"Manifeste du surréalisme" (André Breton): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 24. August 2022, 09:43 Uhr
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: <span style="color: #7b879e;">Wo beginnt sie Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken (Breton 1993, 12)?</span> | : <span style="color: #7b879e;">Wo beginnt sie Trug zu werden, und wo ist der Geist nicht mehr zuverlässig? Ist für den Geist die Möglichkeit, sich zu irren, nicht vielmehr die Zufälligkeit, richtig zu denken (Breton 1993, 12)?</span> | ||
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Er leitet nachfolgend zu den Halluzinationen, Illusionen, Einbildungen von geistig erkrankten Personen über und schildert, dass deren Handlungen mit gesellschaftlichen Normen kollidieren. Jedoch vermutet Breton, dass Imaginationen zugleich den Betroffenen Trost verschaffen. Daher ist aus seiner Sicht der Verfall des Wahnsinns durch Imaginationen nicht zu fürchten (Breton 2008, 15 f.; Breton 1993, 12). | Er leitet nachfolgend zu den Halluzinationen, Illusionen, Einbildungen von geistig erkrankten Personen über und schildert, dass deren Handlungen mit gesellschaftlichen Normen kollidieren. Jedoch vermutet Breton, dass Imaginationen zugleich den Betroffenen Trost verschaffen. Daher ist aus seiner Sicht der Verfall des Wahnsinns durch Imaginationen nicht zu fürchten (Breton 2008, 15 f.; Breton 1993, 12). | ||
Des Weiteren fordert er dazu auf, nach der Gegenpositionierung zum Materialismus auch eine solche zum Realismus einzunehmen. Breton verweist unter anderem auf rein informative oder detaillierte Literatur, die den Lesenden keinen Raum mehr für eigene Assoziationen lässt. (Breton 2008, 16–19; Breton 1993, 13–15). In seinen weiteren Ausführungen begründet Breton seine Kritik an der allzu großen Dominanz der menschlichen Logik auch damit, dass sie Lebenserfahrungen einsperrt, wobei der wissenschaftliche Kenntnisstand innerhalb einer Gesellschaft zu dieser „Freiheitsberaubung“ des Geistes zusätzlich beiträgt: | Des Weiteren fordert er dazu auf, nach der Gegenpositionierung zum Materialismus auch eine solche zum Realismus einzunehmen. Breton verweist unter anderem auf rein informative oder detaillierte Literatur, die den Lesenden keinen Raum mehr für eigene Assoziationen lässt. (Breton 2008, 16–19; Breton 1993, 13–15). In seinen weiteren Ausführungen begründet Breton seine Kritik an der allzu großen Dominanz der menschlichen Logik auch damit, dass sie Lebenserfahrungen einsperrt, wobei der wissenschaftliche Kenntnisstand innerhalb einer Gesellschaft zu dieser „Freiheitsberaubung“ des Geistes zusätzlich beiträgt: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left: 0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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: <span style="color: #7b879e;">[Die logische Erfahrung] windet sich in einem Käfig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen […], auch sie wird vom Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebräuchlichen entspricht (Breton 1993, 15).</span> | : <span style="color: #7b879e;">[Die logische Erfahrung] windet sich in einem Käfig, und es wird immer schwieriger, sie entweichen zu lassen […], auch sie wird vom Menschenverstand bewacht. Unter dem Banner der Zivilisation, unter dem Vorwand des Fortschritts ist es gelungen, alles aus dem Geist zu verbannen, was zu Recht oder Unrecht als Aberglaube, als Hirngespinst gilt, und jede Art der Wahrheitssuche zu verurteilen, die nicht der gebräuchlichen entspricht (Breton 1993, 15).</span> | ||
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Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe „superstition“ und „chimère“ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. Für ihn sind nämlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschätzbarer Relevanz beim fruchtbaren literarischen Schaffensprozess. So spricht er sich bezüglich der Dichtkunst vehement dagegen aus, Inspirationsquellen (wie auch den Traum) von vorneherein auszuschließen (Breton 2008, 24–28; Breton 1993, 18–21). | Das was Breton an dieser Stelle unter die Begriffe „superstition“ und „chimère“ erfasst, kann ebenso in einem weiteren Traumkontext gesehen werden. Für ihn sind nämlich alle Spielarten der Fantasie, so auch das gesellschaftlich verachtete Wunderbare in der Literatur, von unschätzbarer Relevanz beim fruchtbaren literarischen Schaffensprozess. So spricht er sich bezüglich der Dichtkunst vehement dagegen aus, Inspirationsquellen (wie auch den Traum) von vorneherein auszuschließen (Breton 2008, 24–28; Breton 1993, 18–21). | ||
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: <span style="color: #7b879e;">[…] warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden Gewißheit nämlich, der für die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem täglich wachsenden Bewußtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen (Breton 1993, 17)?</span> | : <span style="color: #7b879e;">[…] warum sollte ich dem Traum nicht zugestehen, was ich zuweilen der Wirklichkeit verweigere, jenen Wert der in sich ruhenden Gewißheit nämlich, der für die Traumspanne ganz und gar nicht von mir geleugnet wird? Warum sollte ich vom Traum-Hinweis nicht noch mehr erwarten als von einem täglich wachsenden Bewußtseinsgrad? Kann nicht auch der Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen dienen (Breton 1993, 17)?</span> | ||
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Im nächsten Abschnitt hinterfragt er die Verlässlichkeit der Wahrnehmung im Wacherleben, bevor er den Traum als Ort völliger moralischer Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten skizziert, was von der Vernunft der Träumenden im Schlaf nicht in Frage gestellt wird. Das Erwachen reißt die Personen aus diesem Ort, während die gesellschaftlichen Moralvorstellungen erneut eingreifen (Breton 2008, 23 f.; Breton 1993, 16–18). | Im nächsten Abschnitt hinterfragt er die Verlässlichkeit der Wahrnehmung im Wacherleben, bevor er den Traum als Ort völliger moralischer Freiheit und unbegrenzter Möglichkeiten skizziert, was von der Vernunft der Träumenden im Schlaf nicht in Frage gestellt wird. Das Erwachen reißt die Personen aus diesem Ort, während die gesellschaftlichen Moralvorstellungen erneut eingreifen (Breton 2008, 23 f.; Breton 1993, 16–18). | ||
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: <span style="color: #7b879e;">Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen (Breton 1993, 18).</span> | : <span style="color: #7b879e;">Ich glaube an die künftige Auflösung dieser scheinbar so gegensätzlichen Zustände von Traum und Wirklichkeit in einer Art absoluten Realität, wenn man so sagen kann: Surrealität. Nach ihrer Eroberung strebe ich, sicher, sie nicht zu erreichen, zu unbekümmert jedoch um meinen Tod, um nicht zumindest die Freuden eines solchen Besitzes abzuwägen (Breton 1993, 18).</span> | ||
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Die Aufhebung der Grenzen zwischen „rêve“ und „réalité“ ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich zudem Bretons gesamtes künstlerisches Schaffen ausrichtet. | Die Aufhebung der Grenzen zwischen „rêve“ und „réalité“ ist folglich das zentrale Konzept des Surrealismus, auf das sich zudem Bretons gesamtes künstlerisches Schaffen ausrichtet. | ||
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: <span style="color: #7b879e;">Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten (Breton 1993, 15).</span> | : <span style="color: #7b879e;">Auf Grund von [Freuds] Entdeckungen bildet sich eine Strömung im Denken heraus, mit deren Hilfe der Erforscher der Menschen seine Untersuchungen weiter treiben vermag, da er nun nicht mehr nur summarische Fakten in Betracht zu ziehen braucht. Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten (Breton 1993, 15).</span> | ||
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Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die „surface“ treten. Mit abermaligem Verweis auf Freuds Kritik bemängelt anschließend Breton eine ungenügende Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen großen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, führt Breton seinen eigenen Gedankengang über Traum und Realität nachfolgend weiter aus (Breton 2008, 20–23; Breton 1993, 15 f.). An dieser Stelle tritt deutlich hervor, wie Freuds Traumtheorie vielmehr zur Untermauerung eigener Argumentationen Bretons genutzt wird (Goumegou 2007, 269; 279). | Nach Bretons Ansicht kann zudem geistiges Potenzial aus Imaginationen geschöpft werden, indem auch verborgene Inhalte an die „surface“ treten. Mit abermaligem Verweis auf Freuds Kritik bemängelt anschließend Breton eine ungenügende Auseinandersetzung mit dem Traum, der einen großen Bestandteil der menschlichen Psyche einnehme. Da die Erinnerung an den Traum nur einen Bruchteil des Traumerlebens wiedergibt und bisweilen undeutlich ist, führt Breton seinen eigenen Gedankengang über Traum und Realität nachfolgend weiter aus (Breton 2008, 20–23; Breton 1993, 15 f.). An dieser Stelle tritt deutlich hervor, wie Freuds Traumtheorie vielmehr zur Untermauerung eigener Argumentationen Bretons genutzt wird (Goumegou 2007, 269; 279). | ||
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: <span style="color: #7b879e;">Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,<ref> Während des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die Eindrücke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets sowie Sigmund Freuds über das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42–44). </ref> und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit möglich gesprochener Gedanke wäre. Ich hatte den Eindruck, und habe ihn noch […], daß das Tempo des Denkstroms nicht größer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert (Breton 1993, 24 f.).</span> | : <span style="color: #7b879e;">Ich beschäftigte mich damals noch eingehend mit Freud und war mit seinen Untersuchungsmethoden vertraut, die ich im Kriege gelegentlich selbst bei Kranken hatte anwenden können,<ref> Während des Ersten Weltkrieges war Breton medizinischer Assistent im psychiatrischen Zentrum in Saint-Dizier. Die Eindrücke vor Ort mit mental Erkrankten regten ihn zu seiner Auseinandersetzung mit den Theorien Pierre Janets sowie Sigmund Freuds über das Unbewusste und den Traum an (Schneede 2006, 42–44). </ref> und beschloß nun, von mir selbst das zu erreichen, was man von ihnen haben wollte: nämlich einen so rasch wie möglich fließenden Monolog, der dem kritischen Verstand des Subjekts in keiner Weise unterliegt, der sich infolgedessen keinerlei Zurückhaltung auferlegt und der so weit möglich gesprochener Gedanke wäre. Ich hatte den Eindruck, und habe ihn noch […], daß das Tempo des Denkstroms nicht größer ist als das des Redestroms und daß das Denken nicht unbedingt die Zunge oder gar die Feder am Mitkommen hindert (Breton 1993, 24 f.).</span> | ||
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Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der zugleich mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden ist und der ihm kurz vor dem Einschlafen einfällt. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollständig erinnern, ihn beschäftigte aber zugleich die Satzstruktur von „[i]l y a un homme coupé en deux par la fenêtre“/„[d]a ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“ (Breton 2008, 31; Breton 1993, 23). | Zuvor berichtet Breton noch von einem Satz, der zugleich mit einer vagen, visuellen Vorstellung verbunden ist und der ihm kurz vor dem Einschlafen einfällt. An den Satz könne er sich immer noch nicht vollständig erinnern, ihn beschäftigte aber zugleich die Satzstruktur von „[i]l y a un homme coupé en deux par la fenêtre“/„[d]a ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“ (Breton 2008, 31; Breton 1993, 23). | ||
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==Rezeption und Bedeutung des Werks== | ==Rezeption und Bedeutung des Werks== | ||
Das ''Manifeste du surréalisme'' von 1924 | Das ''Manifeste du surréalisme'' von 1924 gibt wesentliche Einblicke in die Geisteshaltung der Surrealisten in Paris. Daher wird in der Forschung die Schrift bis heute ergänzend herangezogen, um z.B. die Überlegungen hinter ausgewählten ästhetischen Ausdrucksformen einiger Mitglieder der Gruppe zu vermitteln. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die Technik der ''Frottage''<ref>Bei der ''Frottage'' wird zunächst ein Papier über einen Gegenstand der Wahl gelegt. Dann wird z.B. ein Bleistift genutzt, um damit über die Fläche zu reiben, wodurch sich die Materialstruktur auf dem Papier abzeichnet. Die Technik ist hierbei sowohl künstlerisches Inspirationsmittel als auch ein Verfahren, den Betrachtenden Raum für Assoziationen zu lassen (Schneede 2006, 99–101). </ref> verwiesen, die Max Ernst selbst in Relation zur ''écriture automatique'' setze. Dennoch muss ebenso die ''Frottage'' in ihrem kunsthistorischen Zusammenhang zu den Collagen-Arbeiten des Künstlers gesehen werden (Hadda 2019, 110–127). | ||
==Literatur== | ==Literatur== |