"Kassandra" (Christa Wolf): Unterschied zwischen den Versionen
"Kassandra" (Christa Wolf) (Quelltext anzeigen)
Version vom 7. Oktober 2023, 21:11 Uhr
, 7. Oktober 2023→Träume in Kassandra
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==Träume in ''Kassandra''== | ==Träume in ''Kassandra''== | ||
In der mosaikhaften<ref>Die Schriftstellerin setzt die Schreibmethode um, für die sie seit Jahren bekannt ist, und die ihre Originalität ausmacht: Sie gestaltet den Stoff in fiktiver und nicht-fiktiver Prosa | In der mosaikhaften<ref>Die Schriftstellerin setzt hier die Schreibmethode um, für die sie seit Jahren bekannt ist, und die ihre Originalität ausmacht: Sie gestaltet den Stoff in fiktiver und nicht-fiktiver Prosa; Essay, Tagebuch und Erzählung werden zusammengefügt nach dem Schreibprinzip der ausgewogenen Authentizität. Sie lässt darüber hinaus in ihren Text Erfahrungen einfließen, die sie während des Schreibmoments macht.</ref> und unchronologischen Erzählung Kassandras haben Träume samt mythologischen Prophezeiungen der Seherin eine große Bedeutung. Es handelt sich um eindeutig markierte Schlafträume, die nachts von Göttern gesendet werden. Sie erscheinen in unterschiedlichen Formen und ihre Funktionen sind mehrdeutig. In der Erzählung spielt Kassandra eine doppelte Rolle: Sie ist nicht nur Seherin, sondern auch Traumdeuterin (Wolf, 2008, 124), die die Träume der anderen Figuren deutet und diese auch ihre persönlichen Träume deuten lässt. In diesem Zusammenhang wird das Nicht-Träumen als eine dramatische Situation erlebt, weil es den Rückzug der Götter bedeutet, die die Quelle der Träume sind (Wolf 2008, 147). Insofern hält Christa Wolf in gewisser Weise an dem geschlossenen Drama fest, bietet aber eine fragmentarische Erzählstruktur an. Die kontroversen Traumdeutungen sind eng mit den sich überschneidenden Wissensdiskursen verknüpft, die in den 1980er Jahren üblich waren. | ||
In der Erzählung können drei Hauptkategorien von Träumen unterschieden werden: Geburts- oder Angstträume, Liebesträume und komplexe, symbolbeladene Träume. Die Träume der Charaktere sind die folgenden: | |||
===Traum I: Kassandras (Alp)Traum von der Sehergabe (K 22)=== | ===Traum I: Kassandras (Alp)Traum von der Sehergabe (K 22)=== | ||
Am Vorabend der Übergabe der Priesterbinde träumt Kassandra von Apollon, dem Gott der Seher, der | Am Vorabend der Übergabe der Priesterbinde träumt Kassandra von Apollon, dem Gott der Seher, der dem Priester Panthoos ähnelt, zu dem sie ein konfliktreiches Verhältnis hat: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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:<span style="color: #7b879e;">Der Traum die Nacht zuvor kam ungerufen, und er hat mich sehr verstört. Daß es Apollon war, der zu mir kam, das sah ich gleich, trotz der entfernten Ähnlichkeit mit Panthoos, von der ich kaum hätte sagen können, worin sie bestand. Am ehesten im Ausdruck seiner Augen, die ich damals noch | :<span style="color: #7b879e;">Der Traum die Nacht zuvor kam ungerufen, und er hat mich sehr verstört. Daß es Apollon war, der zu mir kam, das sah ich gleich, trotz der entfernten Ähnlichkeit mit Panthoos, von der ich kaum hätte sagen können, worin sie bestand. Am ehesten im Ausdruck seiner Augen, die ich damals noch "grausam", später, bei Panthoos - nie wieder sah ich Apoll! - nur "nüchtern" nannte. Apollon im Strahlenglanz, wie Panthoos ihn mich sehen lehrte. Der Sonnengott mit der Leier, blau, wenn auch grausam, die Augen, bronzefarben die Haut. Apollon, der Gott der Seher. Der wußte, was ich heiß begehrte: die Sehergabe, die er mir durch eine eigentlich beiläufige, ich wagte nicht zu fühlen: enttäuschende Geste verlieh, nur um sich mir dann als Mann zu nähern, wobei er sich - ich glaubte, allein durch meinen grauenvollen Schrecken - in einen Wolf verwandelte, der von Mäusen umgeben war und der mir wütend in den Mund spuckte, als er mich nicht überwältigen konnte. So daß ich beim entsetzten Erwachen einen unsagbar widerwärtigen Geschmack auf der Zunge spürte und mitten in der Nacht aus dem Tempelbezirk, in dem zu schlafen ich zu jener Zeit verpflichtet war, in die Zitadelle, in den Palast, ins Zimmer, ins Bett der Mutter floh (K 22-23).</span> | ||
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Man erfährt, dass Kassandra nach ihrem entsetzten Erwachen einen ekelerregenden Geschmack auf der Zunge hat und dass sie mitten in der Nacht aus dem Tempelbezirk, der Zitadelle, dem Palast und ihrem Zimmer geflohen ist, um schließlich im Bett ihrer Mutter Zuflucht zu finden | Man erfährt, dass Kassandra nach ihrem entsetzten Erwachen einen ekelerregenden Geschmack auf der Zunge hat und dass sie mitten in der Nacht aus dem Tempelbezirk, der Zitadelle, dem Palast und ihrem Zimmer geflohen ist, um schließlich im Bett ihrer Mutter Zuflucht zu finden. Die Angst vor der Vereinigung mit dem Sonnengott Apollon erweist sich als Auslöser des Alptraums. Merkwürdigerweise versucht die Mutter Hekabe nicht, den Traum ihrer Tochter zu deuten, obwohl sie sich über die wolfsähnliche Gestalt Apollons Sorgen macht. Denn für sie gibt es nichts Ehrenhafteres als den Willen eines Gottes, sich mit einer "Sterblichen" zu vereinen (K 23). Angesichts der Zweifeln und Gleichgültigkeit von Panthoos der Grieche an der Berufung von Kassandra zum Priestertum, lässt Kassandra ihren Traum schließlich von der gleichaltrigen Freundin Marpessa deuten: "Wenn Apollon dir in den Mund spuckt […] bedeutet das: Du hast die Gabe, die Zukunft vorauszusagen. Doch niemand wird dir glauben" (K 33). | ||
===Traum II: Kassandras (Alp)Traum von dem geliebten Aneias (K 26)=== | ===Traum II: Kassandras (Alp)Traum von dem geliebten Aneias (K 26)=== | ||
Nachdem sie Aneias am Tag ihrer Entjungferung kennengelernt hat, verliebt sich Kassandra in ihn. Im Vergleich zu den anderen Männerfiguren, die als wild und ungeduldig beschrieben werden, erweist sich Aneias als sanfter junger Mann, der ihr gegenüber respektvoll und wohlwollend verhält. Aus Liebe zu Kassandra weigert er sich, seine Pflicht zu erfüllen, d.h. Kassandra zu deflorieren und beschützt sie – Panthoos der Grieche ist es, der sie tatsächlich entjungfert | Nachdem sie Aneias am Tag ihrer Entjungferung kennengelernt hat, verliebt sich Kassandra in ihn. Im Vergleich zu den anderen Männerfiguren, die als wild und ungeduldig beschrieben werden, erweist sich Aneias als sanfter junger Mann, der sich ihr gegenüber respektvoll und wohlwollend verhält. Aus Liebe zu Kassandra weigert er sich, seine Pflicht zu erfüllen, d.h. Kassandra zu deflorieren, und beschützt sie – Panthoos der Grieche ist es, der sie tatsächlich entjungfert. In dieser Nacht findet sie ihr Glück bei ihrem Geliebten, hat aber mitten in der Nacht einen Alptraum. Sie träumt von einem Schiff, das Aneias weit weg von der trojanischen Küste bringt auf blauem, glattem Wasser, und von einem riesigen Feuer, das, während das Schiff sich zum Horizont hin entfernt, zwischen denen steht, die wegfahren, und denen, die zu Hause geblieben sind wie Kassandra: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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:<span style="color: #7b879e;">Gegen Abend schlief ich ein, ich weiß noch, ich träumte von einem Schiff, das den Aineias über glattes blaues Wasser von unserer Küste wegführte, und von einem ungeheuren Feuer, das sich, als das Schiff sich gegen den Horizont hin entfernte, zwischen die Wegfahrenden und uns, die Daheimgebliebenen, legte. Das Meer brannte. Dies Traumbild seh ich heute noch, so viele andre, schlimmere Wirklichkeitsbilder sich auch darübergelegt haben. Gern wüßte ich (was denk ich da! gern? wüßte? ich? Doch. Die Worte stimmen), gern wüßte ich, welche Art Unruhe, unbemerkt von mir, mitten im Frieden, mitten im Glück: so redeten wir doch! solche Träume schon heraufrief. Schreiend erwachte ich | :<span style="color: #7b879e;">Gegen Abend schlief ich ein, ich weiß noch, ich träumte von einem Schiff, das den Aineias über glattes blaues Wasser von unserer Küste wegführte, und von einem ungeheuren Feuer, das sich, als das Schiff sich gegen den Horizont hin entfernte, zwischen die Wegfahrenden und uns, die Daheimgebliebenen, legte. Das Meer brannte. Dies Traumbild seh ich heute noch, so viele andre, schlimmere Wirklichkeitsbilder sich auch darübergelegt haben. Gern wüßte ich (was denk ich da! gern? wüßte? ich? Doch. Die Worte stimmen), gern wüßte ich, welche Art Unruhe, unbemerkt von mir, mitten im Frieden, mitten im Glück: so redeten wir doch! solche Träume schon heraufrief. Schreiend erwachte ich (K 26).</span> | ||
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Nach dem Alptraum wacht | Nach dem Alptraum wacht Kassandra schreiend auf und wird von Aneias getröstet, der sie zu ihrer Mutter trägt. Das brennende Meer bleibt ein prägendes Traumbild, das Kassandra nicht loslässt. Ihre Fragen und Träume lösen sich auf, nachdem ihre Mutter ihr ein Getränk verabreicht hat. In diesem Zusammenhang lässt sich der Alptraum von Kassandra als eine spannungssteigernde Prolepse im Hinblick auf die späteren Kriegserlebnisse in Troja lesen. In der Erinnerung an ihre Jugendzeit wird der Ursprung ihrer Angstträume ans Licht gebracht (K 50). In diesen empfindet sie Lust für Aneias, der sie aber bedroht. Doch diese Träume, die bei ihr Schuldgefühl, Verzweiflung und Selbstentfremdung hervorrufen, erinnern an dem ersten Anfall Kassandras, als sie die Wahrheit über das zweite Schiff von Aineas erfährt. Das zweite Schiff wurde ausgesandt, angeführt von Aineas' Vater Anchises und dem Seher Kalchas. Die Mission bestand darin, Hesione, die Schwester von Priamos, zurückzubringen, die angeblich von Telamon, dem König von Sparta, entführt wurde. Die Mission scheitert jedoch auf doppelte Weise: Das zweite Schiff kehrt nicht nur ohne Hesione zurück, die mittlerweile Telamons Frau und Königin von Sparta geworden ist, sondern auch ohne den Seher Kalchas. Dieser bleibt freiwillig in Griechenland, doch aus Staatsräson wird die Propagandalüge verbreitet, Kalchas werde von den Griechen als Geisel festgehalten (K 44-47). Kassandra muss feststellen, dass sich ein Kreis des Schweigens (K 46) um sie schließt, dass man ihr die Wahrheit vorenthält. Von Aineas erfährt sie die Wahrheit und zum ersten Mal entladen sich ihr Schmerz, ihre Wut, ihre Angst und ihre Verzweiflung in einem Anfall. | ||
===Traum III: Kassandras (Alp)traum von dem Kind der Asterope und des Aisakos (K 59)=== | ===Traum III: Kassandras (Alp)traum von dem Kind der Asterope und des Aisakos (K 59)=== | ||
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:<span style="color: #7b879e;"> | :<span style="color: #7b879e;">immer der schwere Schlaf und die Träume. Jenes Kind der Asterope und des Aisakos, das mit seiner Mutter zusammen bei der Geburt gestorben war, wuchs in mir. Als es reif war, wollte ich es nicht zur Welt bringen, da spie ich es aus, und es war eine Kröte. Vor der ekelte ich mich. Merops, der uralte Traumdeuter, hörte mich aufmerksam an (K59).</span> | ||
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Kassandra lässt ihren Traum von Merops, dem uralten Traumdeuter, deuten. Dieser | Kassandra lässt ihren Traum von Merops, dem uralten Traumdeuter, deuten. Dieser erklärt ihr den Traum nicht, sondern warnt Kassandras Mutter Hekabe vor Männern, die Aisakos ähnlich sehen, und empfehlt ihr, diese aus der Nähe der Tochter zu entfernen. Dem Alptraum geht ein erschütterndes Ereignis voraus, das Kassandra zum ersten Mal in einen anfallähnlichen Zustand versetzt hat: der Tod ihres meistgeliebten Bruders Aisakos in der Vorkriegszeit. Er wird als ein kräftiger, warmhäutiger Mann mit braunem Kraushaar beschrieben, der anders zu ihr war als alle ihre anderen Brüder (K 58). Aisakos versucht mehrfach, sich das Leben zu nehmen, nachdem seine junge und schöne Frau Asterope im Kinderbett stirbt. Er wird von seinen Bewachern gerettet, bis er nicht mehr gefunden wird und später verzweifelt ins Meer eintaucht. Der schwarze Vogel mit roten Hals, der nach dem Eintauchen Aisakos auftaucht, wird allerdings von dem Orakeldeuter Kalchas als eine verwandelte Gestalt Aisakos ausgelegt. Als der obige Alptraum eintritt, trauert Kassandra um den Tod ihres Bruders Aisakos. Darüber hinaus erscheint die Interpretation des toten Kindes als Kassandras mangelnder Wille, Mutter zu werden, plausibel. | ||
===Traum IV: Hekabes (Alp)traum von dem verfluchten Kind Paris (K 66)=== | ===Traum IV: Hekabes (Alp)traum von dem verfluchten Kind Paris (K 66)=== | ||
Die Spekulationen um die Geburt von Paris, | Die Spekulationen um die Geburt von Paris, dem Verursacher des Untergangs Trojas, stehen im Mittelpunkt der Erzählung. Der Geburt des Knaben geht eine Prophezeiung von Aisakos voraus. Er verkündet, dass ein Fluch auf dem Kind liegt. Aber ausschlaggebend ist der Traum der Hekabe: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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:<span style="color: #7b879e;">Die nämlich hatte, wenn ich Arisbe glauben konnte, kurz vor der Geburt des Paris geträumt, sie gebäre ein Holzscheit, aus dem unzählige brennende Schlangen hervorkrochen | :<span style="color: #7b879e;">Die nämlich hatte, wenn ich Arisbe glauben konnte, kurz vor der Geburt des Paris geträumt, sie gebäre ein Holzscheit, aus dem unzählige brennende Schlangen hervorkrochen (K 66).</span> | ||
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Gedeutet wird der Traum von dem Seher Kalchas. Ihm zufolge | Gedeutet wird der Traum von dem Seher Kalchas. Ihm zufolge werde das Kind, das Hekabe gebären sollte, ganz Troja in Brand stecken. Doch diese Traumdeutung wird von anderen Figuren kontrovers diskutiert (K 66). Kassandra zweifelt an Kalchas Deutung und glaubt, dass die Alpträume ihrer Mutter bloß Angstträume sind (K 67). Nach Arisbe könnte das Kind dazu bestimmt sein, die Schlangengöttin als Hüterin des Feuers in jedem Hause wieder in ihre Rechte einzusetzen - eine Deutung, die Kassandra erschreckt. Grundsätzlich befürworten die einen die Tötung des gefährlichen Knaben und die anderen, darunter auch Hekabe, wollen das Kind retten. Letztendlich entkommt der Knabe dem Tod durch die Hilfe eines Hirten, der es nicht über sich gebracht hat, ihn zu töten. Dass König Priamos die Zunge eines Hundes, die ihm der Hirte als Beweisstück bringt, nicht von der eines Säuglings unterscheiden kann, verwundert Kassandra. Sie vermutet, dass ihr Vater seinen wunderbaren Sohn nicht sterben lassen wollte (K 68). | ||
===Traum V: (Alp)Traum des Königs Priamos (K 87-88)=== | ===Traum V: (Alp)Traum des Königs Priamos (K 87-88)=== | ||
Kurz vor dem trojanischen Krieg und nach einer langen Zeit, | Kurz vor dem trojanischen Krieg und nach einer langen Zeit, in der Kassandra keine Träume mehr hatte (K 72), erzählt König Priamos von seinem Traum: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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:<span style="color: #7b879e;">Ungebeten deutete ich dem König einen Traum, den er bei der Tafel erzählt hatte: Zwei Drachen, die miteinander kämpften; der eine trug einen goldgehämmerten Brustpanzer, der andre führte eine scharf geschliffene Lanze. Der eine also unverletzlich und unbewaffnet, der andre bewaffnet und | :<span style="color: #7b879e;">Ungebeten deutete ich dem König einen Traum, den er bei der Tafel erzählt hatte: Zwei Drachen, die miteinander kämpften; der eine trug einen goldgehämmerten Brustpanzer, der andre führte eine scharf geschliffene Lanze. Der eine also unverletzlich und unbewaffnet, der andre bewaffnet und haßerfüllt, jedoch verletzlich. Sie kämpften ewig (K 87 f.).</span> | ||
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Kassandra deutet den Traum als | Kassandra deutet den Traum als Widerstreit, in dem ihr Vater mit sich selbst liege. Dieser glaubt ihr jedoch nicht (K 88). Zutreffend ist seiner Meinung nach die Deutung von Panthoos: "Der goldgepanzerte Drache bin natürlich ich, der König. Bewaffnen muß ich mich, um meinen tückischen und schwerbewaffneten Feind zu überwältigen. Den Waffenschmieden hab ich schon befohlen, ihre Produktion zu steigern" (K 88). Kassandra zweifelt an der Empfehlung von Panthoos, einem Mann, den sie hasst. Zum Beginn des Krieges ist Kassandra skeptisch, dass man wisse, ob schon der Krieg oder erst nur der Vorkrieg begonnen habe (ebd.). | ||
===Traum VI: Kassandras Liebestraum (K 102)=== | ===Traum VI: Kassandras Liebestraum (K 102)=== | ||
Im Herbst | Im Herbst - nachdem der Krieg begonnen hat und Paris tatsächlich nach Troja zurückgekehrt ist, um Helena zu entführen, sie dort aber nicht gefunden hat -, während Kassandra von Oinone auf die Weiden gebracht wird, träumt sie von Aneais. Sie ist desorientiert, weil niemand sie auf ihren Geliebten anspricht (K 101). Vor Wut schreiend legt sie sich auf die Weide, was ihr jedoch nicht hilft. Ihre Sehnsucht nach Liebe ist so stark, dass sie bei der Initiation eines jungen Priesters weiterhin von Aneias träumt: | ||
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | {| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0" | ||
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:<span style="color: #7b879e;">Unerträglich sehnte ich mich nach Liebe, eine Sehnsucht, die nur einer stillen konnte, darüber ließen meine Träume keinen Zweifel. Einmal nahm ich einen blutjungen Priester, den ich anlernte und der mich verehrte, zu mir auf mein Lager, wie man es fast von mir erwartete. Ich löschte seine Glut, blieb selber kalt und träumte von Aineias. Ich begann auf meinen Körper achtzugeben, der, wer hätte das gedacht, sich von Träumen leiten ließ | :<span style="color: #7b879e;">Unerträglich sehnte ich mich nach Liebe, eine Sehnsucht, die nur einer stillen konnte, darüber ließen meine Träume keinen Zweifel. Einmal nahm ich einen blutjungen Priester, den ich anlernte und der mich verehrte, zu mir auf mein Lager, wie man es fast von mir erwartete. Ich löschte seine Glut, blieb selber kalt und träumte von Aineias. Ich begann auf meinen Körper achtzugeben, der, wer hätte das gedacht, sich von Träumen leiten ließ (K 102).</span> | ||
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:<span style="color: #7b879e;">Ich ging, allein, durch eine Stadt, die ich nicht kannte, Troia war es nicht, doch Troia war die einzige Stadt, die ich vorher je gesehn. Meine Traumstadt war größer, weitläufiger. Ich wußte, es war Nacht, doch Mond und Sonne standen gleichzeitig am Himmel und stritten um die Vorherrschaft. Ich war, von wem, das wurde nicht gesagt, zur Schiedsrichterin bestellt: Welches von den beiden Himmelsgestirnen heller strahlen könne. Etwas an diesem Wettkampf war verkehrt, doch was, das fand ich nicht heraus, wie ich mich auch anstrengen mochte. Bis ich mutlos und beklommen sagte, es wisse und sehe doch ein jeder, die Sonne sei es, die am hellsten strahle. Phobus Apollon! rief triumphierend eine Stimme, und zugleich fuhr zu meinem Schrecken Selene, die liebe Mondfrau, klagend zum Horizont hinab. Dies war ein Urteil über mich, doch wie konnte ich schuldig sein, da ich nur ausgesprochen hatte, was der Fall war. Mit dieser Frage bin ich aufgewacht | :<span style="color: #7b879e;">Ich ging, allein, durch eine Stadt, die ich nicht kannte, Troia war es nicht, doch Troia war die einzige Stadt, die ich vorher je gesehn. Meine Traumstadt war größer, weitläufiger. Ich wußte, es war Nacht, doch Mond und Sonne standen gleichzeitig am Himmel und stritten um die Vorherrschaft. Ich war, von wem, das wurde nicht gesagt, zur Schiedsrichterin bestellt: Welches von den beiden Himmelsgestirnen heller strahlen könne. Etwas an diesem Wettkampf war verkehrt, doch was, das fand ich nicht heraus, wie ich mich auch anstrengen mochte. Bis ich mutlos und beklommen sagte, es wisse und sehe doch ein jeder, die Sonne sei es, die am hellsten strahle. Phobus Apollon! rief triumphierend eine Stimme, und zugleich fuhr zu meinem Schrecken Selene, die liebe Mondfrau, klagend zum Horizont hinab. Dies war ein Urteil über mich, doch wie konnte ich schuldig sein, da ich nur ausgesprochen hatte, was der Fall war. Mit dieser Frage bin ich aufgewacht (K 114 f.).</span> | ||
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Bemerkenswert ist die große Bedeutung, die diesem Traum beigemessen wird, obwohl er nicht gedeutet wird. Eingeleitet wird | Bemerkenswert ist die große Bedeutung, die diesem Traum beigemessen wird, obwohl er nicht gedeutet wird. Eingeleitet wird er folgendermaßen: "Er gehörte zu jenen Träumen, die ich gleich für bedeutsam hielt, nicht ohne weiteres verstand, doch nicht vergaß" (K 114). Der Traum ist so schwer zu deuten, dass Marpessa Arisbe den Traum Kassandras erzählt, obwohl diesee nicht für die Deutung ihrer Träume zuständig ist. Marpessa kommt zum Schluss, dass das Wichtigste an ihrem Traum, ihr Bemühn sei, "auf eine ganz verkehrte Frage doch eine Antwort zu versuchen" (K 115). Kassandra ist sich bewusst, dass die Antwort in diesen Fragen liegt und findet den Ursprung ihres Traums in den ersten Monaten des Krieges. In diesem Moment ist es schon wieder Vorfrühling und lange haben die Griechen die Trojaner nicht mehr angegriffen. Nachdem sie die Festung verlassen hat, setzt sich Kassandra auf einen Hügel über dem Fluß Skamander. | ||
Abgesehen von den | Abgesehen von den textimmanenten Interpretationsversuchen anderer Figuren eröffnet der Kampf zwischen Mond und Sonne eine zweite Bedeutungsebene vor dem Hintergrund der archetypischen Psychologie. Es ist offensichtlich, dass der symbolische Charakter des Traums eine Anspielung auf Carl Gustav Jungs (1875-1961) [["Traumsymbole des Individuationsprozesses" (Carl Gustav Jung) |Traumkonzeption]] ist. Träume stellen eine umfassende Symbolik dar, die dem kollektiven Unbewussten entspricht. Der Mond und die Sonne verkörpern zwei Prinzipien, nämlich das Weibliche und das Männliche, die sich im Traum gegenüberstehen. Mann und Frau fungieren, in Übereinstimmung mit Jungs Denken, als Wesen, die zur Symbolisierung fähig sind. Die Polarisierung der lunaren Frau und des solaren Gottes oder Mannes entspricht dem Oppositionsprinzip des von Jung geprägten Begriffs des Archetyps, der als universelle Form definiert werden kann. In Jungs Verständnis sind die universellen Formen in der Struktur des menschlichen Geistes verankert, der die Eindrücke und Wahrnehmungen der Welt in Symbole umwandelt. Die Entstehung dieser Symbole unterliegt einem Prozess der sprachlichen, mythischen oder logisch-theoretischen Apperzeption. In diesem Zusammenhang hat der Rückgriff auf Archetypen eine entwicklungspsychologische Dimension: Durch ihren Transformationsprozess überschreitet Kassandra zu Recht die Grenze ihrer Individualität, so dass sie sich als kollektives und universelles Wesen identifiziert oder identifiziert wird. Darüber hinaus ist die Vorstellung eines entscheidenden Übergangs vom Patriarchat zum Matriarchat offensichtlich. Die im Traum dargestellte Symbolik kann als Anspielung auf die in den 1980er Jahren erfolgte grundlegende Kritik am Konzept von Anima/Animus und den damit verbundenen patriarchalisch geprägten Rollenstereotypen interpretiert werden, die zur Erweiterung von Jungs Konzept des Seelenbildes des anderen Geschlechts geführt hat. In der Tat wurde der Logos dem Männlichen und der Eros der Frau vorbehalten. Die Vorwürfe gegen Jungs zeitbedingtes Frauenbild nahmen große Ausmaße an. Eine seiner Schülerinnen, Ursula Baumgart, warf ihm vor, dass er durch den Einfluss patriarchalischer Klischees daran gehindert worden sei, die weibliche Psyche wirklich zu verstehen. Angesichts der für Männer und Frauen definierten Attribute lautete der Vorschlag, dass die besprochenen Archetypen klar von den Beschreibungen des Verhaltens und Erlebens konkreter Männer und Frauen getrennt werden sollten. Anstelle der Begriffe männlich und weiblich schlugen spätere Autoren wie Schwartz-Salant eher freie Formulierungen für diese abstrakten Prinzipien vor, wie Sol und Luna. Generell ist festzuhalten, dass die Bedeutung dieser Traumsequenz im entscheidenden Übergang vom Patriarchat zum Matriarchat liegt. | ||
===Traum VIII: Alpträume der Schwester Kassandras Polyxena (K 126-127)=== | ===Traum VIII: Alpträume der Schwester Kassandras Polyxena (K 126-127)=== |