"Manifeste du surréalisme" (André Breton): Unterschied zwischen den Versionen
"Manifeste du surréalisme" (André Breton) (Quelltext anzeigen)
Version vom 24. August 2022, 09:10 Uhr
, 24. August 2022keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung |
|||
Zeile 61: | Zeile 61: | ||
Die Aufhebung der Grenzen zwischen „rêve“ und „réalité“ ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich zudem Bretons gesamtes künstlerisches Schaffen ausrichtet. | Die Aufhebung der Grenzen zwischen „rêve“ und „réalité“ ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich zudem Bretons gesamtes künstlerisches Schaffen ausrichtet. | ||
==Traumtheoretische Bezüge== | |||
An wenigen Stellen bezieht sich Breton auf die Traumdeutung von Sigmund Freud (1856–1939)<ref> Breton traf bereits 1921 auf Freud, doch dieses Treffen hat ihn ernüchtert (Jiménez 2013, 27). Er kontaktierte dennoch bis 1938 immer wieder den Psychoanalytiker in der Absicht, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit zu Stande kommt. Freud distanzierte sich jedoch beständig von diesen Bemühungen. Eine Ursache mag an den unterschiedlichen Nutzen liegen, den beide aus der Beschäftigung mit Träumen ziehen wollten. Während Freud den latenten Traumgedanken in Gesprächen bei seinen Patient*innen suchte, deutete und zu Behandlungszwecken nutzte, diente hauptsächlich der „unlogisch“ wirkende und erinnerte Traum den Surrealisten als Inspiration für ihre Werke (Gamwell 2000, 38 f.). | |||
In diesem Zusammenhang könnten auch bewusste Kompositionen der Surrealisten gesehen werden, die sich der menschlichen Logik entziehen, wie durch die Nutzung des künstlerischen Mittels der Kombinatorik. Die Verbindung bzw. das Aufeinandertreffen zweier nicht zusammengehöriger Bildelemente ist hierbei nicht nur auf die Kunst beschränkt, sondern findet sich auch als poetisches Mittel in der Literatur wieder (Schneede, S. 142 f.). Kamen sie deshalb schon nicht auf einen gemeinsamen Nenner, war Freud vermutlich Breton aufgrund dessen persönlichen und überheblichen Auftretens 1921 in der Praxis in Wien nicht sonderlich zugetan. Zudem haben Freuds verhaltenen Reaktionen auf die Bemühungen Bretons weitere Gegenaktionen ausgelöst, die sich zwischen Ausdruck von Bewunderung, öffentlicher Kritik als auch Versuchen der Verteidigung des Psychoanalytikers zur Zeit des Nationalsozialismus bewegen (Gamwell 2000, 38f.).</ref>, ohne sich detailliert zu den inhaltlichen Aspekten seiner Theorie zu äußern und auf dessen Fachbegriffe zurückzugreifen. Seine Verweise sind eher subtil, offen formuliert und als Anspielungen zu verstehen. So wird beispielsweise Freuds Auffassung des Traums als Zugangsmöglichkeit zum Unbewussten von Breton vielmehr vage angedeutet und als wichtiger Anstoß für die Aufwertung der Rolle der Imagination dargestellt: | |||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | |||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">Sur la foi de […] découvertes [de Freud], un courant d’opinion se dessine enfin, à la faveur duquel l’explorateur humain pourra pousser plus loin ses investigations, autorisé qu’il sera à ne plus seulement tenir compte des réalités sommaires. L’imagination est peut-être sur le point de reprendre ses droits (Breton 2008, 20). | |||
: <span style="color: #7b879e;">Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten (Breton 1993, 15).</span> | |||
|} | |||
Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die „surface“ treten. Mit abermaligem Verweis auf Freuds Kritik bemängelt anschließend Breton eine ungenügende Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen großen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, führt Breton seinen eigenen Gedankengang über Traum und Realität nachfolgend weiter aus (Breton 2008, 20–23; Breton 1993, 15 f.). An dieser Stelle tritt deutlich hervor, wie Freuds Traumtheorie vielmehr zur Untermauerung eigener Argumentationen Bretons genutzt wird (Goumegou 2007, 269; 279). | |||
Ein weiteres Mal bezieht sich Breton auf die Psychoanalyse nach Freud, als er die Überlegungen zur freien Assoziation von Patienten als einen Denkanstoß für die Entwicklung der ''écriture automatique'' einleitet (Goumegou 2007, 267 f.): | |||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | |||
|- | |||
|| | |||
: <span style="color: #7b879e;">Tout occupé que j’étais encore de Freud à cette époque et familiarisé avec ses méthodes d’examen que j’avais eu quelque peu l’occasion de pratiquer sur des malades pendant la guerre, je résolus d’obtenir de moi ce qu’on cherche à obtenir d´eux, soit un monologue de débit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne s’embarasse, par suite, d’aucune réticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensée parlée. Il m’avait paru, et il ma paraît encore […] que la vitesse de la pensée n´est pas supérieur à celle de la parole, et qu´elle ne défie pas forcément la langue, ni même la plume qui court (Breton 2008, 33). | |||
: <span style="color: #7b879e;">Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,<ref> Während des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die Eindrücke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets sowie Sigmund Freuds über das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42–44). </ref> und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit möglich gesprochener Gedanke wäre. Ich hatte den Eindruck, und habe ihn noch […], daß das Tempo des Denkstroms nicht größer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert (Breton 1993, 24 f.).</span> | |||
|} | |||
Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der zugleich mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden ist und der ihm kurz vor dem Einschlafen einfällt. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollständig erinnern, ihn beschäftigte aber zugleich die Satzstruktur von „[i]l y a un homme coupé en deux par la fenêtre“/„[d]a ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“ (Breton 2008, 31; Breton 1993, 23). | |||
Im Manifest tauchen zudem Bezüge zum Traumdiskurs in Frankreich des 19. Jahrhunderts auf (z.B. beim bereits geschilderten narrativen Fortgang von Träumen), sodass der Imaginationsbegriff von Breton eher mit Auffassungen des Unbewussten aus dieser Zeit korreliert (Goumegou 2007, 268 f.). Daneben haben ihn die Überlegungen der Symbolisten und Romantiker zum Traum inspiriert, woraus er im Manifest eine Traumauffassung formuliert (Jiménez 2013, 24–29.). Diese Auffassung Bretons streift also bisweilen flüchtig sowie partiell diverse Traumdiskurse mit denen er überwiegend seine Ansicht zum Verhältnis zwischen Traum und Realität zu bekräftigen sucht, weshalb in der Forschungsliteratur seine Reflexionen nicht als Traumtheorie eingestuft werden (Goumegou 2007, 279). |