"Tagebücher" (Ulrich Bräker)

Aus Lexikon Traumkultur
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Ulrich Bräker (um 1793)

Der Schweizer Autodidakt, Autobiograph und Gelegenheitsschriftsteller Ulrich Bräker (* 22. Dezember 1735 in Näppis bei Wattwil, Toggenburg,[1] Kanton St. Gallen; † im September 1798, begraben am 11. September 1798 in Wattwil) verfasste von 1770 bis zu seinem Tod regelmäßig Tagebuchaufzeichnungen, die auch 16 Traumberichte enthalten.[2]


Autor

Als Sohn eines streng pietistischen Tagelöhners, Kleinbauern und Salpetersieders stammt Bräker aus einfachsten Verhältnissen; eine regelmäßige Schulbildung wurde ihm nie zuteil. 1755 wird er in Schaffhausen Diener eines preußischen Werbeoffiziers, der ihn zum Militärdienst presst. 1756 desertiert er aus der Armee und kehrt in seine Heimat zurück. Er gründet eine Familie und verdient sich seinen Lebensunterhalt als Salpetersieder, Garnhändler und Baumwollweber. Von 1773 an löst sich Bräker durch umfassende Lektüren von Sachbüchern wie literarischen Werken (vgl. Zeller 2001) selbstaufklärerisch aus der Gedankenwelt des Pietismus (vgl. Volz-Tobler 2004) und entwickelt schriftstellerische Ambitionen. Sein bekanntestes Werk ist die Autobiographie Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg, die 1789 vom Züricher Verleger Hans Heinrich Füssli in stark bearbeiteter Form veröffentlicht wird.


Entstehungs- und Druckgeschichte

Nach dem großen Erfolg von Bräkers Autobiographie hat sein Verleger Füssli stark bearbeitete Auszüge aus den Tagebüchern als Band 2 der Sämtlichen Schriften des Autors veröffentlicht. Diese Publikation stieß aber nur auf geringe Resonanz. Ihre Auswahl und Textgestalt wurde auch in späteren Ausgaben kaum erweitert (vgl. den Editionsbericht in SW V, XVII-XXVII). Erst seit dem Erscheinen von Band I-III der Sämtlichen Werke (SW I–III, 1998) liegen Bräkers Tagebücher daher in einer vollständigen und textkritischen Ausgabe vor.


Überblick

Neben Alltagsbegebenheiten wie historischen Ereignissen und deren Reflexion enthalten Bräkers Tagebücher auch Lektürenotizen und -kommentare sowie Entwürfe zu Aufsätzen und literarischen Werken. Typographisch sind sie äußerst liebevoll in Schönschrift gestaltet, die Titelblätter sogar zeichnerisch ornamentiert (vgl. Abb. SW V, 34). Was dem heutigen Leser aber wohl zuerst auffallen wird, sind die eigenwillige Orthographie und Interpunktion, das Changieren zwischen Dialekt und Hochdeutsch und das Fehlen eindeutiger Großschreibungen (was die Herausgeber der Sämtlichen Werke dazu zwang, die Texte in konsequenter Kleinschreibung abzudrucken).


Die Träume

Die 16 Traumnotate verteilen sich ungleichmäßig (mit einer deutlichen Häufung im Jahre 1783) über den ganzen Zeitraum der Tagebuchaufzeichnungen, zeigen in Schreibverfahren und Traumauffassung aber eine deutliche Entwicklungslinie: Wie das ganze frühe Tagebuch stehen auch die Traumberichte zunächst noch ganz im Zeichen pietistischer Selbstbeobachtung (vgl. zu dieser Schmidt-Hannisa 2001). Je mehr sich Bräker aber als Autor begreift, desto mehr werden sie ihm zu literarischen Fingerübungen mit Freude am Aufzeichnen von phantastischen Details und literarischer Komposition. Diese Entwicklung soll im Folgenden an drei Beispielen nachvollzogen werden.


Traumbericht vom 14. und 18. September 1774 (SW I, 681 f.)

Textbeschreibung

Der Eintrag besteht aus zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Träumen:

(1) Bräker entdeckt „2 Gespenster“ in seinem Haus „in gestalt zweier häslicher Knäblein die [aus]gesehen wie Stük von einer Betstol [Bettpfosten]“. Er wünscht, sie aus seinem Haus entfernen zu können und meint, dies könne wohl nur durch „weinen fasten und betten [beten]“ gelingen.

(2) Ein nicht näher bestimmter Mann bittet Bräker „ein[en] Knab der unschuldig übel gesch[l]agen und verfolgt wurde“, bei sich zu verbergen. Dieser lehnt jedoch ab „auß forcht [Furcht] auch verfolgt zuwerden“. Schon beim Aufzeichnen meint Bräker, er müsste diese Träume „auf meinen seellen zustand deüten [deuten]“.

Vier Tage später notiert er dann eine Deutung seiner Träume: Die zwei Knaben, die er in Traum 1 in seinem Haus, „namlich in mir“, vorfand, seien „der unreine bub“ (Wollust) und „der empfindliche zorn gsel“ (Jähzorn); der verfolgte Knabe aus Traum 2 sei der „holde Knabe Jesus“, den er nur in seines „hertzens hauß“ aufnehmen müsse, damit die beiden „gespenster“, „diese teüffel“, „weichen“ würden. Die Traumdeutung mündet in ein Stoßgebet, das auf biblische Formeln zurückgreift (Joh 14,23, Eph 3,17): „ach liebreicher heiland; laß es doch nicht mehr geschehen; kome doch u[nd] nimme wohnung und platz in meinem hertzen; und vertreibe doch alle höllen geister auß demselben“.

Interpretation

Der Traumbericht zeigt die typischen Merkmale pietistischer Selbsterforschung, und nimmt daher eine Zwischenstellung zwischen übernatürlich-christlicher und psychologischer Traumdeutung ein: Träume sind nicht einfach Botschaften Gottes, bieten aber dennoch mehr als bloße Einblicke in die psychische Befindlichkeit des Träumers. Sie zeigen dessen „Seelenzustand“, also seine Nähe zum Zustand der göttlichen Gnade bzw. seine Entfernung von diesem. Der Traum wird schon in der Niederschrift auf wenige Handlungselemente und Zentralmotive reduziert, was die allegorische Ausdeutung erleichtert: Haus = Seele; 1. Knabe = Wollust; 2. Knabe = Jähzorn; 3. Knabe = Jesus. Der Doppeltraum erhält so einen eindeutigen, religiösen Sinn: Bräker befindet sich im Zustand der Sünde; eine Veränderung seines Verhaltens kann ihn aber in den Zustand der Gnade führen.


Traumbericht vom 20. Januar 1788 (SW II, 637-639)

Textbeschreibung

Dieses Traumnotat wirkt deutlich komplexer, da es nicht nur wesentlich umfangreicher ist, sondern auch eine doppelte Rahmung hat (R1 und R2): Der Traumbericht ist spiegelsymmetrisch umgeben von Angaben zur Schreibsituation (R1) und von Deutungs- und Bewertungsversuchen (R2), was schematisch die Abfolge R1 – R2 – Traum – R2 – R1 ergibt.

R1: Da es schneit und stürmt, muss Bräker nicht auf die eigentlich geplante Geschäftsreise gehen, sondern hat, zuhause in seinem „warmen stübchen“, Zeit für sich selbst und sein Tagebuch.

R2: Der wohl schon weiter zurückliegende Traum wird einerseits als „pudelnärrisch“ (also lustig, drollig, possierlich) angekündigt, andererseits als Anlass zu „viel nachdenkens“ gebend.

Traum: In der langen Schilderung lassen sich drei Hauptteile unterscheiden: (1) Als Bräker in der Morgendämmerung aus dem Haus geht, sieht er „einen gar grossen metzgerhund“ bedrohlich neben dem Weg liegen. Dies macht ihm Angst – „mir düchte er laure wie ein wolf auf mich“ –, zumal der Träumende sich kaum vorwärtsbewegen kann („ich wolte eylen – aber s war als wen ich im sande wattete“) und ohne Waffen ist: „zum unglük sah ich mich ohne stok; und nirgends kein hagstok [Zaunpfahl], kein stein am weg“. Nachdem er vorsichtig ein gutes Stück weiter gegangen ist, taucht der Hund plötzlich wieder auf. (2) Im gleichen Augenblick begegnet Bräker einem Mädchen, „scherzte mit ihm, u. nahms endlich auf eine ertznärrische art in meine arme und trugs mit ihr fort – welches jhr recht war“. (3) An einer Stadtmauer stößt er auf einen Zwinger mit vielen Hunden, aber auch einem „angeschoßnen haasen und einem füchslein noch lebent in jhrer mitte“. Eine „große hündin“ will ihn angreifen, wird aber von der Hundewärterin zurückgehalten. Diese scheint Bräker auch Vorwürfe wegen des immer noch herumgetragenen Mädchens zu machen, das offenbar sie allein unter allen Umstehenden („viele mir bekandte leüte“) bemerkt. Den Rest des Traumes mit „noch viel der pudelnärrischen umstände“ lässt Bräker aus und berichtet nur noch, dass er „ganz bestürzt“ erwacht sei und sich gefragt habe: “wie kom ich doch in solche hunde=gesellschafft“.

R2: Im traumbezogenen Rahmenteil berichtet Bräker zunächst, wie er den Traum mit Hilfe der Bibel deutet. In einem ersten Schritt überprüft und verneint er, dass sein Traum auf Tagesresten, persönlichen Ängsten oder Wünschen beruht: „hate doch bey keinen zeiten vorher – weder mit hunden gehandelt noch discuriert – weder geliebt noch geförchtet – nur von keinen hunden gesprochen“. Dann fällt ihm eine Stelle aus dem Schlussabsatz der Apokalypse ein, wo es heißt, dass die Seligen ins himmlische Jerusalem eingehen werden, „die ‚Hunde’ und die Zauberer, die Unzüchtigen und die Mörder, die Götzendiener und jeder, der die Lüge liebt und tut“ aber „draußen bleiben“ (Offb 22,15). Bräker beginnt zu beten und überlegt: „vilicht ziehlt dieser traum auf deine vorigen hündischen unarten – auf dein noch iez [jetzt] unreines hertz u. s. f.“.

R1: Hier rekurriert Bräker wieder auf die Einsamkeit und Muße der Schreibsituation. Dabei verwirrt sich der Traumbegriff, weil nächtliche Träume mit Tages- und Wunschträumen konvergieren. Bräker verwahrt sich gegen die Vorwürfe „dummer andächtler“, „nicht immer andächtige und frome sächelchen“ zu schreiben und zu lesen: „was gehen sie meine treüme an“. Selten nur träume er von Ereignissen des Vortages, häufiger von noch unmittelbar bevorstehenden Verrichtungen, „am allermeisten aber beschäfftiget sich meine phantasey im schlafe mit meinen wachenden treümen [Tagträumen] – und gar oft geniesse ich würklich schlaffend – was ich wachend getreümt – aber zu meinem bedauren es als traum erkandt hate – s ist eine herliche sache – um das treümen“.

Interpretation

Deutlich zeigen sich hier zwei ganz verschiedene Einstellungen dem Traum gegenüber: Einerseits wird der Traum, wie im ersten Beispiel, auf das Zentralmotiv des Hundes verdichtet, mit biblischer Hilfe auf den gefährdeten Seelenzustand ausgelegt und mündet wieder in Selbstanklage und Gebet. Andererseits weiß Bräker offensichtlich sehr wohl, dass Träume auch aus Tagesresten und Gedanken über zukünftige Geschäfte, aus Ängsten und Wünschen oder einfach aus der Phantasie hervorgehen, also ganz natürliche Ursachen haben können. Nur einige wenige Träume verweisen also, wie der vorliegende, auf das Seelenheil des Träumers. Als Phantasieprodukte aber können Träume Wunscherfüllungen verschaffen wie Tagträume, nur von noch höherem Wert, da man erstere, ganz ohne Bewusstsein ihres Scheincharakters, real genießen kann. Und sie können zum Schreibanlass werden, indem all ihre „pudelnärrischen“, deutlich traumhaften Details liebevoll aufgezeichnet werden, auch wenn diese für die allegorische Deutung keine Rolle spielen.

Traumbericht vom November 1789 (SW III, 258-261)

Textbeschreibung

Bräkers literarische Ausgestaltung seiner Traumberichte gipfelt im letzten Beispieltext, der überschrieben ist „Belgrad erobert – ein traum –“. Historischer Hintergrund ist der Russisch-Österreichische Türkenkrieg von 1787-1792, in dem Belgrad am 8. Oktober 1789 von den Österreichern erobert wurde. Als Tagesrest wird gleich anfangs die Lektüre von Überlegungen zum möglichen Ausgang des Krieges aus der Feder des aufklärerischen Schriftstellers Christian Friedrich Daniel Schubarts (1739-1791) genannt.

Der sehr ausführliche Traumbericht lässt sich in zwei Traumteile gliedern, auf die jeweils Wachszenen folgen (T1 – W1 – T2 – W2):

T1: Bräker sieht sich auf das Schlachtfeld vor Belgrad versetzt, das er ausführlich beschreibt. Dass er dabei auf Erinnerungen an seine eigene Militärzeit zurückgreift, zeigt sich schon daran, dass er die kämpfende Truppe fälschlich für Preußen hält. Wie im zweiten Traumbericht ist der Träumer auch hier in seiner Handlungsfähigkeit vielfältig gehemmt. So kann er, als er an einer Stelle die Befestigungsmauer einstürzen sieht und den Kommandanten auf die günstige Angriffsgelegenheit hinweisen will, „nicht von der stelle komen– mir war, als wenn mir die füsse gebunden, in tieffem sand staken – ich ward rassent böse – wolte einen kameraden senden – konte aber kein laut wort reden – wolte mich durch Zeichen und geberden zuverstehen geben – aber keiner wolte auf mich achten – wolte den säbel ziehn – und kont jhn nicht aus der scheide kriegen“. Da hört er, dass Belgrad gefallen sei, will aufspringen und „victoria victoria – Belgrad ist vorbey“ ausrufen, kann sich aber nicht bewegen und nicht sprechen.

W1: Da Bräker im Traum heftige Bewegungen gemacht haben muss, weckt ihn seine Frau mit einem Rippenstoß. Noch ganz in der Traumwelt befangen, versucht er, ihr die frohe Nachricht vom Fall Belgrads zu übermitteln, stößt aber auf wenig Verständnis: „laß mich schlaffen– mit deinen narren traümen da [...] – Belgard, Galbard – was ist den das vor ein thier – thier, sagte ich – närrin s ist kein thier – eine grosse türkische stadt ists – eine haubtvestung [...] – ey was geht uns das an, sagte sie – laß mich schlaffen“.

T2: Bräker schläft wieder ein und träumt, erneut im Osmanischen Reich zu sein, diesmal aber mit Frau und Töchtern, denen er vergeblich zu zeigen versucht, was er sieht: Konstantinopel wird von einem christlichen Tempel überragt. Bräker schließt daraus, dass die Stadt wieder in christlicher Hand sei. Zugleich aber zeigen sich „graue nebel“, die dies zu verhindern suchen – für Bräker „die mächte auß norden“ (also die mit den Osmanen verbündeten Schweden und Preußen): „geißeln solte mann dieselben als verräther der christenwelt –– und in diesem eütusiasmuß [Enthusiasmus] erwachte ich“.

W2: Durchaus mit Stolz erwägt Bräker, er könne einen prophetischen Traum gehabt haben. Dann aber ruft er sich selbst zur Ordnung und tadelt seine „parteischen gesinnungen“ im Traum, von denen er sich in aufklärerischer Toleranz eigentlich doch längst gelöst habe: „ia ia ich merke wohl – das noch eine zimliche portion von diesem saurteig – (phartheysucht) in meinem busen verborgen stekt – ich muß denselben auszufegen trachten“. In seiner Selbstkritik verfällt er nun ins gegenteilige Extrem – „welche mördereien, schandthaten und graüel hat nicht eine schwartze pfaffenbrut von ieher ausgeübt“ –, gerät wieder in Enthusiasmus und hätte beinahe „die gantze schwartze farbe zum feür verdamt“. Da ruft er sich erneut zur Ordnung und macht sich bewusst, „das es ungeheür von allen farben gebe – so wie auch rechtschaffene menschen in allerhand kiteln“. Mitten in dieses den ganzen Vormittag andauernde Räsonieren hinein wird die Zeitung gebracht – und Bräker liest, daß Belgrad in der Tat kapituliert habe. Stolz berichtet er seiner Frau vom Wahrheitsgehalt seines Traumes, findet aber wieder keine Resonanz: „hab gewonnen Heyne oder Hans: mir ists gleichviel – ist aber gut vor die christenheit, sagte ich – gibts dann wolfeil brodt sagte sie – nicht doch sagte ich – nu sagte sie, so geh mit deinem Balgard wo du wilt ich frage nichts darnach“. Bräker denkt weiter über seinen Traum nach und findet, „bey genauer pfrüffung [Prüfung], das alles gantz natürlich war – schon [obwohl] ich mir nicht gar alles aufs haar zuerklähren wuste“.

Interpretation

Die Unterschiede zu den ersten beiden Traumberichten sind offensichtlich: Zwar gewährt der Traum wieder Aufschlüsse über den „Seelenzustand“ des Träumers und führt wieder zu Besserungsappellen. Dabei geht es aber nun nicht mehr um einen Verstoß gegen religiöse Gebote, sondern gegen das aufklärerische Toleranzideal. Und obwohl der Traum allen Anlass dafür geboten hätte, weist Bräker jede übernatürlich-prophetische Deutung zurück und behauptet, gut aufklärerisch, alles sei „natürlich“ erklärbar. Vor allem aber ist das Traumnotat sehr detailreich ausgestaltet und gewinnt in den Dialogszenen mit der Frau und dem abrupten Wechsel von der Heiden- zur Christenverdammung geradezu schwankhafte Qualität.

Einordnung

Bräkers Traumberichte exemplifizieren die drei allgemeinen Entwicklungslinien im Umgang mit Träumen, die sich im 18. Jahrhundert beobachten lassen (Engel 1998): Erstens zeigt sich eine zunehmende Abkehr von einer religiösen, übernatürlich-christlichen Auffassung des Traumes (vgl. auch Leutert 2001) – in Bräkers Fall konkret als Übergang von pietistischer zu aufklärerischer Selbstbeobachtung. Dass dabei der Glaube an ein prophetisches Potential des Traumes nicht vollkommen getilgt wird, lässt sich an Bräkers Tagebüchern ebenfalls belegen: Als er, sechs Jahre nach dem Belgradtraum, sich nächtlings auf einer bevorstehenden Geschäftsfahrt von Räubern überfallen sieht, kann er sich nur mit Mühe dazu bringen, die Reise dennoch anzutreten (20.9.1795; SW III, 578). Zweitens wird durch das verstärkte Interesse an „natürlichen“ Träumen die Schilderung der Träume deutlich traumhafter, was sich bei Bräker etwa in Hemmungen von Bewegungs- und Handlungsfähigkeit, der genauen Schilderung phantastischer Details und den abrupten Szenewechseln zeigt. Zum dritten sind auch Bräkers Traumberichte von der schon in der späten Aufklärung immer wieder betonten Affinität von Traum und Dichtung bestimmt, die ihren Höhepunkt in der Romantik erreichen wird.

Manfred Engel

Literatur

Ausgaben

  • Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Hg. von Hans Heinrich Füssli. Zürich: Füssli 1789; online; zuerst als Teildruck in 13 Folgen: Auszüge aus der Lebensgeschichte eines armen Mannes. In: Schweitzerisches Museum 4 u. 5 (1788/89); online.
  • Tagebuch des Armen Mannes im Tockenburg [vom Herausgeber stark bearbeitete Auszüge aus Bräkers Tagebüchern 1768-1782]. Hg. von Hans Heinrich Füssli. Erster Theil [mehr nicht erschienen]. Sämtliche Schriften, Bd. 2. Zürich: Füssli 1792; Vorabdruck der Tagebuchauszüge 1. Januar bis 14. Februar 1779: Eine Dosis gesunden Menschenverstands aus den Bergen. Aus dem Tagebuch des armen Mannes im Tockenburg. In: Helvetischer Calender für das Jahr 1789. Zürich: Geßner 1788, 41-74.
  • Sämtliche Schriften [= SW]. Hg. von Andreas Bürgi, Heinz Graber, Schristian Holliger, Claudia Holliger Wiesmann, Alfred Messerli und Alois Stadler. München, Bern: Beck 1998-2010.
    • Bd. I: Tagebücher 1768-1778. 1998.
    • Bd. II: Tagebücher 1779-1788. 1998.
    • Bd. III: Tagebücher 1789-1798. 1998.
    • Bd. IV: Lebensgeschichte und vermischte Schriften. 2000.
    • Bd. V: Kommentar und Register. 2010.

Forschungsliteratur

  • Böning, Holger: Ulrich Bräker. Der Arme Mann aus dem Toggenburg. Leben, Werk und Zeitgeschichte. Königstein: Athenäum 1985.
  • Böning, Holger: Ulrich Bräker: Der arme Mann aus dem Toggenburg. Eine Biographie. Zürich: Füssli 1998.
  • Engel, Manfred: Traumtheorie und literarische Träume im 18. Jahrhundert. Eine Fallstudie zum Verhältnis von Wissen und Literatur. In: Scientia Poetica 2 (1998), 97-128.
  • Engel, Manfred: Traumnotate in Dichter-Tagebüchern (Bräker, Keller, Schnitzler). In: Bernard Dieterle/M.E. (Hg.): Writing the Dream/Écrire le rêve. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016 (= Cultural Dream Studies 1), 211-238.
  • Groppe, Sabine: Ulrich Bräker. Tagebuchautor, Literaturkritiker und Autobiograph oder die Permanenz selbstbiographischen Schreibens. In: Dies.: Das Ich am Ende des Schreibens. Autobiographisches Erzählen im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann 1990, 131-177.
  • Holliger, Christian/Claudia Holliger-Wiesmann/Heinz Graber/Karl Pestalozzi: Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770-1798. Bern, Stuttgart: Haupt 1985.
  • Leutert, Sebastian: „All dies, was mir mein Genius vorgezeichnet hatte“. Zur Psychologisierung des Traumes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts. In: Kaspar von Greyertz/Hans Medick/Patrice Veit (Hg.), Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quelle (1500–1850). Köln, Weimar: Böhlau 2001, 251–273.
  • Messerli, Alfred/Adolf Muschg (Hg.), Schreibsucht. Autobiographische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735-1798). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004.
  • Messerli, Alfred: Bräkers Schreibprogramme, Schreibmotive und Schreibpraktiken in seinen Tagebüchern. In: Messerli/Muschg 2004, 38-48.
  • Schmidt-Hannisa, Hans-Walter: Göttliche Gesichte? Traumdarstellungen in pietistischen Lebensläufen. In: Udo Sträter u.a. (Hg.): Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Bd. 2. Tübingen: Niemeyer 2005, 585–596.
  • Volz-Tobler, Bettina: Ulrich Bräkers „Selbstaufklärung“ im Spiegel seiner frühen Tagebücher. In: Messerli/Muschg (2004), 72-91.
  • Zeller, Rosemarie: Bräkers geselliger Umgang mit Büchern. In: Wolfgang Adam/Markus Fauser/Ute Pott (Hg.), Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2005, 151-174.

Weblinks

Traumwiki-Commons

Externe Links

  • Voellmy, Samuel: Bräker, Ulrich. In: Neue Deutsche Biographie 2 (1955) 506; Onlinefassung.


Anmerkungen

  1. Das Toggenburg (auch: Tockenburg) ist eine Tallandschaft im Schweizer Kanton St. Gallen, benannt nach dem Adelsgeschlecht der Toggenburger.
  2. Vgl. SW I, 541 (6.9.1773), 681 f. (14./18.9.1774), 682 (18.9.1774); SW II, 102 (14.6.1779), 130 f. (4.1.1780), 353 f. (20.1.1783), 354 f. (22.1.1783), 358 (31.1.1783), 358 f. (1.2.1783), 417 (24.7.1783), 423 f. (29.8.1783), 634 f. (14.1.1788), 637-639 (20.1.1788), 786 (31.12.1788); SW III, 258-261 (November 1789), 578 (20.9.1795).


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Engel, Manfred: "Tagebücher" (Ulrich Bräker). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2015; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Tageb%C3%BCcher%22_(Ulrich_Br%C3%A4ker) .