auch das ein Jahrhundert später erschienene Abend- und heutige Volkslied ''Der Mond ist aufgegangen'' (ED 1779)<ref>Claudius’ Abendlied ''Der Mond ist aufgegangen'' erschien erstmals 1779 im ''Musen Almanach''.</ref> von Matthias Claudius (1740 bis 1815) impliziert (vgl. Str. 3 und 7). | ||
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Lina Saar]]</div> | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Lina Saar]]</div> | ||
=Literatur= | |||
==Primärliteratur== | |||
==='Abendlied' und Traumtexte von Johann Rist (in der Reihenfolge ihrer Nennung im vorliegenden Artikel)=== | |||
'Werde munter mein Gemüte' | 'Werde munter mein Gemüte' | ||
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*Rist, Johann: Perseus [1634]. In: Ders.: Sämtliche Werke. 12 Bde. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bd. I: Dramatische Dichtungen (Irenaromachia, Perseus). Hg. von Eberhard Mannack unter Mitw. von Helga Mannack. Berlin: de Gruyter 1967, 117-282. | *Rist, Johann: Perseus [1634]. In: Ders.: Sämtliche Werke. 12 Bde. Hg. von Hans-Gert Roloff. Bd. I: Dramatische Dichtungen (Irenaromachia, Perseus). Hg. von Eberhard Mannack unter Mitw. von Helga Mannack. Berlin: de Gruyter 1967, 117-282. | ||
===Abendlieder anderer Dichter:innen=== | |||
* Anonymus: DUhast/ o Vater/ tag und nacht. In: Neu=vermehrtes Geistliches Gesangbuch / In welchem über 800. schöne Psalmen/Lob-Gesänge und geistliche Lieder/zur Beförderung der Hauß=und Kirchen=Andacht gefunden werden […]. Hildesheim: Peter Stürtz 1700, S. 989-991; https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN848024796&PHYSID=PHYS_0987&DMDID=DMDLOG_0041 . | * Anonymus: DUhast/ o Vater/ tag und nacht. In: Neu=vermehrtes Geistliches Gesangbuch / In welchem über 800. schöne Psalmen/Lob-Gesänge und geistliche Lieder/zur Beförderung der Hauß=und Kirchen=Andacht gefunden werden […]. Hildesheim: Peter Stürtz 1700, S. 989-991; https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht?PPN=PPN848024796&PHYSID=PHYS_0987&DMDID=DMDLOG_0041 . | ||
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* Traumbuch/ Artemidori deß Griechischen Philosophi/ darinnen von vrsprung/ unterscheid und bedeutung/ allerhand Träume/ […]. Sampt einer Erinnerung Philippi Melanchtonis von unterscheid der Träume/ Vnd angehencktem Bericht was von Träumen zu halten seye. Straßburg: Heyden 1624; https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/397795/1. | * Traumbuch/ Artemidori deß Griechischen Philosophi/ darinnen von vrsprung/ unterscheid und bedeutung/ allerhand Träume/ […]. Sampt einer Erinnerung Philippi Melanchtonis von unterscheid der Träume/ Vnd angehencktem Bericht was von Träumen zu halten seye. Straßburg: Heyden 1624; https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/397795/1. | ||
==Sekundärliteratur== | |||
* Auerochs, Bernd: Kontrafaktur. In: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moenninghoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart: Metzler 3. neu bearb. Aufl. 2007, 398 f. | * Auerochs, Bernd: Kontrafaktur. In: Dieter Burdorf/Christoph Fasbender/Burkhard Moenninghoff (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart: Metzler 3. neu bearb. Aufl. 2007, 398 f. | ||
Zeile 275: | Zeile 275: | ||
* Zell, Carl-Alfred: Untersuchungen zum Problem der geistlichen Barocklyrik mit besonderer Berücksichtigung der Dichtung Johann Heermanns (1585-1647). Heidelberg: Winter 1971. | * Zell, Carl-Alfred: Untersuchungen zum Problem der geistlichen Barocklyrik mit besonderer Berücksichtigung der Dichtung Johann Heermanns (1585-1647). Heidelberg: Winter 1971. | ||
=Anmerkungen= | |||
<references /> | <references /> |