"Kassandra" (Christa Wolf): Unterschied zwischen den Versionen
"Kassandra" (Christa Wolf) (Quelltext anzeigen)
Version vom 7. Oktober 2023, 21:29 Uhr
, 7. Oktober 2023→Traum IX: Kassandras Traum in Schwarz und Rot (K 161)
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===Traum IX: Kassandras Traum in Schwarz und Rot (K 161)=== | ===Traum IX: Kassandras Traum in Schwarz und Rot (K 161)=== | ||
Kassandra träumt von den Farben Rot und Schwarz, die | Kassandra träumt von den Farben Rot und Schwarz, die Leben bzw. Tod versinnbildlichen: | ||
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:<span style="color: #7b879e;">Nachts träumte ich, nach so vielen traumlos wüsten Nächten. Farben sah ich, Rot und Schwarz, Leben und Tod. Sie durchdrangen einander, kämpften nicht miteinander, wie ich es, sogar im Traum, erwartet hätte. Andauernd ihre Gestalt verändernd, ergaben sie andauernd neue Muster, die unglaublich schön sein konnten. Sie warn wie Wasser, wie ein Meer. In seiner Mitte sah ich eine helle Insel, der ich, im Traum - ich flog ja; ja, ich flog! - schnell näher kam. Was war dort. Was für ein Wesen. Ein Mensch? Ein Tier? Es leuchtete, wie nur Aineias in den Nächten leuchtet. Welche Freude. Dann Absturz, Windzug, Dunkelheit, Erwachen | :<span style="color: #7b879e;">Nachts träumte ich, nach so vielen traumlos wüsten Nächten. Farben sah ich, Rot und Schwarz, Leben und Tod. Sie durchdrangen einander, kämpften nicht miteinander, wie ich es, sogar im Traum, erwartet hätte. Andauernd ihre Gestalt verändernd, ergaben sie andauernd neue Muster, die unglaublich schön sein konnten. Sie warn wie Wasser, wie ein Meer. In seiner Mitte sah ich eine helle Insel, der ich, im Traum - ich flog ja; ja, ich flog! - schnell näher kam. Was war dort. Was für ein Wesen. Ein Mensch? Ein Tier? Es leuchtete, wie nur Aineias in den Nächten leuchtet. Welche Freude. Dann Absturz, Windzug, Dunkelheit, Erwachen (K 161).</span> | ||
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Hervorzuheben ist, dass dieser Traum | Hervorzuheben ist, dass dieser Traum wieder nach einer langen Zeit ohne Träume eintritt, und zwar nach der Landung der Griechischen Flotte und den damit verbundenen Folgen. Die Gräueltaten des Krieges führten dazu, dass die Götter die Trojaner verließen (K 147). In diesem letzten Teil des Textes werden die Ereignisse des Krieges dargestellt: Hektors Kampf mit Achilles, Penthesileas Tod, die Zerstörung der Stadt nach Odysseus' erfolgreicher List, die Trennung von Aineias und seine Flucht. All dies wird in die Erzählung der Trennung von Kassandra und Priamos eingebettet. Die Erzählung über das Leben in den Ida-Bergen, der subversiven Gegenwelt zu Troja, und Kassandras Beziehung zu dem weisen Anchises und zu Arisbe. | ||
In diesem letzten Traum des Textes setzt sich Christa Wolf kritisch mit der Bedeutung einer weiblichen Emanzipation auseinander und platziert Kassandra zwischen zwei Gegen-Heldinnen: Penthesilea und Polyxena. Die eine wird als radikal beschrieben | In diesem letzten Traum des Textes setzt sich Christa Wolf kritisch mit der Bedeutung einer weiblichen Emanzipation auseinander und platziert Kassandra zwischen zwei Gegen-Heldinnen: Penthesilea und Polyxena. Die eine wird als radikal beschrieben: "Sie kämpfte nicht nur gegen die Griechen: gegen alle Männer" (K 152). Die kühne und furchteinflößende Frau greift jeden an und herrscht über die Trojaner, wie es noch nie ein Mann zuvor getan hat. Sie stachelt ihre Frauenbewegung zur Gewalt gegen alle Männer auf, nach dem Motto "lieber kämpfend sterben, als versklavt sein" (ebd.). Die Gewalt gegen Männer wird so weit getrieben, dass die Trojaner ihre Anhängerinnen verdächtigen, sie hätten ihre Ehemänner getötet. Im Gegensatz zu Kassandra geht Penthesilea davon aus, dass das Schlachten von Menschen oder die Gewalt eine Männersprache sei, und dass diese nur durch ein solches Mittel verändert werden können (K 153). Dagegen wird Polyxena als unterwürfige und resignierte Frau dargestellt. In dieser Hochphase des Krieges wird ein Plan von Männern entworfen, um Achill, den schlimmsten Feind, zu töten; dabei wird Polyxena als Lockvogel benutzt, ohne Rücksicht auf die gravierenden Folgen für ihre Person zu nehmen. Sie soll Achill in den Tempel locken unter dem Vorwand, sich ihm zu vermählen. Paris würde ihn dann an der Ferse treffen, da wo er verwundbar ist. Doch vor der Durchführung des Plans kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Kassandra und König Priamos, so dass dieser zornig und böse aus einem langen Schweigen kommt. Kassandra rebelliert gegen die Benutzung einer Frau, um den Feind zu töten, und will Polyxenas Recht sowie ihr eigenes Recht als Frau verteidigen. Sie wird aber von ihrem Vater der Feindbegünstigung bezichtigt (K 164). Letztlich stimmt sie dem Plan zu und weigert sich nicht, dem Willen ihres Vaters zu gehorchen, als dieser ihr mitteilt, dass ein Verbündeter namens Eurypilos sie zur Frau haben möchte. Es folgt das Schicksal der Polyxena, die den Verstand verliert und vor Angst verrückt wird, weil die Griechen sie im Namen ihres größten Helden Achill suchen und sie schließlich durch den Verrat Androns finden. In diesem letzten Teil der Erzählung sind insbesondere die Züge einer weiblichen Utopie erkennbar. Dementsprechend bedeutet Emanzipation weder Töten und Sterben, wie Penthesilea es aufgefasst hat, noch sich allen Formen des Missbrauchs zu unterwerfen, wie es Polyxena getan hat, sondern das Leben auszuwählen, denn "zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben" (K 154). | ||
==Zusammenfassung== | ==Zusammenfassung== |