"Finnegans Wake" (James Joyce): Unterschied zwischen den Versionen
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James Joyces (1882-1941) ''Finnegans Wake'' dürfte wohl zu den legendärsten Büchern der europäischen Literaturgeschichte zählen – der Text setzt sich aus Dutzenden von Sprachen zusammen, entzieht sich vereinfachenden Deutungen und gilt ganz nebenbei als unübersetzbar. In der einschlägigen Forschung scheint der Minimalkonsens darin zu bestehen, dass es sich bei dem erstmals 1939 erschienenen Roman um einen gewaltigen nächtlichen Traum handle, bei dem sich der 'Tagesrest' des Träumenden mit Versatzstücken der gesamten Menschheitsgeschichte zu einer vielsprachigen und mehrschichtigen Collage vermischt. | James Joyces (1882-1941) ''Finnegans Wake'' dürfte wohl zu den legendärsten Büchern der europäischen Literaturgeschichte zählen – der Text setzt sich aus Dutzenden von Sprachen zusammen, entzieht sich vereinfachenden Deutungen und gilt ganz nebenbei als unübersetzbar. In der einschlägigen Forschung scheint der Minimalkonsens darin zu bestehen, dass es sich bei dem erstmals 1939 erschienenen Roman um einen gewaltigen nächtlichen Traum handle, bei dem sich der 'Tagesrest' des Träumenden mit Versatzstücken der gesamten Menschheitsgeschichte zu einer vielsprachigen und mehrschichtigen Collage vermischt. | ||
==Entstehung und Rezeption== | ==Entstehung und Rezeption== | ||
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Ab Mitte der 1920er Jahre tritt Joyce mit ersten Vorstufen seines Großprojekts an die Öffentlichkeit: Es erscheinen Zwischenfassungen des späteren Anna Livia Plurabelle-Kapitels in Zeitschriften und sogar als Buch (New York: Crosby Gaige 1928 sowie London: Faber & Faber 1930), später auch Fragmente der "Shem and Shaun"-Geschichten in drei Ausgaben der Avantgarde-Zeitschrift ''transistion'' (1927/28) sowie 1929 in der Pariser Sun Press (Joyce 2012). | Ab Mitte der 1920er Jahre tritt Joyce mit ersten Vorstufen seines Großprojekts an die Öffentlichkeit: Es erscheinen Zwischenfassungen des späteren Anna Livia Plurabelle-Kapitels in Zeitschriften und sogar als Buch (New York: Crosby Gaige 1928 sowie London: Faber & Faber 1930), später auch Fragmente der "Shem and Shaun"-Geschichten in drei Ausgaben der Avantgarde-Zeitschrift ''transistion'' (1927/28) sowie 1929 in der Pariser Sun Press (Joyce 2012). | ||
Mit dem Jahresende 1938 beendet James Joyce ''Finnegans Wake'', der im folgenden Mai zeitgleich in London bei Faber & Faber und in New York bei Viking Press erscheint (Ellmann 2009, 1060) – in der endgültigen Version schließlich aus vier Teilen sowie weiteren (weder nummerierten noch betitelten) Kapiteln bestehend, die sich (ähnlich wie im ''Ulysses'') durch jeweils unterschiedliche Stile auszeichnen und dementsprechend evtl. als verschiedene Traumphasen zu lesen sind. Alle weiteren Neuauflagen bis heute sind zur Erstausgabe seiten- und zeilenidentisch | Mit dem Jahresende 1938 beendet James Joyce ''Finnegans Wake'', der im folgenden Mai zeitgleich in London bei Faber & Faber und in New York bei Viking Press erscheint (Ellmann 2009, 1060) – in der endgültigen Version schließlich aus vier Teilen sowie weiteren (weder nummerierten noch betitelten) Kapiteln bestehend, die sich (ähnlich wie im ''Ulysses'') durch jeweils unterschiedliche Stile auszeichnen und dementsprechend evtl. als verschiedene Traumphasen zu lesen sind. Alle weiteren Neuauflagen bis heute sind zur Erstausgabe seiten- und zeilenidentisch. | ||
Bereits im Sommer 1940 muss die Familie | Bereits im Sommer 1940 muss die Familie aus Paris vor den Nazis fliehen. Die Befreiung Frankreichs hat James Joyce nicht mehr erlebt: Im Januar des Folgejahres stirbt er in der Schweiz. | ||
Nahezu augenblicklich und mit Edmund Wilsons erster Studie "The Dream of HC Earwicker" (1939) setzt eine inzwischen kaum noch zu überblickende literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ''Finnegans Wake'' ein, zu deren einflussreichsten Forschungsbeiträgen zunächst ein von Joseph Campbell und Henry Morton Robinson vorgelegter ''Skeleton Key'' (1949) sowie der von Adaline Glasheen unternommene ''Census'' ("An Index of the Characters and Their Roles", 1956 sowie aktualisiert 1963 und 1977) zählen. Ebenso trugen die erstmals 1959 erstellte Übersicht intertextueller Verweise in einer "Alphabetical List of Literary Allusions" (Atherton 2009, 233–290), das Erscheinen der Zeitschrift ''A Wake Newslitter'' (ab 1962) und die erstmals 1980 vorgelegten ''Annotations'' (aktualisiert 1991, 2006 und 2016) von Roland McHugh zur weiteren Systematisierung bei. | Nahezu augenblicklich und mit Edmund Wilsons erster Studie "The Dream of HC Earwicker" (1939) setzt eine inzwischen kaum noch zu überblickende literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ''Finnegans Wake'' ein, zu deren einflussreichsten Forschungsbeiträgen zunächst ein von Joseph Campbell und Henry Morton Robinson vorgelegter ''Skeleton Key'' (1949) sowie der von Adaline Glasheen unternommene ''Census'' ("An Index of the Characters and Their Roles", 1956 sowie aktualisiert 1963 und 1977) zählen. Ebenso trugen die erstmals 1959 erstellte Übersicht intertextueller Verweise in einer "Alphabetical List of Literary Allusions" (Atherton 2009, 233–290), das Erscheinen der Zeitschrift ''A Wake Newslitter'' (ab 1962) und die erstmals 1980 vorgelegten ''Annotations'' (aktualisiert 1991, 2006 und 2016) von Roland McHugh zur weiteren Systematisierung bei. | ||
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Mit der Änderung vom Arbeitstitel ''Work in Progress'', unter dem auch mehrere Kapitel vorab veröffentlicht wurden, in ''Finnegans Wake'', entschied sich Joyce auch bereits für ein erstes Wortspiel – nämlich die Anlehnung an die irische Ballade "Finnegan's Wake" über den Baumeister Tim Finnegan, der (unter dem Einfluss von Whiskey) von einer Leiter fällt und sich das Genick bricht (Füger 1994, 278 f.). Während des Leichenschmauses wird wiederum Whiskey auf den Toten verschüttet, der sogleich zum Leben erwacht (Ellmann 2009, 804 f.). Programmatisch lautet der Refrain der Ballade "Wasn't it the truth I told you/ Lots of fun at Finnegan's wake!" | Mit der Änderung vom Arbeitstitel ''Work in Progress'', unter dem auch mehrere Kapitel vorab veröffentlicht wurden, in ''Finnegans Wake'', entschied sich Joyce auch bereits für ein erstes Wortspiel – nämlich die Anlehnung an die irische Ballade "Finnegan's Wake" über den Baumeister Tim Finnegan, der (unter dem Einfluss von Whiskey) von einer Leiter fällt und sich das Genick bricht (Füger 1994, 278 f.). Während des Leichenschmauses wird wiederum Whiskey auf den Toten verschüttet, der sogleich zum Leben erwacht (Ellmann 2009, 804 f.). Programmatisch lautet der Refrain der Ballade "Wasn't it the truth I told you/ Lots of fun at Finnegan's wake!" | ||
Neben dem Titel – der herausgestrichene Apostroph sorgt für eine Verallgemeinerung und deutet die Wiederauferstehung aller Finnegans an, zumal eine Figur mit diesem Namen in Joyces Werk nicht vorkommt (Ellmann 2009, 804; Eco 2010, 392) – finden sich außerdem immer wieder Verse | Neben dem Titel – der herausgestrichene Apostroph sorgt für eine Verallgemeinerung und deutet die Wiederauferstehung aller Finnegans an, zumal eine Figur mit diesem Namen in Joyces Werk nicht vorkommt (Ellmann 2009, 804; Eco 2010, 392) – finden sich außerdem immer wieder Verse aus der Ballade in HCEs Traum wieder: So erscheint "Wasn't it the truth I told you" bereits relativ zu Beginn als "isn't/ it the truath I'm tallin ye?" (FW 15.24 f.) oder "'Tisraely the/ truth" (FW 27.01 f.) wieder, und auch ein Fall(en) von der Leiter wird in der Formulierung "He stot-/ tered from the latter" (FW 6.09 f.) angedeutet. Außerdem durchzieht den gesamten Text das Wortspiel "funferall" – eine Mischung aus "funeral" und "fun for all" (etwa FW 13.15, 111.15, 120.10). | ||
Die Inhaltsebene des vielschichtigen Textes lässt sich nur sehr grob wiedergeben: Statt einer stringenten Erzählung werden Zusammenhänge, Figurenkonstellationen oder Ereignisse der fiktionalen Welt durch die Traumpoetik teilweise nur angerissen und verschwimmen unter Sprach- und Wortspielen, die sich versatzstückartig aus Dutzenden von Sprachen zusammensetzen (grobe Inhaltszusammenfassungen in Campbell/Robinson 2005, 15–22 oder Reichert/Senn 1989, 21–24). | Die Inhaltsebene des vielschichtigen Textes lässt sich nur sehr grob wiedergeben: Statt einer stringenten Erzählung werden Zusammenhänge, Figurenkonstellationen oder Ereignisse der fiktionalen Welt durch die Traumpoetik teilweise nur angerissen und verschwimmen unter Sprach- und Wortspielen, die sich versatzstückartig aus Dutzenden von Sprachen zusammensetzen (grobe Inhaltszusammenfassungen in Campbell/Robinson 2005, 15–22 oder Reichert/Senn 1989, 21–24). | ||
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Dabei fungiert Humphrey Chimpden Earwicker in seinem (Teil-)Traum als Jedermann, als umfassende Menschengestalt ("Here Comes/ Everybody"; FW 32.18 f.), und taucht neben solchen HCE-Wortfolgen auch in Person von mythologischen und historischen Figuren wie Adam, Noah, Christus, Buddha, Thor, Caesar, Cromwell, Wellington, Lord Nelson, Guinness, oder Finnegan auf: Earwicker ist als Verkörperung aller "Kulturen und Traditionen der Menschheitsgeschichte" zu verstehen, "er bedeutet sie alle zugleich, weil sie alle in ihm liegen, kraft des kollektiven Unterbewussten" (Reichert 1989, 24 f.). Bestimmt wird sein Traum von einem Vorfall aus jüngster Zeit, der sich in Phoenix Park, Dublins weitläufiger Grünanlage nördlich von Chapelizod, ereignet hat. Dabei soll er sich unzüchtig gegenüber zwei jungen Frau verhalten haben, diese – eine genaue Entschlüsselung ist durch die mehrschichtige Traumsprache nicht möglich – entweder beobachtet oder sogar exhibitionistisch belästigt haben (Bishop 1993, 166 f.; Campbell/Robinson 2005, 6 f.; Eco 2010, 393). Dass dieser Zwischenfall außerdem von drei betrunkenen Soldaten ("three longly lurking lobstarts"; FW 337.20 f.) beobachtet wurde, lässt bei Earwicker nun Sorgen um seinen Ruf und juristische Konsequenzen aufkommen und wird im Traum immer wieder angerissen. | Dabei fungiert Humphrey Chimpden Earwicker in seinem (Teil-)Traum als Jedermann, als umfassende Menschengestalt ("Here Comes/ Everybody"; FW 32.18 f.), und taucht neben solchen HCE-Wortfolgen auch in Person von mythologischen und historischen Figuren wie Adam, Noah, Christus, Buddha, Thor, Caesar, Cromwell, Wellington, Lord Nelson, Guinness, oder Finnegan auf: Earwicker ist als Verkörperung aller "Kulturen und Traditionen der Menschheitsgeschichte" zu verstehen, "er bedeutet sie alle zugleich, weil sie alle in ihm liegen, kraft des kollektiven Unterbewussten" (Reichert 1989, 24 f.). Bestimmt wird sein Traum von einem Vorfall aus jüngster Zeit, der sich in Phoenix Park, Dublins weitläufiger Grünanlage nördlich von Chapelizod, ereignet hat. Dabei soll er sich unzüchtig gegenüber zwei jungen Frau verhalten haben, diese – eine genaue Entschlüsselung ist durch die mehrschichtige Traumsprache nicht möglich – entweder beobachtet oder sogar exhibitionistisch belästigt haben (Bishop 1993, 166 f.; Campbell/Robinson 2005, 6 f.; Eco 2010, 393). Dass dieser Zwischenfall außerdem von drei betrunkenen Soldaten ("three longly lurking lobstarts"; FW 337.20 f.) beobachtet wurde, lässt bei Earwicker nun Sorgen um seinen Ruf und juristische Konsequenzen aufkommen und wird im Traum immer wieder angerissen. | ||
Die Entsprechung zu HCE als dem 'Über-Vater' ist seine Frau Anna Livia Plurabelle als große 'Ur-Mutter' und weibliches Prinzip: Bereits ihr Name verweist auf die Liffey – | Die Entsprechung zu HCE als dem 'Über-Vater' ist seine Frau Anna Livia Plurabelle als große 'Ur-Mutter' und weibliches Prinzip: Bereits ihr Name verweist auf die Liffey – den Fluss, der Dublin teilt und dort in die Irische See mündet. Mit ALP werden daher Veränderungen assoziiert; nicht nur in ihrem berühmten Anna Livia Plurabelle-Kapitel (das achte Kapitel des ersten Teils, FW 196–216) zerfließen Sprache und Inhalt. Sie tritt in Gestalten wie Eva, Isis und Isolde auf und verkörpert (im Gegensatz zu HCE) das 'ewig Weibliche' Naturprinzip. | ||
Nach den acht Kapiteln des ersten Teils, die vorwiegend auf HCE und ALP zentriert sind, rücken in den Teilen zwei und drei (mit jeweils vier Kapiteln) dann die Kinder Issy, vor allem jedoch Shem und Shaun in den Fokus, wobei die beiden rivalisierenden Söhne Elemente von Kain und Abel, Napoleon und Wellington, letztlich aber auch von James Joyce und seinem Bruder Stanislaus vereinen (Füger 1994, 266; Senn 1983, 182). Vergleichbar mit dem abschließenden Penelope-Monolog des ''Ulysses'' bekommt ALP im vierten Teil die Stimme, wenn sich die Nacht dem Ende neigt: "Soft morning, city!" (FW 619.20): "Rise up, man of the hooths, you have slept so long!" (FW 619.25) | |||
Immer wieder finden sich im Verlauf des Textes Anspielungen auf die Universalität der beiden Elternteile (Norris 2006, 151): HCE wird gleich im ersten Absatz mit einem Hügel an der Liffey-Mündung assoziiert ("Howth Castle and Environs"; FW 3.03), mit dem Ausruf "Hush! Caution! Echoland!" (FW 13.05), oder "homerigh, castle and earthenhouse" (FW 21.13). ALP tritt bereits zu Beginn mit Verweis auf den Fluss Liffey in Erscheinung (etwa "loved livvy"; FW 3.24), als Akronym (z.B. "alp on earwig"; FW 17.34), als "pleures of bells" (FW 11.25) und bestimmende Hausfrau ("annadominant"; FW 14.17) – aber auch konstruierter, zum Beispiel in Form der Zahl 54, in römischer Schreibweise LIV ("if you can spot fifty I spy four more"; FW 10.31). | |||
Ein weiteres Grundthema des Textes ist der 'Fall', der in verschiedenen Variationen wiederkehrt und durchgespielt wird: Finnegans tödlicher Sturz von der Leiter, ebenso wie Earwickers Verfehlung in Phoenix Park, die – im 'biblischen Traumgarten' stattfindend (Ellmann 2009, 813 f.) – mit dem Sündenfall assoziiert wird, genauso wie auch dem Fall von Rom oder der Niederlage Napoleons (Campbell/Robinson 2005, 5; Tindall 2005, 29 f.). | |||
==Museyroom-Episode (FW 8.09–10.23)== | ==Museyroom-Episode (FW 8.09–10.23)== | ||
Die sogenannte "Museyroom"-Episode (in der Sekundärliteratur auch "The Willingdone Museum" genannt) stellt | Die sogenannte "Museyroom"-Episode (in der Sekundärliteratur auch "The Willingdone Museum" genannt) stellt eine der ersten relativ abgeschlossen und damit greifbaren Einheiten des Textes dar und findet sich im ersten Kapitel des ersten Teils (FW 8.09–10.23). | ||
Die Episode spielt in Phoenix Park, also eben jenem Ort von Earwickers uneindeutiger Verfehlung (seinem eigenen 'Garten Eden' quasi), die kurz zuvor zum ersten Mal anklingt (Tindall 2005, 37): Die beiden Mädchen und die drei Soldaten erscheinen in Anlehnung an den Schriftsteller Jonathan Swift (1667-1745) und dessen Parallelbeziehungen zu Esther Johnson ("Stella") und Esther Vanhomrigh ("Vanessa") als Stella und Vanessa | Die Episode spielt in Phoenix Park, also eben jenem Ort von Earwickers uneindeutiger Verfehlung (seinem eigenen 'Garten Eden' quasi), die kurz zuvor zum ersten Mal anklingt (Tindall 2005, 37): Die beiden Mädchen und die drei Soldaten erscheinen in Anlehnung an den Schriftsteller Jonathan Swift (1667-1745) und dessen Parallelbeziehungen zu Esther Johnson ("Stella") und Esther Vanhomrigh ("Vanessa", zusammengesetzt aus "Essa" als Koseform für Esther und den "Van" des Nachnamens) als Stella und Vanessa bzw. als Peter, Jack und Martin (McHugh 2006, 7; Tindall 2005, 35 f.): "With her issavan essavans and her patter-jackmartins" (FW 7.04). | ||
==="This the way to the museyroom" (FW 8.09–8.36) === | ==="This the way to the museyroom" (FW 8.09–8.36) === | ||
In Phoenix Park besucht HCEs Traum-Ich nun das "museyroom", das Züge des tatsächlich | In Phoenix Park besucht HCEs Traum-Ich nun das "museyroom", das Züge des dort tatsächlich existierenden Wellington Monument aufweist, eines Denkmals zu Ehren des Feldherrn Arthur Wellesley, 1st Duke of Wellington (<span style="color:blue;">blau hervorgehoben</span>). Am Eingang wartet bereits "mistress Kathe" (FW 8.08), die Traumerscheinung der alten Putzfrau Kate aus HCEs Taverne (Tindall 2005, 36; Siedenbiedel 2005, 203–209). Gerahmt wird die kurze Führung der "janitrix" Kathe (Kitcher 2007, 66) durch ihre mahnenden Worte, beim Betreten des "museyrooms" auf den Hut ("hats"; FW 8.09) und beim Verlassen auf die Schuhe ("boots"; FW 10.22 f.) zu achten. Geradezu mechanisch geleitet sie den Besuchenden durch die Ausstellung (oder besser: Aufzählung) von kriegerischen Ereignissen der Menschheitsgeschichte. Repetitiv wiederkehrendes Element ist dabei ihr hinweisendes "This is", das insgesamt 56-mal in dieser kurzen Passage auftaucht (<span style="color:red;">rot hervorgehoben</span>) und diese gemeinsam mit dem neun Mal wiederholten "Tip." sowie weiteren sprachlichen Parallelkonstruktionen und Ausrufen ('''fett hervorgehoben''') strukturiert. | ||
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Erstes Exponat im "Willingdone Museyroom" ist eine "Prooshi-/ ous gunn" (FW 8.10 f.) – offenbar eine preußische (''prussian'') und/oder wertvolle (''precious'') Pistole. Ebenfalls zu sehen ist "the triplewon hat" (FW 8.15) – der legendäre und historisch verifizierbare Zweispitz des französischen Kaisers Napoleon, Wellingtons im gleichen Jahr | Erstes Exponat im "Willingdone Museyroom" ist eine "Prooshi-/ ous gunn" (FW 8.10 f.) – offenbar eine preußische (''prussian'') und/oder wertvolle (''precious'') Pistole. Ebenfalls zu sehen ist "the triplewon hat" (FW 8.15) – der legendäre und historisch verifizierbare Zweispitz des französischen Kaisers Napoleon, Wellingtons im gleichen Jahr geborenem Gegenspieler in der Schlacht von Waterloo (1815), der hier ein gutes Dutzend mal als "Lipoleum" (<span style="color:green;">grün hervorgehoben</span>) erscheint. Diese Vermischung unterschiedlichster Begriffe aus dem Wortfeld des Militärischen setzt sich auch in der Folge fort: So mag "Gallawghurs" (FW 8.25) auf irische Söldner des 13. Jahrhunderts (die "Gallowglass"), "Touchole" (FW 8.26) auf das Zündloch ("touch hole") einer Kanone oder "Sexcaliber" (FW 8.36) auf König Artus‘ legendäres Schwert "Excalibur" verweisen – freudianisch ergänzt um einen Verweis auf HCEs mutmaßlichen sexuellen Zwischenfall. Darauf scheint auch ein Versatzstück zuvor anzuspielen, erhalten doch nicht "pensioners" freien Eintritt in das Museum, sondern "penetrators"/"perpetrators": "Penetrators are permitted into the museomound free" (FW 8.05). | ||
==="Underwetter!" (FW 9.01–9.36) === | ==="Underwetter!" (FW 9.01–9.36) === | ||
Das Wellington Monument – tatsächlich ein etwa 60 Meter hoher Obelisk ("tallowscoop"; FW 8.35) im Dubliner Phoenix Park, der 1861 fertiggestellt wurde – erscheint damit in HCEs Traum als enzyklopädischer Wissensspeicher (Lernout 2007, 56; Blumenbach 1996): So finden sich einerseits Verweise auf den in Dublin geborenen Feldmarschall und britischen Außen- und Premierminister | [[Datei:Wellington Monument Dublin.jpg|thumb|right|Wellington Monument Dublin, Phoenix Park]] | ||
Das Wellington Monument – tatsächlich ein etwa 60 Meter hoher Obelisk ("tallowscoop"; FW 8.35) im Dubliner Phoenix Park, der 1861 fertiggestellt wurde – erscheint damit in HCEs Traum als enzyklopädischer Wissensspeicher (Lernout 2007, 56; Blumenbach 1996): So finden sich einerseits Verweise auf den in Dublin geborenen Feldmarschall und britischen Außen- und Premierminister Wellington – etwa dessen legendäres Pferd Kopenhagen ("Cokenhape"; FW 8.17) aus der Schlacht bei Waterloo in "Belchum" (FW 9.01, 9.04, 9.10, 9.13, 9.15) sowie die weiteren Feldzüge bei Gawilgarth und Argaum aus dem Jahre 1803 ("Gallawghurs argaunmunt"; FW 8.25) oder die Schlachten bei Salamanca ("Salamangra"; FW 9.13) und Almeida ("Al-meidagad"; FW 9.26). Andererseits ist die weitere Führung durchzogen von Anspielungen auf Kriegsschauplätze aus verschiedenen Epochen (Campbell/Robinson 2005, 39–41; McHugh 2006, 8–10; Tindall 2005, 36–38, 52), vom Sieg über die Perser bei Marathon im Jahre 490 v. Chr. (FW 9.33), über die Schlacht bei Philippi, bei der Brutus 42 v. Chr. gegen Antonius und Oktavian unterlag ("phillippy"; FW 9.01), die ausschlaggebende englischen Niederlage gegen Wilhelm den Eroberer 1066 in Hastings (FW 9.2 f.), die preußische Niederlage gegen Napoleon in Jena 1806 ("hiena"; FW 10.04), die Leipziger Völkerschlacht von 1813 ("lipsyg"; FW 10.05) bis hin zu Napoleons Schlacht in Austerlitz 1805 ("ouster-/ lists"; FW 9.28 f.). Ebenso finden sich auch Anspielungen auf weitere Offiziere und Heerführer, etwa Napoleons Marschall der Schlacht von Waterloo, Grouchy ("grouching down"; FW 8.22), Charles Boycott ("boycottencrezy"; FW 9.08), den deutschen Fürst von Bismarck ("bissmark"; FW 9.32), oder den amerikanischen Konföderierten-General 'Stonewall' Jackson (FW 10.2). | |||
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==="How Copenhagen ended" (FW 10.01–10.23) === | ==="How Copenhagen ended" (FW 10.01–10.23) === | ||
Auch auf der dritten und abschließenden Druckseite der "Museyroom"-Episode ist der Sprachfluss von den "This is"-Aufzählungen wie auch dem noch drei weitere Male erscheinenden "Tip." (FW 10.07, 10.11, 10.21) geprägt, das inhaltlich als ein Stapfen durch den Museumsraum verstanden sowie als ein von außen in den Traum dringendes Geräusch interpretiert werden kann. Diese Strukturierung erinnert an den blinden Bettler ("blind stripling"), der im musikalisch strukturierten "Sirens"-Kapitel des ''Ulysses'' auf das ansteigende "Tap"-Geräusch seines Blindenstocks reduziert wird (Nesselhauf 2017, 99). | |||
Auch auf der dritten und abschließenden Druckseite der "Museyroom"-Episode ist der Sprachfluss von den "This is"-Aufzählungen wie auch dem noch drei weitere Male erscheinenden "Tip." (FW 10.07, 10.11, 10.21) geprägt, das inhaltlich als ein Stapfen durch den Museumsraum verstanden sowie als ein von außen in den Traum dringendes Geräusch interpretiert werden kann. Diese Strukturierung erinnert | |||
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=="Fantasy! funtasy on fantasy, amnaes fintasies!" (FW 493.18): Zur Makro- und Mikrostruktur von ''Finnegans Wake''== | =="Fantasy! funtasy on fantasy, amnaes fintasies!" (FW 493.18): Zur Makro- und Mikrostruktur von ''Finnegans Wake''== | ||
Hat James Joyce seinem ''Ulysses'' als Grundstruktur die Erzählung von Odysseus' Irrfahrten nach Homer unterlegt, so wendet er in ''Finnegans Wake'' ein deutlich komplexeres Modell an: Er greift auf die Geschichtsphilosophie des italienischen Philosophen Giambattista Vico (1668–1744) zurück (Reichert 1989, 19 f.), die die Menschheitsgeschichte in vier immer wiederkehrende Zyklen | Hat James Joyce seinem ''Ulysses'' als Grundstruktur die Erzählung von Odysseus' Irrfahrten nach Homer unterlegt, so wendet er in ''Finnegans Wake'' ein deutlich komplexeres Modell an: Er greift auf die Geschichtsphilosophie des italienischen Philosophen Giambattista Vico (1668–1744) zurück (Reichert 1989, 19 f.), die die Menschheitsgeschichte in vier immer wiederkehrende Zyklen einteilt: "Meine Phantasie wird angeregt", gesteht Joyce in einem Gespräch, "wenn ich Vico lese, wenn ich dagegen Freud oder Jung lese, überhaupt nicht" (Ellmann 2009, 1019). | ||
===Der Text als "recirculation" (FW 3.02): Vicos Geschichtsphilosophie=== | ===Der Text als "recirculation" (FW 3.02): Vicos Geschichtsphilosophie=== | ||
Mit der Geschichtsphilosophie Giambattista Vicos hat sich James Joyce vermutlich schon während seiner Anstellung als Sprachlehrer in Pola auseinandergesetzt, spätestens aber als er in Triest unterrichtet und dort auf den berühmten Anwalt und Vico-Forscher Paolo Cuzzi trifft, dem er zwischen 1911 und 1913 Englischstunden gibt (Campbell/Robinson 2005, 5; Ellmann 2009, 511). | Mit der Geschichtsphilosophie Giambattista Vicos hat sich James Joyce vermutlich schon während seiner Anstellung als Sprachlehrer in Pola auseinandergesetzt, spätestens aber als er in Triest unterrichtet und dort auf den berühmten Anwalt und Vico-Forscher Paolo Cuzzi trifft, dem er zwischen 1911 und 1913 Englischstunden gibt (Campbell/Robinson 2005, 5; Ellmann 2009, 511). | ||
Als Gegner des Cartesischen Rationalismus versuchte Vico in seiner 1725 erschienenen Schrift ''La Scienza Nuova'' nachzuweisen, dass sich die Geschichte der Menschheit in vier ständig wiederkehrende Zyklen aufteilen lasse (Atherton 2009, 29–34; Bishop 1993, 174–215; Bosinelli 1987; Eco 2010, 395–399; Fáj 1987; Reichert 1989, 19 f., 221–235; Tindall 2005, 8–11). Jedes dieser Zeitalter – | Als Gegner des Cartesischen Rationalismus versuchte Vico in seiner 1725 erschienenen Schrift ''La Scienza Nuova'' nachzuweisen, dass sich die Geschichte der Menschheit in vier ständig wiederkehrende Zyklen aufteilen lasse (Atherton 2009, 29–34; Bishop 1993, 174–215; Bosinelli 1987; Eco 2010, 395–399; Fáj 1987; Reichert 1989, 19 f., 221–235; Tindall 2005, 8–11). Jedes dieser Zeitalter – die theokratische Herrschaft der Götter, die Epoche der Heroen, das Zeitalter der Menschen und ein Ricorso – ist selbst wiederum durch Aufstieg, Blüte und Verfall gekennzeichnet und wird durch einen Donnerschlag eingeläutet. Im Zeitalter der Götter entwickelten sich die Konzepte von Religion und Familie, dessen Untergang (Vico nennt hier den Sündenfall sowie den Abstieg der ägyptischen Hochkultur und den Fall Roms als Beispiele) die durch Kriege und Lehnsystem gekennzeichnete Epoche der Heroen einläute, in der aber das Konzept der Ehe entstehe. Im menschlichen Zeitalter wiederum entfalte sich ein Rechts- und Demokratiesystem; doch auch diese Epoche verfällt zwangsläufig. Nach einem reinigenden Ricorso beginne die zyklische Menschheitsgeschichte wieder erneut mit einem theokratischen Zeitalter. Gleichzeitig sei jede der Epochen durch eine eigene Sprache gekennzeichnet, die sich wie das Denken der Menschheit insgesamt zivilisatorisch entwickle, von 'Grunzlauten' und Hieroglyphen über einfache Alphabete bis hin zu abstrakten Diskursen im Zeitalter der Menschen. | ||
[[Datei:FW-Aufbau-01.jpg|thumb|right|555px|Aufbau von ''Finnegans Wake'' (schematisch)]] | [[Datei:FW-Aufbau-01.jpg|thumb|right|555px|Aufbau von ''Finnegans Wake'' (schematisch)]] | ||
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Die wohl größten Schwierigkeiten im Verständnis von ''Finnegans Wake'' liegen nun aber beileibe nicht in dieser von Vico übernommenen Grundstruktur, sondern vielmehr in der Sprachgewaltigkeit des Textes: James Joyce feilte über fast zwei Jahrzehnte – wie die vergleichenden Zusammenstellungen in Haymans ''First-draft Version'' (1963) zeigen – an jedem Wort, ja, jedem Buchstaben. Entstanden ist letztlich eine aus mehreren Schichten und Ebenen bestehende Geschichte mit dem von Reichert geprägten Ausdruck des "vielfachen Schriftsinns": ''Finnegans Wake'' ist eine "gewaltige Wortsymphonie", eine "Reise ans Ende des Möglichen" (Reichert 1989, 16) mit Mehrfachbedeutungen auf verschiedenen Ebenen. Klagte Joyce mit Blick auf den ''Ulysses'' noch über eingeschränkte Möglichkeiten beim Schreiben in ''einer'' Sprache, so fließen Dutzende verschiedene Sprachen in den Text ein: In den ''Annotations'' werden 62 Sprachen aufgeführt (McHugh 2006, xix–xx); Deane spricht in seiner Einleitung zur Penguin-Ausgabe des Textes sogar von 65 Sprachen (FW xxviii). | Die wohl größten Schwierigkeiten im Verständnis von ''Finnegans Wake'' liegen nun aber beileibe nicht in dieser von Vico übernommenen Grundstruktur, sondern vielmehr in der Sprachgewaltigkeit des Textes: James Joyce feilte über fast zwei Jahrzehnte – wie die vergleichenden Zusammenstellungen in Haymans ''First-draft Version'' (1963) zeigen – an jedem Wort, ja, jedem Buchstaben. Entstanden ist letztlich eine aus mehreren Schichten und Ebenen bestehende Geschichte mit dem von Reichert geprägten Ausdruck des "vielfachen Schriftsinns": ''Finnegans Wake'' ist eine "gewaltige Wortsymphonie", eine "Reise ans Ende des Möglichen" (Reichert 1989, 16) mit Mehrfachbedeutungen auf verschiedenen Ebenen. Klagte Joyce mit Blick auf den ''Ulysses'' noch über eingeschränkte Möglichkeiten beim Schreiben in ''einer'' Sprache, so fließen Dutzende verschiedene Sprachen in den Text ein: In den ''Annotations'' werden 62 Sprachen aufgeführt (McHugh 2006, xix–xx); Deane spricht in seiner Einleitung zur Penguin-Ausgabe des Textes sogar von 65 Sprachen (FW xxviii). | ||
Die von Joyce erschaffene Übersprache, eine "universal language based on English" (Wales 1992, 136), ist eigentliche Hauptperson im ''Wake'' (Reichert 1989, 64). Hat Joyce bereits im "Oxen of the Sun"-Kapitel des ''Ulysses'' mit verschiedenen Sprachen experimentiert – in jenem Kapitel also, in dem Leopold Bloom die schwangere Mina Purefoy im Krankenhaus besucht und die Sprache eine dem Fötus im Mutterleib | Die von Joyce erschaffene Übersprache, eine "universal language based on English" (Wales 1992, 136), ist eigentliche Hauptperson im ''Wake'' (Reichert 1989, 64). Hat Joyce bereits im "Oxen of the Sun"-Kapitel des ''Ulysses'' mit verschiedenen Sprachen experimentiert – in jenem Kapitel also, in dem Leopold Bloom die schwangere Mina Purefoy im Krankenhaus besucht und die Sprache eine dem Fötus im Mutterleib gleichende Entwicklung vom Altenglischen über das moderne Englisch bis hin zu Dubliner Slang durchläuft – ist er jetzt mehrere Schritte weiter. Dabei benötigt Joyce zwangsläufig ein solches fast unentwirrbares sprachliches Netz, um zwei der Hauptbestandteile des ''Wake'' erfüllen zu können, nämlich eine (möglichst) naturalistische Aufzeichnung des Traums und die (ebenso umfassende) Wiedergabe der Menschheitsgeschichte: "The universal nature of the language undoubtedly takes its prime significance from its double function of representing a comprehensive history of man-kind and a dream-like state" (Wales 1992, 136). | ||
[[Datei:FW-Traumsprache-01.jpg|thumb|right|555px|In die Traumsprache einfließende Diskurse (Auswahl)]] | [[Datei:FW-Traumsprache-01.jpg|thumb|right|555px|In die Traumsprache einfließende Diskurse (Auswahl)]] | ||
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Neben der formgebenden Struktur nach Vicos zyklischer Geschichtsphilosophie, den historischen und mythologischen Verweisen sowie Elementen aus rund 60 verschiedenen Sprachen liegen HCEs Traum aber auch andere Einflüsse zugrunde, wie etwa Musik, Werbung, Slogans und Kinderreime: | Neben der formgebenden Struktur nach Vicos zyklischer Geschichtsphilosophie, den historischen und mythologischen Verweisen sowie Elementen aus rund 60 verschiedenen Sprachen liegen HCEs Traum aber auch andere Einflüsse zugrunde, wie etwa Musik, Werbung, Slogans und Kinderreime: | ||
Dominieren in der exemplarischen "Museyroom"-Episode zwar vorwiegend Versatzstücke und Anspielungen aus dem Kriegswesen und Orten berühmter Schlachten, so findet sich mit "Sexcaliber hrosspower" (FW 8.36) aber auch dort beispielsweise ein Verweis auf das sagenhafte Schwert Excalibur aus dem Artus-Stoff. Der (spanisch klingende) Ausruf "Dalaveras fimmieras!" (FW 9.36) wiederum erinnert an die biblische Bitte "deliver us from errors", und "Toffeethief" (FW 10.1) scheint aus dem Kinderreim "Taffy was a Welshman, Taffy was a thief" entsprungen zu sein (McHugh 2006, 10). Neben solchen Collagen oder auch Portmanteau-Wörtern ( | Dominieren in der exemplarischen "Museyroom"-Episode zwar vorwiegend Versatzstücke und Anspielungen aus dem Kriegswesen und Orten berühmter Schlachten, so findet sich mit "Sexcaliber hrosspower" (FW 8.36) aber auch dort beispielsweise ein Verweis auf das sagenhafte Schwert Excalibur aus dem Artus-Stoff. Der (spanisch klingende) Ausruf "Dalaveras fimmieras!" (FW 9.36) wiederum erinnert an die biblische Bitte "deliver us from errors", und "Toffeethief" (FW 10.1) scheint aus dem Kinderreim "Taffy was a Welshman, Taffy was a thief" entsprungen zu sein (McHugh 2006, 10). Neben solchen Collagen oder auch Portmanteau-Wörtern – in der "Museyroom"-Episode etwa Schachtelwörter wie "arminus-varminus" (FW 8.28) oder "boycottoncrezy" (FW 9.08) (Erzgräber 1998, 316; Siedenbiedel 2005, 28) – finden sich ebenso Sprachfetzen und Stimmen aus der Dubliner Umwelt, darunter hunderte von Liedern, teilweise aus regionalen irischen Traditionen (Erzgräber 1998, 313 f.). | ||
==="bi tso fb rok engl a ssan dspl itch ina" (FW 19.07): Zur Mikrostruktur der Sprache in ''Finnegans Wake''=== | ==="bi tso fb rok engl a ssan dspl itch ina" (FW 19.07): Zur Mikrostruktur der Sprache in ''Finnegans Wake''=== | ||
Bereits wegen der Polyvalenz der Makroebene lässt sich vermuten, dass ''Finnegans Wake'' nicht | Bereits wegen der Polyvalenz der Makroebene lässt sich vermuten, dass ''Finnegans Wake'' nicht gelesen ''oder'' gehört werden kann, sondern nur im Zusammenspiel von geschriebenem Wort ''und'' sprachlichem Klang funktioniert (Erzgräber 1998, 311–321). | ||
So kann die kurze Sequenz "Leaper Orthor. Fear siecken! Fieldgaze thy tiny from. Hugact-/ ing. Nap." (FW 9.5 f.) der "Museyroom"-Episode laut gelesen dem Deutschen "Lieber Arthur. Wir siegen! Viele Grüße deiner kleinen Frau. Hochachtung. Nap." sehr nahe. Aber nur im Vergleich mit der schriftlichen Form werden zusätzliche Bedeutungsebenen eröffnet, wenn sich nicht zufällig in diesem Brief an Arthur (Wellington) gerade Worte wie "fear" (Angst), "field" (Schlacht-/Feld) oder das mit Napoleon assoziierte "tiny" (klein-gewachsen) finden lassen. Nur wenige Zeilen später liegt dann ein Antwortbrief vor: "Cherry jinnies. Figtreeyou!/ Damn fairy ann, Voutre. Willingdone." (FW 9.13 f.) Nun scheint Französisch die sprachliche Grundlage zu sein, außerdem geht der Brief grammatikalisch an eine Frau: "Chères Jinnies, Victorieux. Ça ne fait rien. Foutre. Willing-done" (Tindall 2005, 37; McHugh 2006, 10). | So kann die kurze Sequenz "Leaper Orthor. Fear siecken! Fieldgaze thy tiny from. Hugact-/ ing. Nap." (FW 9.5 f.) der "Museyroom"-Episode laut gelesen dem Deutschen "Lieber Arthur. Wir siegen! Viele Grüße deiner kleinen Frau. Hochachtung. Nap." sehr nahe. Aber nur im Vergleich mit der schriftlichen Form werden zusätzliche Bedeutungsebenen eröffnet, wenn sich nicht zufällig in diesem Brief an Arthur (Wellington) gerade Worte wie "fear" (Angst), "field" (Schlacht-/Feld) oder das mit Napoleon assoziierte "tiny" (klein-gewachsen) finden lassen. Nur wenige Zeilen später liegt dann ein Antwortbrief vor: "Cherry jinnies. Figtreeyou!/ Damn fairy ann, Voutre. Willingdone." (FW 9.13 f.) Nun scheint Französisch die sprachliche Grundlage zu sein, außerdem geht der Brief grammatikalisch an eine Frau: "Chères Jinnies, Victorieux. Ça ne fait rien. Foutre. Willing-done" (Tindall 2005, 37; McHugh 2006, 10). | ||
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Der Satz "This is the dooforhim seeboy blow the whole/ of the half of the hat of lipoleums off of the top of the tail on the/ back of his big wide harse" (FW 10.19–10.21) wiederum beinhaltet verschiedenste /o/-Laute, deren Vokalartikulation bei den Lesenden nicht nur unweigerlich zu einem besonderes Training der Lippenmuskulatur führt, sondern den Satz auch phonetisch 'dunkler' erscheinen lässt. Das Gegenteil ist etwa bei der Formulierung "inimyskilling inglis" (FW 8.23) der Fall; hier sorgen /i/-Laute für einen fast durchgehend geöffneten Mund und ein zwangsläufig schnelleres Lesetempo. | Der Satz "This is the dooforhim seeboy blow the whole/ of the half of the hat of lipoleums off of the top of the tail on the/ back of his big wide harse" (FW 10.19–10.21) wiederum beinhaltet verschiedenste /o/-Laute, deren Vokalartikulation bei den Lesenden nicht nur unweigerlich zu einem besonderes Training der Lippenmuskulatur führt, sondern den Satz auch phonetisch 'dunkler' erscheinen lässt. Das Gegenteil ist etwa bei der Formulierung "inimyskilling inglis" (FW 8.23) der Fall; hier sorgen /i/-Laute für einen fast durchgehend geöffneten Mund und ein zwangsläufig schnelleres Lesetempo. | ||
=="The Strangest Dream that was ever Halfdreamt" (FW 307.10 f.): Traumsprache in ''Finnegans Wake''== | =="The Strangest Dream that was ever Halfdreamt" (FW 307.10 f.): Traumsprache in ''Finnegans Wake''== | ||
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==="I can psoakoonaloose myself any time I want" (FW 522.34): Joyce und Freud=== | ==="I can psoakoonaloose myself any time I want" (FW 522.34): Joyce und Freud=== | ||
James Joyce war sich als Autor eines so polyglotten Werkes wie ''Finnegans Wake'' natürlich der Verbindung seines Familiennamens zum quasi-Namensvetter aus Wien bewusst (Ellmann 2009, 32, 729, 925). Doch wie viele Schriftsteller:innen und Künstler:innen seiner Zeit gab er stets (damit) an, er hätte sich mit Sigmund Freuds Theorien zu Traum und Psychoanalyse kaum beschäftigt, geschweige denn sich von ihnen grundlegend beeinflussen lassen (ebd., 144, 589, 654 und 1019). So nennt er Freud | James Joyce war sich als Autor eines so polyglotten Werkes wie ''Finnegans Wake'' natürlich der Verbindung seines Familiennamens zum quasi-Namensvetter aus Wien bewusst (Ellmann 2009, 32, 729, 925). Doch wie viele Schriftsteller:innen und Künstler:innen seiner Zeit gab er stets (damit) an, er hätte sich mit Sigmund Freuds Theorien zu Traum und Psychoanalyse kaum beschäftigt, geschweige denn sich von ihnen grundlegend beeinflussen lassen (ebd., 144, 589, 654 und 1019). So nennt er Freud etwa in einem Brief aus dem Jahre 1921 an seine Mäzenin Harriet Weaver (1876–1961) den "Wiener Tweedledee" (ebd., 758) und die Psychoanalyse selbst bezeichnet Joyce an anderer Stelle gar als "Erpressung" (ebd., 777). | ||
Tatsächlich aber wäre ''Finnegans Wake'' ohne Freuds Traumdeutung undenkbar (Bishop 1993, 16), zumal Joyce nachweislich in den frühen 1910er Jahren während seines Aufenthalts in Triest die ''Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci'' (1910) von Freud, ''The Oedipus Complex as an Explanation of Hamlet's Mystery''/''Das Problem des Hamlet und der Oedipuskomplex'' (1910) von Ernest Jones sowie ''Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen'' (1909) von C.G. Jung auf Deutsch in seiner Privatbibliothek besitzt (Ellmann 2009, 512). Zusätzlich waren ihm Freuds Theorien der Wortassoziationen bekannt (ebd., 538), die sicherlich als Vorlage zu ''Finnegans Wake'' wie auch den Bewusstseinsströmen im ''Ulysses'' angenommen werden könnte. | Tatsächlich aber wäre ''Finnegans Wake'' ohne Freuds Traumdeutung undenkbar (Bishop 1993, 16), zumal Joyce nachweislich in den frühen 1910er Jahren während seines Aufenthalts in Triest die ''Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci'' (1910) von Freud, ''The Oedipus Complex as an Explanation of Hamlet's Mystery''/''Das Problem des Hamlet und der Oedipuskomplex'' (1910) von Ernest Jones sowie ''Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen'' (1909) von C.G. Jung auf Deutsch in seiner Privatbibliothek besitzt (Ellmann 2009, 512). Zusätzlich waren ihm Freuds Theorien der Wortassoziationen bekannt (ebd., 538), die sicherlich als Vorlage zu ''Finnegans Wake'' wie auch den Bewusstseinsströmen im ''Ulysses'' angenommen werden könnte. | ||
Als Joyce mit seiner Familie 1915 aus Paris nach Zürich flieht, kommt er in der Schweiz mit dem ehemaligen Freud-Schüler Carl Gustav Jung (1875–1961) in Kontakt, lehnte aber eine angebotene psychoanalytische Behandlung ab (Ellman 2009, 697 f.). Dies hält Jung allerdings nicht davon ab, 1932 einen Artikel über den ''Ulysses'' zu veröffentlichen, den er Joyce gegenüber in einem Brief als "aufregendes psychologisches Rätsel" lobt (ebd., 926). Umgekehrt spielt Joyce in ''Finnegans Wake'' auf den Schweizer Arzt an, der später auch seine Tochter Lucia behandeln wird, in dem er "The law of the jungerl | Als Joyce mit seiner Familie 1915 aus Paris nach Zürich flieht, kommt er in der Schweiz mit dem ehemaligen Freud-Schüler Carl Gustav Jung (1875–1961) in Kontakt, lehnte aber eine angebotene psychoanalytische Behandlung ab (Ellman 2009, 697 f.). Dies hält Jung allerdings nicht davon ab, 1932 einen Artikel über den ''Ulysses'' zu veröffentlichen, den er Joyce gegenüber in einem Brief als "aufregendes psychologisches Rätsel" lobt (ebd., 926). Umgekehrt spielt Joyce in ''Finnegans Wake'' auf den Schweizer Arzt an, der später auch seine Tochter Lucia behandeln wird, in dem er "The law of the jungerl" (FW 268.n3) sowohl als 'Gesetz des Dschungels', aber auch genauso als 'Gesetz von [Freuds] Jünger', oder schlicht 'Jungs Gesetz' interpretierbar offen lässt (Weninger 1984, 130 sowie zum divergenten Verhältnis zu Freud und Jung auch Atherton 2009, 38). | ||
===Die Sprache der Nacht=== | ===Die Sprache der Nacht=== | ||
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: <span>Tristopher and Hilary, were kickaheeling their dummy on the oil cloth flure of his homerigh, castle and earthenhouse. And, be dermot, who come to the keep of his inn only the niece-of-his-in-law, the prankquean. And the prankquean pulled a rosy one and made her wit foreninst the dour. And she lit up and fireland was ablaze (FW 21.12–17),</span> | : <span>Tristopher and Hilary, were kickaheeling their dummy on the oil cloth flure of his homerigh, castle and earthenhouse. And, be dermot, who come to the keep of his inn only the niece-of-his-in-law, the prankquean. And the prankquean pulled a rosy one and made her wit foreninst the dour. And she lit up and fireland was ablaze (FW 21.12–17),</span> | ||
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dann scheint er ( | dann scheint er (unbewusst im Träumen) Schritte auf dem "oil cloth flure" zu hören, die zum Bad hinführen; mit "[she] pulled a rosy one", "made her wit" und "she lit up" werden hier (Slang-)Begriffe gebraucht, die auf den Toilettengang und das anschließende Toilettenspülen verweisen könnten. | ||
Neben diesen von Freud "äußere (objektive) Sinneserregung" (Freud 2009, 48) genannten Einflüssen, wirken aber auch körperliche Reize auf den Traum ein; dazu zählen zum einen 'subjektive Sinneserregungen' wie Halluzinationen, aber auch der 'innere (organische) Leibreiz'. So ist im Schlaf(en) das Empfinden von Schmerzen und physischen Reizen generell sensibler ausgeprägt, und gerade Erkrankungen oder Verletzungen können dabei auf den Traum einwirken, genauso aber zum Beispiel auch eine volle Blase oder eine Erektion. Und tatsächlich finden sich bereits im ersten Teil des ersten Kapitels um die "Museyroom"-Episode herum neben dem Verweis auf eine "erection" (FW 6.09) auch Anspielungen auf Selbstbefriedigung, etwa mit den Formulierungen "Mastabatoom,/ mastabadtomm" (FW 6.10 f.) oder "laying cold hands on him-self" (FW 21.11). Werden solche Reize von "ungewöhnlicher Intensität" laut Freud "zur Traumbildung herangezogen, wenn sie sich zur Vereinigung mit dem Vorstellungsinhalt der psychischen Traumquellen eignen" (Freud 2009, 244), verbindet sich im Traum von Earwicker die Andeutung auf eine Erektion während des Schlafes daher auch erneut mit dem Baumeister Finnegan, der eine Wand 'aufstellt'; der darauf folgende Verweis auf Masturbation geht in ein Wortspiel mit "Mastaba" genannten ägyptischen Gräbern über (McHugh 2006, 6; Tindall 2005, 34), vermengt sich also sprachlich mit HCEs mehrdeutiger Darlegung der Menschheitsgeschichte. | Neben diesen von Freud "äußere (objektive) Sinneserregung" (Freud 2009, 48) genannten Einflüssen, wirken aber auch körperliche Reize auf den Traum ein; dazu zählen zum einen 'subjektive Sinneserregungen' wie Halluzinationen, aber auch der 'innere (organische) Leibreiz'. So ist im Schlaf(en) das Empfinden von Schmerzen und physischen Reizen generell sensibler ausgeprägt, und gerade Erkrankungen oder Verletzungen können dabei auf den Traum einwirken, genauso aber zum Beispiel auch eine volle Blase oder eine Erektion. Und tatsächlich finden sich bereits im ersten Teil des ersten Kapitels um die "Museyroom"-Episode herum neben dem Verweis auf eine "erection" (FW 6.09) auch Anspielungen auf Selbstbefriedigung, etwa mit den Formulierungen "Mastabatoom,/ mastabadtomm" (FW 6.10 f.) oder "laying cold hands on him-self" (FW 21.11). Werden solche Reize von "ungewöhnlicher Intensität" laut Freud "zur Traumbildung herangezogen, wenn sie sich zur Vereinigung mit dem Vorstellungsinhalt der psychischen Traumquellen eignen" (Freud 2009, 244), verbindet sich im Traum von Earwicker die Andeutung auf eine Erektion während des Schlafes daher auch erneut mit dem Baumeister Finnegan, der eine Wand 'aufstellt'; der darauf folgende Verweis auf Masturbation geht in ein Wortspiel mit "Mastaba" genannten ägyptischen Gräbern über (McHugh 2006, 6; Tindall 2005, 34), vermengt sich also sprachlich mit HCEs mehrdeutiger Darlegung der Menschheitsgeschichte. | ||
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==="How charmingly exquisite!" (FW 13.06): Traumsymbole und Selbstreflexivität=== | ==="How charmingly exquisite!" (FW 13.06): Traumsymbole und Selbstreflexivität=== | ||
Über die Assoziationsketten und Wortspiele hinaus ist die "Museyroom"-Episode – angesichts eines 'Kriegsmuseums' vielleicht auch wenig überraschend – | Über die Assoziationsketten und Wortspiele hinaus ist die "Museyroom"-Episode – angesichts eines 'Kriegsmuseums' vielleicht auch wenig überraschend – von phallischen Traumsymbolen durchzogen (Tindall 2005, 37): So liegt dem "Willingdone-Memorial" der über 60 Meter hohe steinerne Obelisk auf einem Sockel zugrunde, der dem Feldherrn Ende der 1830er Jahre nicht nur wegen seiner Erfolge in den Befreiungskriegen und der Schlacht von Waterloo gegen Napoleon gestiftet wurde, sondern auch wegen seiner Zeit als britischer Premierminister (1828–1830), in der er sich um die Katholikenemanzipation (auch in Irland) verdient gemacht hat (Siedenbiedel 2005, 35). | ||
Schon dieses real existierende Bauwerk, "that overgrown leadpencil" (FW 56.12), lässt an einen Phallus denken, was durch die Beschreibung in der "Museyroom"-Episode nochmals unterstrichen wird; das "Willingdone mormorial" (FW 8.35) ist ein "old max montrumeny" (FW 10.3). Damit erinnert die Joyce'sche Traumsymbolik durchaus an die häufig (verkürzt) mit Freuds ''Traumdeutung'' verbundene Sexualmetaphorik, die sich | Schon dieses real existierende Bauwerk, "that overgrown leadpencil" (FW 56.12), lässt an einen Phallus denken, was durch die Beschreibung in der "Museyroom"-Episode nochmals unterstrichen wird; das "Willingdone mormorial" (FW 8.35) ist ein "old max montrumeny" (FW 10.3). Damit erinnert die Joyce'sche Traumsymbolik durchaus an die häufig (verkürzt) mit Freuds ''Traumdeutung'' verbundene Sexualmetaphorik, die sich beispielsweise durch "alle in die Länge reichenden Objekte" sowie "alle länglichen und scharfen Waffen" (Freud 2009, 348) respektive (als weiblichen Sexualsymbole) durch verschiedenste "dem Frauenleib" (ebd., 349) entsprechende Gegenstände wie Gefäße, Höhlen oder verschlossene Zimmer ausdrückt. Somit scheinen sich auch die verschiedenen Waffen und Objekte – zum Beispiel "gunn" (FW 8.11), "fork" (FW 8.15), "key" (FW 9.35) und "tailoscrupp" (FW 10.13) – sowie das mehrfach erwähnte Pferd nicht nur in den Militaria-Diskurs dieser Episode einzureihen (Atherton 2009, 155), sondern dürften nach Freud traumsymbolisch für das männliche Geschlecht stehen und damit erneut auf die (möglicherweise sexuelle) Verfehlung von HCE verweisen. | ||
Der "enzyklopädische Wissensvorrat" (Erzgräber 1998, 322) aus Geschichte und Mythologie, Alltags- und Populärkultur (Blumenbach 1996) lassen das Träumen in ''Finnegans Wake'' aber nicht nur als 'individuelles' Erleben erscheinen, sondern legen auch eine gewisse Nähe zum Verständnis eines "kollektiven Unbewussten" im Sinne von Jung nahe (Hart 1962, 80). Schließlich bringt der Traum von HCE allgemein bekannte religiöse, historische und kulturelle Stoffe oder Symbole zu einem universellen, die Geschichte der Menschheit von ihren Anfängen bis etwa zum Ersten Weltkrieg umspannenden Traum zusammen (Bishop 1993, 196). | |||
Und so wie HCE in seinem eigenen Traum in verschiedenen Gestalten – von Finnegan bis Buddha, von Noah bis Guinness – auftritt, ist er "nicht eine Person, sondern viele" (Eco 2010, 392): HCE als Jedermann ("Here Comes/ Everybody"; FW 32.18 f.) kann auf Dutzende von Sprachen ebenso zurückgreifen wie auf philosophische Konzepte und ein gewaltiges Textkorpus aus mehreren Jahrtausenden globalen Schrifttums. Hinzu kommen noch die bereits angesprochenen Sprichwörter, Lieder und Balladen, Songs und Slogans aus der Alltagskultur, sowie Kinderreime und allgemeines Volksgut. So stammen die intertextuellen Bezüge aus religiösen, wissenschaftlichen und literarischen Werken verschiedenster Kulturen und Philologien (Bonheim 1967; Christiani 1965; Hart 1963; O'Hehir 1968; O'Hehir/Dillon 1977). In seinem Standardwerk zu literarischen Anspielungen in ''Finnegans Wake'' konnte James S. Atherton mehrere hundert solcher Verweise zuordnen (Atherton 2009, 233–290). Damit | Und so wie HCE in seinem eigenen Traum in verschiedenen Gestalten – von Finnegan bis Buddha, von Noah bis Guinness – auftritt, ist er "nicht eine Person, sondern viele" (Eco 2010, 392): HCE als Jedermann ("Here Comes/ Everybody"; FW 32.18 f.) kann auf Dutzende von Sprachen ebenso zurückgreifen wie auf philosophische Konzepte und ein gewaltiges Textkorpus aus mehreren Jahrtausenden globalen Schrifttums. Hinzu kommen noch die bereits angesprochenen Sprichwörter, Lieder und Balladen, Songs und Slogans aus der Alltagskultur, sowie Kinderreime und allgemeines Volksgut. So stammen die intertextuellen Bezüge aus religiösen, wissenschaftlichen und literarischen Werken verschiedenster Kulturen und Philologien (Bonheim 1967; Christiani 1965; Hart 1963; O'Hehir 1968; O'Hehir/Dillon 1977). In seinem Standardwerk zu literarischen Anspielungen in ''Finnegans Wake'' konnte James S. Atherton mehrere hundert solcher Verweise zuordnen (Atherton 2009, 233–290). Damit scheint Earwicker tatsächlich als das "kollektive Unbewusste" schlechthin und – auf Vico und Jung zurückgehend – als die Summe vieler Einzelbewusstseine, das Wissen der Menschheit im Traum abzurufen (Bishop 1993, 212 f.; Reichert 1989, 24 f.). Gleichzeitig ist HCEs Traum als niemals endend und, in Anlehnung an Vicos Geschichtsphilosophie, zirkulär aufgebaut: Earwicker wird nie aufwachen. | ||
Die im Traum anklingenden ''nursery rhymes'', einfache Kinderreime also, könnten aber nicht nur aus einem solch umfassenden Wissensschatz stammen, sondern auch aus persönlichen Kindheitserinnerungen von Earwicker (etwa Myers 1992, 24, 29). Genau wie mit Traumeinflüssen aus seinem alltäglichen Umfeld (etwa Dublin sowie seiner Taverne und Familie) und den Tagesresten (besonders der Vorfall in Phoenix Park) werden solche aus der Kindheit in Erinnerung gebliebenen Elemente in den Traum mit eingeflochten – HCE wäre damit also eine Mischung aus einem allwissendem "kollektivem Unbewussten" und einem individuellem Träumer, zumal er seine eigene Person im Traum immer wieder reflektiert. Diese Anspielungen auf die 'eigene Person' drücken sich besonders in Earwickers vollständigen Namen ergebenden Akronymen aus, die in ''Finnegans Wake'' auf drei Arten erscheinen können (Bishop 1993, 139–145; Farbman 2008, 97 f.): | |||
* als vorwärts gelesenes Akronym (HCE), etwa "Homo/ Capite Erectus" (FW 101.12 f.), | * als vorwärts gelesenes Akronym (HCE), etwa "Homo/ Capite Erectus" (FW 101.12 f.), | ||
* als unterbrochenes Akronym, etwa "he is ee and no affair" (FW 29.34), | * als unterbrochenes Akronym, etwa "he is ee and no affair" (FW 29.34), | ||
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Jonas Nesselhauf]]</div> | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Jonas Nesselhauf]]</div> | ||
==Literatur== | ==Literatur== | ||
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===Kommentare und Hilfsmittel=== | ===Kommentare und Hilfsmittel=== | ||
* Bonheim, Helmut: A Lexicon of the German in ''Finnegans Wake''. Berkeley: University of California Press 1967. | * Bonheim, Helmut: A Lexicon of the German in ''Finnegans Wake''. Berkeley: University of California Press 1967. | ||
* Campbell, Joseph/Henry Morton Robinson: A Skeleton Key to ''Finnegans Wake''. Unlocking James Joyce's Masterwork. Novato: New World Library 2005. | |||
* Glasheen, Adaline: A Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1956. | * Glasheen, Adaline: A Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1956. | ||
* Glasheen, Adaline: A Second Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1963. | * Glasheen, Adaline: A Second Census of ''Finnegans Wake''. An Index of Characters and their Roles. Evanston: Northwestern UP 1963. | ||
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===Quellen=== | ===Quellen=== | ||
* Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ, 1887–1904. Frankfurt/M.: Fischer 1999. | * Freud, Sigmund: Briefe an Wilhelm Fließ, 1887–1904. Hg. von Jeffrey Moussaieff Masson. Frankfurt/M.: Fischer 1999. | ||
* Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Fischer 2008. | * Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1916]. Frankfurt/M.: Fischer 2008. | ||
* Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. Frankfurt/M.: Fischer 2009. | * Freud, Sigmund: Die Traumdeutung [1899]. Frankfurt/M.: Fischer 2009. | ||
===Forschungsliteratur=== | ===Forschungsliteratur=== | ||
* Atherton, James: The Books at the Wake. A Study of Literary Allusions in James Joyce's ''Finnegans Wake''. Carbondale: Southern Illinois UP 2009. | * Atherton, James: The Books at the Wake. A Study of Literary Allusions in James Joyce's ''Finnegans Wake''. Carbondale: Southern Illinois UP 2009. | ||
* Beckett, Samuel u.a.: Our Exagmination Round His Factification for Incamination of Work in Progress. Paris: Shakespeare & Company, London: Faber & Faber 1929. | |||
* Begnal, Michael H.: Dreamscheme. Narration and Voice in ''Finnegans Wake''. Syracuse: Syracuse UP 1988. | * Begnal, Michael H.: Dreamscheme. Narration and Voice in ''Finnegans Wake''. Syracuse: Syracuse UP 1988. | ||
* Begnal, Michael H. | * Begnal, Michael H./Grace Eckley: Narrator and Character in ''Finnegans Wake''. Lewisburg: Bucknell UP 1975. | ||
* Benstock, Bernard: Joyce-again's Wake. An Analysis of ''Finnegans Wake''. Seattle: University of Washington Press 1965. | * Benstock, Bernard: Joyce-again's Wake. An Analysis of ''Finnegans Wake''. Seattle: University of Washington Press 1965. | ||
* Birmingham, Kevin: The Most Dangerous Book. The Battle for James Joyce's ''Ulysses''. New York: Penguin 2014. | * Birmingham, Kevin: The Most Dangerous Book. The Battle for James Joyce's ''Ulysses''. New York: Penguin 2014. | ||
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* Broch, Hermann: James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyces 50. Geburtstag. In: Ders.: Geist und Zeitgeist. Essays zur Kultur der Moderne. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, 66–93. | * Broch, Hermann: James Joyce und die Gegenwart. Rede zu Joyces 50. Geburtstag. In: Ders.: Geist und Zeitgeist. Essays zur Kultur der Moderne. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Paul Michael Lützeler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, 66–93. | ||
* Butler, Christopher: Joyce the Modernist. In: Derek Attridge (Hg.): The Cambridge Companion to James Joyce. Cambridge: Cambridge UP 2006, 67–86. | * Butler, Christopher: Joyce the Modernist. In: Derek Attridge (Hg.): The Cambridge Companion to James Joyce. Cambridge: Cambridge UP 2006, 67–86. | ||
* Christiani, Dounia Bunis: Scandinavian Elements of ''Finnegans Wake''. Evanston: Northwestern UP 1965. | * Christiani, Dounia Bunis: Scandinavian Elements of ''Finnegans Wake''. Evanston: Northwestern UP 1965. | ||
* Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010. | * Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010. | ||
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* Lernout, Geert: The Beginning: Chapter I.1. In: Luca Crispi/Sam Slote (Hg.): How Joyce Wrote ''Finnegans Wake''. A Chapter-By-Chapter Genetic Guide. Madison: University of Wisconsin Press 2007, 49–65. | * Lernout, Geert: The Beginning: Chapter I.1. In: Luca Crispi/Sam Slote (Hg.): How Joyce Wrote ''Finnegans Wake''. A Chapter-By-Chapter Genetic Guide. Madison: University of Wisconsin Press 2007, 49–65. | ||
* Lodge, David: The Modes of Modern Writing. Metaphor, Metonymy, and the Topology of Modern Literature. London: Edward Arnold 1977. | * Lodge, David: The Modes of Modern Writing. Metaphor, Metonymy, and the Topology of Modern Literature. London: Edward Arnold 1977. | ||
* Losey, Jay B.: Dream-Epiphanies in ''Finnegans Wake''. In: James Joyce Quarterly 26 (1989), 611-617. | |||
* McLuhan, Eric: The Role of Thunder in ''Finnegans Wake''. Toronto: University of Toronto Press 1997. | * McLuhan, Eric: The Role of Thunder in ''Finnegans Wake''. Toronto: University of Toronto Press 1997. | ||
* Myers, Peter: The Sound of ''Finnegans Wake''. London: Macmillan 1992. | * Myers, Peter: The Sound of ''Finnegans Wake''. London: Macmillan 1992. | ||
* Nesselhauf, Jonas: Der ewige Albtraum. Zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Paderborn: Fink 2017. | * Nesselhauf, Jonas: Der ewige Albtraum. Zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Paderborn: Fink 2017. | ||
* Norris, Margot C.: The Language of Dream in ''Finnegans Wake''. In: Literature and Psychology 24 (1974), 4-11. | |||
* Norris, Margot: The Decentered Universe of ''Finnegans Wake''. A Structuralist Analysis. Baltimore: John Hopkins UP 1976. | * Norris, Margot: The Decentered Universe of ''Finnegans Wake''. A Structuralist Analysis. Baltimore: John Hopkins UP 1976. | ||
* Norris, Margot: ''Finnegans Wake''. In: Derek Attridge (Hg.): The Cambridge Companion to James Joyce. Cambridge: Cambridge UP 2006, 149–171. | * Norris, Margot: ''Finnegans Wake''. In: Derek Attridge (Hg.): The Cambridge Companion to James Joyce. Cambridge: Cambridge UP 2006, 149–171. |