"Mao" (Friedrich Huch): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 13. August 2022, 10:03 Uhr
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Zum Ende des Romans nimmt die akustische Untermalung der spezifischen Wahrnehmung dieser Figur stetig zu. Als Thomas eines nachts in den Ruinen des halb abgerissenen Hauses umhergeht, heißt es: <blockquote>„Er fühlte seinen Körper nicht mehr, […]. Wie ein Schlafwandler schritt er leicht und sicher an allen aufgerissenen Tiefen vorüber, […] leise wuchs das alte Haus um ihn empor, […] leise Töne eines uralten Gesanges umschwebten ihn. […] Die Töne schwollen an, dumpf rollten sie aus allen Gängen hin […], dumpf wurden sie zurückgeworfen, um abermals zurückzurollen, in ewig gleichmäßiger Bewegung, dumpfer, leiser, bis sie ganz zum Murmeln wurden und erstarben. Aber in der ungeheuren Stille um ihn her erhob sich ein fernes Rauschen wie von Blättern, das näher und näher schwoll, vom Sturm getrieben, seine Stimmen dröhnten und brachen sich im Anprall, und nun jagten, brausten, flammten, flackerten sie ihm durchs Blut. […] Da klang, sprang und zerriß eine ungeheure Harfe. Arbeiter fanden ihn am anderen Morgen im Abgrund, tot, im fahlen Frühlicht.“ (157 f.)</blockquote>Der Traum bzw. eine höchst individuelle, traumhafte Wahrnehmung sind in dieser Erzählung auf mehreren Ebenen dominant. Was die Struktur betrifft, kommen der Traum und das Träumen in einem traumförmig strukturierten Handlungsablauf (vgl. Steinlein 2008, 2) zur Darstellung, der surrealistische Erzählweisen vorwegnimmt. Inspiriert sind diese Darstellungen eines diffusen Zwischenraumes von Wach- und Traumbewusstsein augenscheinlich aus den Kindheitserlebnissen des Autors, aber auch aus seinen Traumnotaten (vgl. Schäfer 2021). Mit Blick auf den Effekt dieser Darstellung wird eine Nähe zur schwarzen Romantik deutlich, da der Traum auch hier „als Medium der Entdifferenzierung und Aufhebung der Identität, als Schauplatz von Verdopplung, Ich-Diffusion und Selbstentfremdung, von Rollenwechsel und Transgression, von Besessenheit und Triebdetermination“ (Alt 2005, 20) erscheint. Hinzu kommt der Aspekt, dass traumhafte und kindliche Wahrnehmung enggeführt werden, wobei eine qualitative Differenzierung von weiblichen und männlichen Figuren sichtbar wird. So bedauert es die Mutter des Protagonisten, dass ihre Tochter so hartherzig und pragmatisch ist, während ihr Sohn sich als überaus sensibel und träumerisch erweist; Attribute, die man einem Mädchen verzeihen könnte, die sich für einen Jungen jedoch nicht zu eignen scheinen. Der Umzug und der damit verbundene endgültige Verlust des geliebten Bildes markieren das Ende der kindlichen Träumerei (vgl. Li 1989, 77). Die finale Szene, die einer wahnhaften (Traum-)Vision gleicht, kann daher auch als bewusste Abwehr der Anforderungen an die Integration eines männlichen Individuums in die geschilderte Erwachsenengesellschaft gelesen werden. Die Figur ist nicht im Stande oder nicht gewillt, ihre individuelle traumhafte Wahrnehmung sowie die als höchst angenehm empfundene Symbiose mit dem Elternhaus und dem geliebten Bild aufzugeben. | Zum Ende des Romans nimmt die akustische Untermalung der spezifischen Wahrnehmung dieser Figur stetig zu. Als Thomas eines nachts in den Ruinen des halb abgerissenen Hauses umhergeht, heißt es: <blockquote>„Er fühlte seinen Körper nicht mehr, […]. Wie ein Schlafwandler schritt er leicht und sicher an allen aufgerissenen Tiefen vorüber, […] leise wuchs das alte Haus um ihn empor, […] leise Töne eines uralten Gesanges umschwebten ihn. […] Die Töne schwollen an, dumpf rollten sie aus allen Gängen hin […], dumpf wurden sie zurückgeworfen, um abermals zurückzurollen, in ewig gleichmäßiger Bewegung, dumpfer, leiser, bis sie ganz zum Murmeln wurden und erstarben. Aber in der ungeheuren Stille um ihn her erhob sich ein fernes Rauschen wie von Blättern, das näher und näher schwoll, vom Sturm getrieben, seine Stimmen dröhnten und brachen sich im Anprall, und nun jagten, brausten, flammten, flackerten sie ihm durchs Blut. […] Da klang, sprang und zerriß eine ungeheure Harfe. Arbeiter fanden ihn am anderen Morgen im Abgrund, tot, im fahlen Frühlicht.“ (157 f.)</blockquote>Der Traum bzw. eine höchst individuelle, traumhafte Wahrnehmung sind in dieser Erzählung auf mehreren Ebenen dominant. Was die Struktur betrifft, kommen der Traum und das Träumen in einem traumförmig strukturierten Handlungsablauf (vgl. Steinlein 2008, 2) zur Darstellung, der surrealistische Erzählweisen vorwegnimmt. Inspiriert sind diese Darstellungen eines diffusen Zwischenraumes von Wach- und Traumbewusstsein augenscheinlich aus den Kindheitserlebnissen des Autors, aber auch aus seinen Traumnotaten (vgl. Schäfer 2021). Mit Blick auf den Effekt dieser Darstellung wird eine Nähe zur schwarzen Romantik deutlich, da der Traum auch hier „als Medium der Entdifferenzierung und Aufhebung der Identität, als Schauplatz von Verdopplung, Ich-Diffusion und Selbstentfremdung, von Rollenwechsel und Transgression, von Besessenheit und Triebdetermination“ (Alt 2005, 20) erscheint. Hinzu kommt der Aspekt, dass traumhafte und kindliche Wahrnehmung enggeführt werden, wobei eine qualitative Differenzierung von weiblichen und männlichen Figuren sichtbar wird. So bedauert es die Mutter des Protagonisten, dass ihre Tochter so hartherzig und pragmatisch ist, während ihr Sohn sich als überaus sensibel und träumerisch erweist; Attribute, die man einem Mädchen verzeihen könnte, die sich für einen Jungen jedoch nicht zu eignen scheinen. Der Umzug und der damit verbundene endgültige Verlust des geliebten Bildes markieren das Ende der kindlichen Träumerei (vgl. Li 1989, 77). Die finale Szene, die einer wahnhaften (Traum-)Vision gleicht, kann daher auch als bewusste Abwehr der Anforderungen an die Integration eines männlichen Individuums in die geschilderte Erwachsenengesellschaft gelesen werden. Die Figur ist nicht im Stande oder nicht gewillt, ihre individuelle traumhafte Wahrnehmung sowie die als höchst angenehm empfundene Symbiose mit dem Elternhaus und dem geliebten Bild aufzugeben. | ||
== Ausgaben == | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Iris Schäfer]]</div> | ||
==Literatur== | |||
===Ausgaben=== | |||
* Die Seitenangaben der Zitate in diesem Artikel beziehen sich auf die untenstehende ungekürzte Ausgabe, die 1986 im Norchia Verlag erschienen ist. | * Die Seitenangaben der Zitate in diesem Artikel beziehen sich auf die untenstehende ungekürzte Ausgabe, die 1986 im Norchia Verlag erschienen ist. | ||
* Huch, Friedrich: Mao. Roman. Bergisch Gladbach: Noricha 1986. | * Huch, Friedrich: Mao. Roman. Bergisch Gladbach: Noricha 1986; zitiert mit der Sigle M. | ||
===Kontexte=== | |||
* Huch, Marie: Im Treibsand der Erinnerungen. Braunschweig: Graff 1978. | |||
* Kubin, Alfred: | |||
== Forschungsliteratur == | ===Forschungsliteratur=== | ||
* Alt, Peter-André: Romantische Traumtexte und das Wissen der Literatur. In: Ders. | * Alt, Peter-André: Romantische Traumtexte und das Wissen der Literatur. In: Ders./Christiane Leiteritz (Hg.:) Traum-Diskurse der Romantik. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 3-29. | ||
* Beese, Marianne: Kampf zwischen alter und neuer Welt – Dichter der Zeitenwende. Rostock: Neuer Hochschulschriftenverlag 2001. | * Beese, Marianne: Kampf zwischen alter und neuer Welt – Dichter der Zeitenwende. Rostock: Neuer Hochschulschriftenverlag 2001. | ||
* Funke, Dieter: Die dritte Haut – Psychoanalyse des Wohnens. Gießen :Psychosozial Verlag 2006. | * Funke, Dieter: Die dritte Haut – Psychoanalyse des Wohnens. Gießen: Psychosozial Verlag 2006. | ||
* Greuner, Ruth: Nachwort | * Greuner, Ruth: Nachwort. In: Friedrich Huch: Träume. Neue Träume. [1904/1917] Berlin: Der Morgen 1983, 139-176. | ||
* Hauser, Erik: Traumfluchten oder: Die imaginierte Reise in den Tod | * Hauser, Erik: Traumfluchten oder: Die imaginierte Reise in den Tod. Zur Verwendung des Traummotivs in der deutschsprachigen Phantastik in der ersten Hälfte des 20. Jhds. In: Homas LeBlanc/Bettina Twrsnick (Hg.): Traumreich und Nachtseite. Die deutschsprachige Phantastik zwischen Décadence und Faschismus. Bd. 2. Wetzlar: Förderkreis Phantastik in Wetzlar 1996, 145-169. | ||
* Huller, Helene: Der Schriftsteller Friedrich Huch. Studien zur Literatur und Gesellschaft um die Jahrhundertwende. Dissertation Ludwig Maximilian-Universität München 1974. | |||
* Huller, Helene: Der Schriftsteller Friedrich Huch. | * Imai, Atsushi: Das Bild des ästhetisch-empfindsamen Jugendlichen. Deutsche Schul- und Adoleszenzromane zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag 2001. | ||
* Imai, Atsushi: Das Bild des ästhetisch-empfindsamen Jugendlichen | |||
* Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014. | * Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014. | ||
* Li, Wenchao: Das Motiv der Kindheit und die Gestalt des Kindes in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende | * Li, Wenchao: Das Motiv der Kindheit und die Gestalt des Kindes in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Untersuchungen zu Thomas Manns Buddenbrooks, Friedrich Huchs ''Mao'' und Emil Strauß' ''Freund Hein''. Dissertation FU Berlin 1989. | ||
* Rottensteiner, Franz: Die dunkle Seite der | * Rottensteiner, Franz: Die dunkle Seite der Wirklichkeit. Aufsätze zur Phantastik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987. | ||
* Schäfer, Iris: | * Schäfer, Iris: Von erinnerten Träumen und traumhaften Erinnerungen. Form, Funktion und Interpretation der Kategorie des Traumnotats. In: Gabriele von Glasenapp/Andre Kagelmann/Ingrid Tomkowiak (Hg.), Erinnerung reloaded? (Re-)Inszenierungen des kulturellen Gedächtnisses in Kinder- und Jugendmedien. Stuttgart: Metzler 2021, 251-264. | ||
* Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: Traumprotokolle und Traumtagebücher. In: Alfred Krovoza | * Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: Traumprotokolle und Traumtagebücher. In: Alfred Krovoza/Christine Walde (Hg.): Traum und Schlaf. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Metzler 2018a, 88-101. | ||
* Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: Die Traumaufzeichnung als literarische Gattung. Friedrich Huchs Träume. In: Thomas Ballhausen | * Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: Die Traumaufzeichnung als literarische Gattung. Friedrich Huchs Träume. In: Thomas Ballhausen/Christina Agnes Tuczay (Hg.): Traumnarrative – Motivische Muster – Erzählerische Traditionen – Medienübergreifende Perspektiven. Wien: Praesens 2018b, 30-45. | ||
* Steinlein, Rüdiger: „eigentlich sind es nur Träume“. Der Traum als Motiv und Narrativ in märchenhaft-phantastischer Kinderliteratur von E. T. A. Hoffmann bis Paul Maar. In: Zeitschrift für Germanistik (2008) | * Steinlein, Rüdiger: „eigentlich sind es nur Träume“. Der Traum als Motiv und Narrativ in märchenhaft-phantastischer Kinderliteratur von E.T.A. Hoffmann bis Paul Maar. In: Zeitschrift für Germanistik 18 (2008), 72–86. | ||
* Weber, Constantin: Jugendmentalitäten. Faktuale und fiktionale Repräsentationen um 1900 und 2000. Berlin: Mensch und Buch 2011. | * Weber, Constantin: Jugendmentalitäten. Faktuale und fiktionale Repräsentationen um 1900 und 2000. Berlin: Mensch und Buch 2011. | ||
* Wucherpfennig, Wolf: Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900. München: Fink 1980. | * Wucherpfennig, Wolf: Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900. München: Fink 1980. | ||
== Anmerkungen == | == Anmerkungen == | ||
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Zitiervorschlag für diesen Artikel: | Zitiervorschlag für diesen Artikel: | ||
Schäfer, Iris: "Mao" (Friedrich Huch). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Mao%22_(Friedrich_Huch) . | Schäfer, Iris: "Mao" (Friedrich Huch). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Mao%22_(Friedrich_Huch). | ||
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