"Kassandra" (Christa Wolf): Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 7. Oktober 2023, 21:33 Uhr
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Insgesamt lassen sich in der Erzählstruktur von ''Kassandra'' neun Träume herausheben. | Insgesamt lassen sich in der Erzählstruktur von ''Kassandra'' neun Träume herausheben. Diese Träume dienen einerseits der mythologischen Prophetien, da die Götter über die Träume mit den Menschen in Kontakt treten. Einige solcher Träume werden zu Deutungs- und Vorhersagezwecken in die mythologische Fabel, die der Erzählung zugrunde liegt, eingefügt. Der Traum von der Geburt von Paris, dem verfluchten Sohn des Priamos, kann beispielsweise als spannungssteigernde Prolepse interpretiert werden, deren Bewertung sich im Laufe der Handlung von einer unsicheren zu einer sicheren Vorhersage ändert. Andererseits dienen Träume der Charakterisierung von Figuren oder der Deutung ihrer Persönlichkeit. Da Kassandras Ringen um Autonomie im Mittelpunkt der Erzählung steht, ermöglichen die Träume einen Einblick in ihre Person und offenbaren ihre persönlichen Ängste und inneren Konflikte. Die Beschreibung ihrer Träume und Krisen nimmt einen großen Raum ein, ebenso wie die Reflexionen über die Sprache und ihren Gebrauch oder Missbrauch. All dies ist mit einer zunehmenden Selbstkritik verbunden, die es Kassandra ermöglicht, offen und schonungslos über ihre Wünsche, Zweifel, Ängste, Hoffnungen und ihr eigenes Verhalten nachzudenken. Die Träume drücken auch einen Teil der unbewussten Verarbeitung der Gegenwart sowie der Fantasien und Ängste durch die Autorin Christa Wolf aus. Angesichts des Entmythologisierungsprozesses, dem Kassandra unterzogen wird, sind die kontroversen Traumdeutungen ein Zeichen für einen entscheidenden Bruch mit Determinismus und Dogmatismus. Träume werden anders interpretiert als in früheren Jahrhunderten, als die Menschen ihnen aufgrund ihres Glaubens eine größere Bedeutung beimaßen. Abgesehen von diesen Aspekten erweist sich die Integration von Träumen in die Erzählung als eine Arbeitstechnik von Christa Wolf, eine Ästhetik, die sie sich angeeignet hat, um ihre Art zu schreiben und zu denken zum Ausdruck zu bringen. Diese Technik entfaltet ein riesiges Netz, in dem Ereignisse und Figuren immer wieder in einem neuen Licht erscheinen, sich durch Selbstreflexion weiterentwickeln und so ihr Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart überprüfen. Wie Nicolai Rosemarie treffend hervorgehoben hat, stellen die Träume Berührungspunkte in den Assoziationswegen des Textes dar, Knotenpunkte der immanenten und umfassenden Symbolik des Werkes. In ihrer vielfältigen und fast unveränderlichen Bildwelt bieten diese Träume einen wichtigen Zugang zu Christa Wolfs Roman (Nicolai 1989, 84). | ||
==Träume und weibliche Utopie des Romans== | ==Träume und weibliche Utopie des Romans== |