Die Beziehung zwischen Film und Traum aus phänomenologischer Perspektive
Filmische Traumdarstellungen
Beschäftigt sich die Filmphänomenologie, allgemein gesprochen, mit der “Fähigkeit des Films, die äußerliche Erscheinung der Welt zu präsentieren” (Kuhn und Westwell 2012, 309), so mag man daraus ableiten, die Phänomenologie sei für die Untersuchung filmischer Träume ungeeignet. Schließlich drehen sich Traumsequenzen um die innere Erfahrung einer träumenden Figur. Da aber eine Traumsequenz diese innere Erfahrung als eine externalisierte (im Kontext des Kinos im wörtlichen Sinne) Projektion darstellt, steht sie der Phänomenologie als Untersuchungsobjekt zur Verfügung – der Traum erscheint nun als ein Objekt in der Welt. Eine Phänomenologie der filmischen Traumdarstellung interessiert sich also für das Potential des Kinos, die innere Erfahrung des Bewusstseins als äußere Erscheinung darzustellen. Diese Formulierung deutet auf die gegenseitige Durchdringung von Subjekt und Welt hin – ein Aspekt, der sowohl im Bezug auf das Medium Film als auch auf den nächtlichen Traum herausgestellt wurde. Maurice Merleau-Ponty schreibt: “Nun ist das Kino besonders geeignet, die Verbindung von Geist und Körper, von Geist und Welt und den Ausdruck des einen im anderen hervortreten zu lassen” (Merleau-Ponty 2005, 82). Ähnlich wie die Existenzphilosophie lasse uns der Film “das Band zwischen dem Subjekt und der Welt, zwischen dem Subjekt und den anderen sehen, anstatt es zu erklären” (Merleau-Ponty, 82). Im Bezug auf das nächtliche Traumerleben beobachtet Medard Boss: “Wie künstlich und falsch erscheint an diesem unmittelbaren Traumereignis gemessen die übliche gedankliche Trennung einer solchen Zusammengehörigkeit in die zwei Stücke einer Aussenwelt und einer Innenwelt, in einen blossen aussenweltlichen Raumgegenstand, einen Zimmerraum einerseits und in irgendwelche darin unbeteiligt an ihm vorhandene, psychische Erlebnisse, Zustände und Verhaltensweisen des Menschen andererseits” (Boss 1974, 92).
Dieser Gegenüberstellung nach zu urteilen, ähneln sich Film- und Traumerfahrung dahingehend, dass beide die Verschränkung von Subjekt und Welt zum Ausdruck bringen. Michel Foucault schreibt: “Im Traum sagt alles ‘ich’: selbst die Gegenstände und die Tiere, selbst der leere Raum, selbst die fernen und fremden Dinge, die seine Phantasmagorie bevölkern” (Foucault 1992, 63). Das träumende Subjekt ist ‘in’ den wahrgenommenen Objekten (sie sind Projektionen seiner Selbstzustände) genau so wie die Objekte ‘im’ träumenden Subjekt sind (sie sind Teile seiner Psyche). Analog hierzu ist ein Film sowohl eine Art “Behälter” einer Vielzahl von Objekten, die ‘in’ ihm erscheinen als auch eine bestimmte Art und Weise, diese Objekte zu präsentieren. Eine Welt ist ‘in’ einem Film (enthalten), ebenso wie der Film ‘in’ dieser Welt (situiert) ist. Wie ein Traum ist ein Film immer sowohl gesehenes Objekt als auch sehendes Subjekt, eine Welt und das Sehen dieser Welt zugleich.
Dieser filmspezifische Doppelstatus wurde von Vivian Sobchak mit dem temporalen Charakter des Mediums in Verbindung gebracht. Anders als eine Photographie können wir einen Film nicht materiell in Besitz nehmen bzw. schwer kontrollieren (Sobchak 2004, 62-63). Auch wenn ein Traum ein Stück weit kontrolliert werden kann (luzides Träumen), können wir auch ihn aufgrund seiner Flüchtigkeit nicht materiell besitzen. Laut Sobchak baut die phänomenologische Ambivalenz des Films darauf auf, dass Erfahrung einerseits “als Repräsentation präsentiert” und gleichzeitig “durch dynamische Präsentation repräsentiert” wird (Sobchak 2004, 74). Einerseits stehen die Bilder des Films da als ein “immer bereits Wahrgenommenes” (Äquivalent zur Substantivform), andererseits manifestiert der Bilderfluss die “fortwährende Gegenwart der sinnlichen Wahrnehmung” (Äquivalent zur Verbform; ebd.). Auf den Traum bezogen würde eine Reduktion auf dessen symbolischen Gehalt bedeuten, ihn auf den Status eines “bereits Wahrgenommenen” festzulegen, statt ihn als eine sich im Werden befindende Erfahrung aufzufassen. Der Erfahrungscharakter des filmischen Traums würde ignoriert – Figuren durchleben Träume, Zuschauerinnen erleben die Sequenz zeitlich. Die dynamische, Verb-basierte, präsentationale Modalität des Träumens und Filmerlebens stellt die Bedingung der Möglichkeit dar, emotionale Spannung aufzubauen. Wenn es beispielsweise einer Albtraum-Sequenz gelingt, ein Gefühl des Ausgeliefertseins zu erzeugen, dann existiert dieses Gefühl nur in Abhängigkeit davon, dass es dem Zuschauer möglich ist, eine Veränderung in dem dargestellten Szenario wahrzunehmen. Film ist also dazu in der Lage, “die Wirkung des Traums während des Träumens” hervorzurufen (Flitterman-Lewis zitiert in Dickson, 19).
Die implizit phänomenologische Basis der Film/Traum-Analogie
Analogien zwischen Film und Traum gibt es bereits fast so lange wie den Film selbst (Carroll 1988, 11). Schon in den 1950er Jahren wurde die Idee, dass das Kino ein Traum sei, als das “Schlüsselwort” der Filmtheorie bezeichnet (Morin 2005, 7). Aus phänomenologischer Perspektive ist es auffallend, dass viele Analogisierungsversuche, ob zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder zur Hochzeit der psychoanalytischen Tradition in den 1970ern und 80ern, auf eine bestimmte Affinität zwischen “Filmwahrnehmung und Traum” (so auch der Titel des 1998 erschienenen Aufsatzes von Irmela Schneider) abzielen. Mit dem Schlagwort Wahrnehmung ist natürlich ein (wenn nicht der) zentrale Untersuchungsgegenstand der Phänomenologie benannt. Ein kurzer Ausflug in die Filmtheorie soll zudem zeigen, dass historisch gesehen phänomenologisches Denken (auch wenn es oftmals nicht als solches benannt wurde) einen gewichtigen Teil von Film/Traum-Analogien ausmacht, weil diese Analogien oftmals auf der Konzeptualisierung der Beziehung zwischen Zuschauerin und Film, und damit auf dem Sujet der Film-Phänomenologie (Ferencz-Flatz und Hanich 2016, 26), beruhen.
In einem Aufsatz von 1911 argumentiert Georg Lukács, das Kino sei traumartig, da es die Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit verneine. “[W]eil seine Technik in jedem einzelnen Moment die absolute (wenn auch nur empirische) Wirklichkeit dieses Moments ausdrückt, wird das Gelten der ‘Möglichkeit’ als einer der ‘Wirklichkeit’ entgegengesetzten Kategorie aufgehoben” (Lukács zitiert in Schneider 1998, 25). Wie der Träumende macht der Filmzuschauer eine Erfahrung, in der gilt: “Alles ist wahr und wirklich, alles ist gleich wahr und gleich wirklich” (ebd.). Wie Schneider kommentiert, vergleicht Lukács das Erleben eines Films mit dem Erleben eines Traums. Es ist nicht die (wache) Erinnerung an den Nachttraum, die als Vergleichspunkt dient – hier wurde der Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit wiederhergestellt – sondern die (manifeste) Erfahrung des Nachttraums, d.h. “die der Beobachtung im strengen Sinne gar nicht zugängliche Ebene des Traums” (Schneider 1998, 25 f.).
1921, inmitten des Stummfilmzeitalters, adressiert Hugo von Hofmannsthal einen Aspekt von Träumen, der für die Traumdarstellungen vieler Filmemacher und -macherinnen (z.B. Maya Deren, Federico Fellini, Andrei Tarkovsky und David Lynch) von großer Bedeutung sein wird, nämlich den Rücktritt oder gar Verlust von Sprache. Ähnlich wie im ersten markierten Traum im Oeuvre David Lynchs (vgl. The Alphabet [1968]) wird die Sprache bei von Hofmannsthal als “das Werkzeug der Gesellschaft” gesehen und verkörpert die Machtdynamiken der Wachwelt (von Hofmannsthal 1979, 142). Laut von Hofmannsthal gingen die Leute im frühen 20. Jahrhundert ins Kino, um der Stumpfsinnigkeit ihres Alltagslebens zu entfliehen. Sie suchten nach einem “Ersatz für die Träume” (so der Titel des Essays), derer sie durch die Monotonie des industriell-modernen Stadtlebens beraubt worden waren. Von Hofmannsthals Verwendung des Begriffs "Traum" mag uns für die unterschiedlichen Grade der Metaphorizität sensibilisieren, mit der der Begriff von verschiedenen Vertretern einer Film/Traum-Analogie gebraucht wird. Neben dem Bezug auf den konkreten nächtlichen Traum scheint von Hofmannsthal das Träumen als einen Erfahrungsmodus zu begreifen, der von einer gewissen Neugier auf das Unbekannte angetrieben wird (von Hofmannsthal 1979, 143). Wenn er das Kino mit dem Traum vergleicht, geht es ihm also nicht so sehr um die tatsächliche Erfahrung des Träumens, sondern um das, was ein Traum (für ihn) repräsentiert, nämlich einen Sinn für die Magie des Lebens. Möglicherweise will er andeuten, dass selbst der Verstand der Menschen so ‘industrialisiert’ ist, dass sogar ihre Träume durch externe, ‘hergestellte’ Bilder befeuert werden müssen. Mit seinem metaphorischen Gebrauch des Traumbegriffs antizipierte er die Auffassung von Hollywood als “Traumfabrik” (vgl. Ilja Ehrenburgs Schrift Die Traumfabrik von 1931), die von Hortense Powdermaker in den 1950ern popularisiert wurde (vgl. Hollywood, the Dream Factory).
Noch kritischer gegenüber dem kulturellen Klima ihrer Zeit ist der Ansatz der Surrealisten, in dem Film und Traum untrennbar miteinander verknüpft sind. Michael Lommel beobachtet: “Die Schauspiele des Traums zählen zu den konstitutiven Merkmalen einer Ästhetik des Surrealen, die im Filmischen einen adäquaten Ort der Umsetzung findet, der jene surrealen Atmosphären und Wahrnehmungsformen am besten zu vermitteln vermag” (Lommel et al. 2008, 15). Durch den Einsatz von hyperassoziativer Montage und durch den Bruch mit der Konvention des continuity editing versuchte beispielsweise Luis Buñuels und Salvador Dalís berüchtigter Film Un Chien Andalou (1929) eine traumhafte Filmerfahrung zu evozieren, die die konventionelle Dichotomisierung in "real" und "irreal" unterläuft und zu einer Realität führt, die “über” (vgl. französisch “sur”) der regulären, von der Rationalität und den moralischen Werten der Bourgeoisie bestimmten, Realität existiert. “Der Traumzustand wurde so zu einem Modell, das die Realitätswahrnehmung bereichern, ja verändern sollte” (Brütsch 2011, 32). Auch wenn das Medium Film womöglich nicht per se traumhaft ist, hat es im Vergleich zu anderen Kunstformen ein besonderes Potential eine traumartige Erfahrung hervorzurufen: für die Surrealisten "besaß die Filmkamera eine einzigartige Fähigkeit, das Gefühl des Träumens einzufangen und zu vermitteln" (Kuhn und Westwell 2012, 415). Aus film-phänomenologischer Perspektive scheint es wichtig zu unterstreichen, dass, wie Laura Rascaroli beobachtet, die Schriften von André Breton und Réne Clair die Grundlage für den “Vergleich zwischen Zuschauerin und Träumerin [darstellten], welcher zur am häufigsten zitierten und wichtigsten Ähnlichkeit zwischen Film und Traum wurde” (Rascaroli 2002, 2). Das heißt, die Nähe von Film und Traum wurde durch die Ähnlichkeit zwischen dem Zustand des Filmzuschauers und demjenigen des Träumenden erklärt. Eher als die Phänomene selbst sind es die Bedingungen ihrer Rezeption, die viele Autoren dazu gebracht haben, deren Ähnlichkeit zu behaupten.
Ähnlich wie die surrealistische Filmauffassung basiert der in den frühen 1950ern verfasste Film/Traum-Vergleich in Susanne Langers philosophischer Kunsttheorie Feeling and Form im Vergleich zu von Hofmannsthals Ansatz auf einem konkreteren Traumbegriff. Langer schreibt: "Das Kino ist 'wie' der Traum im Modus seiner Präsentation: Es schafft eine virtuelle Gegenwart, eine Ordnung der direkten Erscheinung. Das ist der Modus des Traums" (Langer 1953, 412). Was das Kino vom Traum “abstrahiert”, ist die “Unmittelbarkeit der Erfahrung”, die “Gegebenheit”, die sich aus dem Eindruck ergibt, “im Zentrum” der Situation zu stehen (Langer 1953, 413). Wie der Träumer in einem Traum ist die Kamera “äquidistant von allen Ereignissen” (ebd.). Beim Sehen 'mit' der Kamera “bewegt sich der Standpunkt des Betrachters mit ihr, sein Geist ist allgegenwärtig. [...] Er nimmt den Platz des Träumers ein, aber in einem vollständig objektivierten Traum – das heißt, er [der Träumer] ist nicht in der Geschichte. Das Werk ist die Erscheinung eines Traums, eine einheitliche, kontinuierlich vorüberziehende, bedeutungsvolle Erscheinung” (ebd.). Außerdem beruht die Ähnlichkeit von Filmerfahrung und Traumerfahrung auf einer gemeinsamen Tendenz zur Synästhesie (Langer 1953, 414),[1] wobei der Raum durch die räumliche Erfahrung überhaupt erst zu existieren beginnt (d.h. Traum und Film “orientieren sich nicht an irgendeinem Gesamtraum”; Langer 1953, 415), und auf einer “affektiven oder assoziativen Logik”, die sowohl dem Filmschnitt als auch den Traumbildern zugrunde liegt (Carroll 1988, 13). Im Bezug auf Langers Beobachtung, dass der Filmbetrachter “den Platz des Träumers” einnimmt, ohne physisch im Szenario anwesend zu sein, würden die meisten Traumforscherinnen wahrscheinlich eher von einer hypnagogischen als von einer traumartigen Erlebnisqualität im engeren Sinne sprechen. Der Körper des Traum-Ichs materialisiert sich nämlich erst im Traumzustand, nicht etwa schon in der hypnagogen Phase, d.h. in dem Bewusstseinszustand zwischen Wachen und Träumen. In den Worten Evan Thompsons: “Die Erfahrung, ein Selbst in der Welt zu sein, die den Wachzustand prägt, aber im hypnagogen Zustand abgeschwächt ist, kehrt in Träumen zurück” (Thompson 2017, 127).
Christian Metz’ Beitrag zur Filmtheorie basiert auf der Kombination von Semiotik und Freud’scher Psychoanalyse. Interessanterweise beschreibt Metz allerdings ausführlich die Beziehung zwischen Zuschauerin und Film, wenn es um die Traumartigkeit des filmischen Mediums geht. Seiner Ausgangsbeobachtung nach besteht der prinzipielle Unterschied zwischen der Film- und der Traumsituation darin, dass “der Träumer nicht weiß, dass er träumt”, wohingegen “der Filmschauende weiß, dass er im Kino ist” (Metz 1985, 101). Jedoch kann sich in beiden Fällen der Bewusstseinsgrad ändern, kann sich doch die träumende Person ihres Traumes gewahr werden und die Filmzuschauerin vergessen, dass sie im Kino ist. Metz regt die Idee des luziden Träumens an, wenn er über das “Öffnen einer Lücke in der hermetischen Abschirmung, welche das Träumen normalerweise definiert”, schreibt (Metz 1985, 104). Als Konsequenz dieser doppelten Dynamik “ist es eher in ihren Lücken als in ihrer normalen Funktionsweise, in denen sich der filmische Zustand und der Traumzustand annähern” (ebd.). Das heißt, die beiden Zustände nähern sich dann an, wenn die Träumende an Bewusstsein gewinnt und die Filmschauende an Bewusstsein verliert. Genauer gesagt kann der Filmzustand, der durch “eine generelle Tendenz zur geringeren Wachheit” gekennzeichnet ist, den Zuschauer in Richtung des Träumens bewegen, und zwar durch seine “Ermutigung zum narzisstischen Rückzug”, sein “Schwelgen in der Fantasie”, den “Rückzug der Libido in das Ich” und durch die “Aufhebung des Interesses für die Außenwelt” (Metz, 1985, 107). Film wird zur “machine for grinding up affectivity and inhibiting action” (ebd.), ein Punkt der besonders für die phänomenologisch ausgerichteten Studien Vlada Petrićs und Rainer Schönhammers von Belang ist (s. nächstes Unterkapitel). Es scheint wichtig zu betonen, dass die Reduktion von Wachheit im Kino zu einem “Realitätseindruck” führt, der sich der genuinen Illusion des Träumens zwar annähern, sie jedoch nie erreichen kann (ebd.). Das hat mit dem Unterschied zwischen Wahrnehmung und Imagination, “im Sinne einer Phänomenologie des Bewusstseins”, zu tun (Metz 1985, 109). Filmische Wahrnehmung setzt einen äußeren Reiz voraus, Träumen nicht. Die Filmerfahrung involviert eine “progressiven Bahn” der “psychischen Erregung”, bei der äußere Objekte die Wahrnehmung verursachen (Metz 1985, 114). Das Träumen hingegen ist von einer “regressiven Bahn” gekennzeichnet, d.h. von einer Erregung von innen nach außen (ebd.). Streng Freudianisch in seiner Herangehensweise argumentiert Metz, dass die Wahrnehmungstäuschung in einem Traum durch die Kombination aus unbewusstem Wunsch und wunschauslösender, kürzlicher, vorbewusster Erinnerung verursacht wird (ebd.). Obwohl die Filmsituation eine Tendenz zur Regression aufweist, in dem sie die motorische Ausführung der Zuschauerin nicht zulässt, ist die Regression nie vollständig, da die filmische Wahrnehmung doppelt, d.h. “gleichzeitig von außen und innen”, verstärkt wird und damit sowohl von der progressiven Bahn als auch von der regressiven Bahn geprägt ist (Metz 1985, 117 f).
Explizit phänomenologische Untersuchungen zum oneirischen Film
Der Mangel an explizit phänomenologischen Untersuchungen oneirischer Filme ist alleine schon deswegen auffallend, weil einerseits die Phänomenologie dazu geneigt ist, binäres Denken zu hinterfragen, und andererseits der filmische Traum bereits seiner Natur nach die Binarität von innen–außen auf die Probe stellt; die Traumsequenz präsentiert innere Erfahrung als äußere Erscheinung. Es gibt zwar keine monographische Studie zur Phänomenologie des filmischen Traums, jedoch wäre es falsch anzunehmen, dass phänomenologisches Denken bisher überhaupt nicht auf oneirische Filme angewendet wurde. Simon Dicksons Arbeit “The Oneiric Film: Refocusing the Film-Dream Analogy from an Existential Phenomenological Perspective” zeigt die Wichtigkeit, Vivian Sobchaks Konzept des fleischlichen Wissens zu erweitern. Sobchak schreibt: “wir sehen und begreifen und fühlen Filme mit unserem gesamten körperlichen Wesen, informiert durch die ganze Geschichte und das fleischliche Wissen unseres akkulturierten Sensoriums” (Sobchak 2004, 63). In diesem Zusammenhang betont Dickson die Notwendigkeit, das Konzept dieses Wissens zu erweitern, um Traumerfahrung mit einzuschließen. Er schreibt, dass man anerkennen könnte, “dass unser ‘akkulturiertes Sensorium’ dasjenige miteinbezieht, was wir in Träumen erleben und empfinden. Kurz gesagt könnte man damit beginnen, ein dem Filmzuschauer innewohnendes oneirisches Wissen anzuerkennen” (Dickson, 9 f). Wann immer man sagt, ein Film habe einen traumartigen Effekt auf die Zuschauerin, setzt man gewissermaßen die Existenz dessen, was Dickson “oneirisches Wissen” nennt, also Wissen darüber, wie es ist, einen Traum zu erleben, voraus – wie sonst könnten wir die Ähnlichkeit von Filmszene und Traum wahrnehmen? In diesem – mimetischen – Sinne geht es darum, das Potential zu beurteilen, den wachen Zuschauer an die phänomenale Qualität (das what-it-is-like) des Träumens zu erinnern, d.h. sein oneirisches Wissen zu adressieren. Ein Ansatz, der allein auf der Idee von oneirischem Wissen aufbaut, könnte allerdings aufgrund seines implizit mimetischen Verständnisses von filmischer Traumartigkeit als problematisch gelten. Denn etwas wäre nur dann traumartig, wenn es auf die eine oder andere Art die nächtliche Traumerfahrung widerspiegelt. Einerseits mag dieser Ansatz, der in vielen psychologischen Zugängen zu künstlerischen Traumdarstellungen dominant ist, den Diskurs um oneirisches Kino erweitern, da er nun nicht mehr auf markierte Traumsequenzen beschränkt ist; ein traumartiger Effekt, im Sinne der Adressierung oneirischen Wissens, ist unabhängig vom Markierungsstatus der jeweiligen Szene. Jedoch erweist es sich in einem rein mimetischen Ansatz als schwieriger, die kreativen Aspekte derjenigen Traumsequenzen in Betracht zu ziehen, die allein aufgrund ihrer Markierung als Traum zu erkennen sind. Das heißt, diejenigen erfahrungsbezogenen Aspekte einer Traumsequenz, die den Nachttraum nicht imitieren, sondern ästhetisch einen Effekt konstruieren, der einfach deshalb als “traumartig” bezeichnet werden kann, weil er in einer markierten Traumsequenz auftritt (oder eine deutliche Referenz auf eine solche beinhaltet), sind gar nicht Teil der Diskussion. Anders als mimetische Ansätze neigen konstruktivistische Ansätze zu der Frage, was (vom Kunstwerk selbst) als traumartig ausgewiesen wird, anstatt zu fragen, was traumartig ist. Im Mittelpunkt steht also das kreative Potential eines Mediums zur Darstellung von Träumen, und weniger der Bezug zum nächtlichen Traumerleben.
Man mag einen grundlegenden Unterschied zwischen nächtlichem Traumerleben und dem Schauen einer filmischen Traumszene darin sehen, dass im Falle der Filmszene oftmals eine Markierung des Traums vorliegt, während dies beim Nachttraum nicht der Fall ist. Es wäre allerdings nicht gerechtfertigt, den markierten Traum aufgrund einer Abweichung von der Phänomenologie des nächtlichen Traums von einer näheren Betrachtung auszuschließen: das würde den “retroaktiven Modus” der Traummarkierung (vgl. Eberwein 1984, 160-191) ignorieren, indem wir uns des Traumstatus einer Filmszene erst im Nachhinein bewusst werden, beispielsweise wenn plötzlich eine Figur aus dem Schlaf hervorschnellt, ohne dass sie am Anfang der Szene einschlafend gezeigt wurde. Doch sogar eine Traumsequenz mit einleitender Markierung kann einen traumartigen Effekt ausüben, denn die Zuschauerin begegnet dem Film zunächst auf präreflektiver Ebene (auf der eine Erfahrung noch nicht in ‘wirklich’ und ‘unwirklich’ ausdifferenziert ist), eine Ebene, die auch der nächtliche Traum nutzt, um intensive Momente der sinnlichen Involvierung oder Störung zu schaffen.
Um ein möglichst differenziertes Bild des Attributs ‘traumartig’ (im Kontext des jeweiligen Forschungsfokus) zu bekommen, sollte sich eine Filmanalyse weder auf das Kriterium beschränken, an den nächtlichen Traum erinnern zu müssen, noch auf das Kriterium, einen Traum eindeutig markieren zu müssen. Wenn ein Film also keine markierten Träume beinhaltet, heißt das noch nicht unbedingt, dass er keine traumartigen Qualitäten besitzen kann. Markiert ein Film seine Träume, heißt das wiederum noch nicht, dass er uns nicht auch an die nächtliche Traumerfahrung erinnern kann. Konstruktivistische und mimetische Ansätze schließen sich also nicht aus, sondern können sich gegenseitig befruchten, wie beispielsweise die Arbeiten Vlada Petrićs zeigen.
Neurophysiologische Ansätze
Vlada Petrićs Aufsatz “Film and Dreams: A Theoretical-Historical Survey” könnte als Spezifizierung der Bedingungen gelesen werden, unter denen das oneirische Wissen eines Filmzuschauers aktiviert wird und legt den Aufmerksamkeitsfokus auf die präreflektive, physiologische Dimension der Filmerfahrung. Petrić schlägt vor, dass, wenn das Kino seine medienspezifischen Mittel angemessen nutzt, es in der Lage ist, die Zuschauerin dazu zu bringen, “den Trauminhalt auf dem Bildschirm nicht nur wahrnehmend zu verfolgen, sondern ihn sinnlich zu erleben, das heißt, in solcher Art und Weise, die sich dem Prozess und dem Effekt des Träumens annähert” (Petrić 1980, 2). Mit Blick auf den “psycho-physiologischen Effekt auf die Zuschauerin” (Petrić 1980, 14) schreibt Petrić: “Im Prozess des Träumens antworten unsere neuronalen und muskulären Systeme anders auf verschiedene Situationen, trotz dass wir sie als Realität akzeptieren. Im Wesentlichen läuft dieser einzigartige Aspekt des Träumens parallel zu dem Effekt einiger filmischer Gestaltungsmittel auf den Zuschauer. Dieser Effekt ist das Thema, was sowohl von Filmtheoretikern als auch von Psycho-Neurologinnen untersucht werden muss” (Petrić 1980, 14 f).
Während des Träumens akzeptiert der Träumer die Traumsituation als Realität und doch reagiert er auf (neuro-)physiologischer Ebene anders als er es tun würde, wenn er wirklich in der Situation wäre. Diese Dynamik findet sich ebenso in der Filmsituation: “Die sensomotorischen Antworten (charakteristisch für das Filmschauen) korrespondieren mit den (von der Träumerin erlebten) muskulären Empfindungen”, so schreibt Petrić (1980, 19). Während die beiden Antworten auf psychologischer Ebene verschieden sind, “stimulieren sie eine ähnliche physiologische Reaktion in den Eingeweiden von Träumer und Zuschauer: jede fördert auf ihre Weise die Identifikation, Entfremdung und das Begreifen des geträumten Ereignisses von Seiten der Träumerin oder Zuschauerin. Die aufregendsten Traumfilme [...] nutzen die spezifisch filmischen Mittel, um solche viszeralen Reaktionen im Zuschauer zu intensivieren” (ebd.). Eine kreative Nutzung der psycho-physiologischen Stimulation des Zuschauers kann die metaphorische Bedeutung und ihren oneirischen Effekt intensivieren und beinhaltet folgende filmische Techniken: “Kamerabewegung durch den Raum”, die zu einer an Hypnagogie erinnernde “kinästhetische Empfindung” der Zuschauerin führt, “paradoxe Kombinationen von Gegenständen”, “dynamische Montage”, die zu “vestibulärer Aktivierung” und der Förderung von albtraumartiger Angst führt, “photographische Effekte”, die eine “hypnotische Stimmung” erzeugen, und “Bild-Ton-Kontrapunkt”, der “ungewöhnliche Klang- und Farbkombinationen” nach sich zieht, die an Träume erinnern (Petrić 1980, 24).
Anders als Dickson interessiert sich Petrić sowohl für das oneirische Potential des filmischen Mediums im Allgemeinen als auch für die Art und Weise, in der bestimmte (markierte) Traumsequenzen dieses Potential nutzen. Es scheint wichtig zu betonen, dass Petrić die Traumartigkeit der Filmerfahrung per se nicht voraussetzt (wie diverse Vertreter der Film/Traum-Analogie es tun). Eher scheint sein Ansatz zu implizieren, dass das Traumhaftigkeitspotential (im Sinne eines sinnlich-oneirischen Effekts auf die Zuschauerin) dem filmischen Medium zwar auf besondere Art und Weise innewohnt, jedoch nur von bestimmten Szenen und Filmen genutzt wird. Dieses Potential entsteht durch die Fähigkeit des Films, die sensomotorischen Zentren des Zuschauers zu adressieren, was in einem traumartigen Effekt auf den Zuschauer resultieren kann. So grenzen sich oneirische Bilder von bloß fantastischen ab: letztere bringen keine physiologische, hypnagoge oder hypnotische Stimulation mit sich (Petrić 1980,14).
Bezüglich der filmischen Mittel, die zum Hervorrufen einer traumartigen, physiologischen Reaktion in der Zuschauerin geeignet sind, hebt Petrić besonders die Wichtigkeit von Kamerabewegungen hervor: “Beim Betrachten einer Traumsequenz, die durch eine Kamerafahrt ausgeführt wurde, erleben Zuschauer gleichzeitig räumliche Empfindung der [filmischen] Umgebung und Muskelaktivität ihres Körpers, was eine Hypothese stützt, dass die Stimulation der neuronalen Zentren der Zuschauer dem REM-Schlaf (desynchronisierter Schlaf) näher ist als dem Non-REM-Schlaf (synchronisierter Schlaf). [...] So liegt die offensichtlichste Ähnlichkeit zwischen REM-Schlaf und Filmbetrachtung in dem Phänomen, das sowohl Träumerinnen als auch Zuschauerinnen bei relativ hohem Muskelpotential sensomotorische Aktivität erleben, die eine einzigartige Spannung erzeugt, welche eine ängstliche Stimmung oder halluzinatorische Bilder verstärken kann” (Petrić 1980, 22).
Kamerabewegungen provozieren beim Zuschauer eine doppelte räumliche Erfahrung. Indem sie seine sensomotorischen Zentren aktivieren, bieten sie ein Erleben des virtuellen filmischen Raums; durch das physiologische Erleben von Bewegung werden Bilder als “Merkmale der realen Welt” wahrgenommen (Petrić 1980, 21). Gleichzeitig erfährt der Zuschauer seinen eigenen bewegungslosen Körper. Für Adriano D’Aloia ist die Filmerfahrung “eine intensivierte sensorische Stimulation, die nicht mit irgendeiner expliziten motorischen Aktivierung korrespondiert” (D’Aloia 2012, 219 f). An diesem Punkt ist die Position des Wahrnehmungspsychologen Rainer Schönhammer interessant. In Schönhammers Worten ist “[d]ie Bewegungslosigkeit der Zuschauer [...] gewissermaßen die Bühne, auf der sich innere Mitbewegung mit dem körperlichen Geschehen auf der Leinwand entfaltet (Schönhammer 2007, 76). Die Spannung zwischen der erlebten “inneren Mitbewegung” (Schönhammer 2013, 168) und der (äußeren) Bewegungslosigkeit des Körpers erzeugt bei der Zuschauerin eine Irritation. In der nicht-filmischen bzw. der Wachwelt würde die Ausführung solcher Bewegungen notwendigerweise propriozeptive Veränderungen mit sich bringen, besonders im vestibulären System (Schönhammer 2007, 77). In der Filmsituation ist das nicht der Fall. In dieser Hinsicht ähnelt der physiologische Zustand des Filmzuschauers demjenigen des Träumers. Die Spannung zwischen der sensomotorischen Aktivierung und der Bewegungslosigkeit der Zuschauerin korrespondiert zur Spannung zwischen der extremen neuronalen Aktivierung und dem vom Schlaf paralysierten Körper der Träumerin. Besonders in Träumen der REM-Schlafphase ist unser sensomotorisches System aktiviert, während der schlafende Körper regungslos bleibt. Das heißt, dass ein Teil des Hirnstamms die efferenten Bewegungsimpulse während des REM-Schlafs blockiert, sodass die Bewegungen nicht ausgeführt werden. Das wirkt sich wiederum auf den Traum aus. Schönhammer nimmt an, das träumende Gehirn interpretiert die Muskelhemmung des schlafenden Körpers sowohl als Unfähigkeit, sich in der Traumwelt zu bewegen als auch als Drang, einem Verfolger oder einer Gefahrenquelle zu entfliehen (Schönhammer 2013, 62). Während die Regungslosigkeit des Körpers in der ersten Interpretation in den Traum übertragen wird, wird sie bei der zweiten durch den Traum umgekehrt.
Eine starke vs. schwache Version der Film/Traum-Analogie
Auf filmtheoretischer Ebene zeigen die Arbeiten von Dickson, Petrić und Schönhammer die Notwendigkeit auf, zwischen einer starken und einer schwachen Version der Film/Traum-Analogie zu unterscheiden. Laut der starken Version ist jeder Film wie ein Traum, da die Filmerfahrung einige wesentliche Charakteristika mit der Traumerfahrung teilt: Bewegungslosigkeit des Körpers bei Identifikation mit virtuellem Szenario, Immaterialität der Film-/Traumwelt, Formbarkeit der raumzeitlichen Beziehungen usw. Laut der schwachen Version der Analogie wohnt dem Medium Film auf besondere Weise das Potential inne, das Träumen in seiner sinnlichen Intensität darzustellen. Diese Version ist immer noch Teil der Film-/Traum-Analogie, da die Filmerfahrung der Traumerfahrung (bzw. deren wacher Rekonstruktion) hinreichend ähnlich ist, um erstere im Rückgriff auf zweitere zu charakterisieren. Untersucht man die Filme eines bestimmten Regisseurs oder einer bestimmten Regisseurin oder diejenigen einer bestimmten historischen Periode im Hinblick auf ihre Traumhaftigkeit, so kann man sich nach der Nützlichkeit der starken Film/Traum-Analogie fragen: wenn die Filmerfahrung an sich bereits ihrer Natur nach traumartig ist, was würde es dann bedeuten, die Erfahrung eines bestimmten Films (oder einer bestimmten Szene) als traumartig zu bezeichnen? Was würde einen Film als mehr oder weniger traumartig auszeichnen, wenn alle Filme traumartig sind? Untersuchen wir also beispielsweise das Kino Bunuels auf dessen Traumartigkeit, erscheint die starke Analogie nicht als vielversprechend, denn damit die Charakterisierung von etwas als ‘traumartig’ bedeutungsvoll ist, muss es Filme geben, auf die sie zutrifft und andere, auf die sich nicht zutrifft. Was man in der möglichen Ablehnung der starken Film/Traum-Analogie allerdings nicht ignorieren sollte – wie es beispielsweise bei Matthias Brütsch der Fall zu sein scheint (Brütsch 2013, 88 f) – ist die natürliche Neigung des Kinos zum Traum hin. Indem er die Film/Traum-Analogie auf ihre extreme Version reduziert, scheint Brütsch zu ignorieren, dass die umkehrbare Natur der Filmerfahrung (der Umstand, dass sich das im Film Repräsentierte immer zugleich in eine gelebte Erfahrung der Zuschauerin übersetzt) den Traum bzw. eher das Träumen als besonders interessantes Phänomen für Filmschaffende hervorhebt. Weil Film eine primär audiovisuelle Erfahrung ist, die auf die präreflektive, sinnliche Involvierung abzielt, besitzt er eine besondere Fähigkeit, den wachen Zuschauer an das Träumen zu erinnern (womöglich an einen bestimmten Traumtypus) – d.h. eine typischerweise audiovisuelle Erfahrung, die oftmals intensive, sinnliche Involvierung provoziert. Das heißt allerdings nicht, dass jeder Film traumartig ist. Viel eher kann man sagen, das filmische Medium stellt eine geeignete Kategorie dar, einen besonders intensiven, traumartigen Effekt auf die Zuschauerschaft zu erzeugen. Die Erforschung des filmischen Potentials, den Traum (als Sequenz) darzustellen, ist wohl nicht unabhängig von dem breiteren Diskurs um eine Film/Traum-Analogie: möglicherweise sind es bloß bestimmte Filme / Szenen / Regisseure, die diejenigen Elemente manifestieren, die (fälschlicherweise) dem Kino im Allgemeinen zugeschrieben wurden. Der entscheidende Teil besteht darin, wie ein Film das oneirische Potential des Kinos umsetzt und wie die Erfahrung der Traumhaftigkeit in Bezug zu der vom Film erzählten Geschichte steht. ________________ [1] Vorläufige empirische Belege für die Tendenz des Nachttraums zur Synästhesie liefern Daniel Reznik et al.. Die Autoren sprechen von “oneirischer Synästhesie” als Ergebnis eines “hyper-assoziativen kognitiven Zustands nach dem Einschlafen” und legen nahe, dass “typischerweise unidirektionale neuronale Bahnen während des Schlafs omnidirektional verbunden sind” (379).