"Ministerium der Träume" (Hengameh Yaghoobifarah)

Aus Lexikon Traumkultur
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Ministerium der Träume (2021) ist der Debütroman von Journalist*in und Schriftsteller*in Hengameh Yaghoobifarah (*1991 in Kiel). Der Roman erzählt auf verschiedenen Zeitebenen von den traumatischen Erlebnissen und Rassismus-Erfahrungen einer queeren Ich-Erzählerin, die 1981 als Kind mit ihrer Mutter und Schwester aus Teheran nach Norddeutschland flüchtet. Als die Schwester etwa 40 Jahre später unter rätselhaften Umständen stirbt, blickt die Erzählerin auf ihre traumatische Vergangenheit zurück, die sich in vier Traumepisoden widerspiegelt.


Überblick

Das Geschehen von Ministerium der Träume spielt auf zwei zeitlichen Schienen, die eng miteinander verbunden sind. In der Gegenwart arbeitet die Ich-Erzählerin Nasrin Behzadi als Türsteherin in einer queeren Berliner Bar. Nach der Nachricht vom Tod ihrer Schwester Nushin, die in einem brennenden Auto ums Leben gekommen ist, treibt Nasrin die Frage um, ob ihre Schwester einen Unfall hatte, einen Suizid begangen hat oder ermordet wurde. Gleichzeitig wird sie zum Vormund ihrer 14-jährigen Nichte Parvin, zieht in die Wohnung ihrer Schwester und versucht, sich mit ihrer Nichte ein neues Leben einzurichten. Die Trauer um Nushin, unverarbeitete Traumata und die Suche nach Antworten durchkreuzen dieses Vorhaben allerdings immer wieder.

Dieser Erzählstrang wird durch insgesamt neun Rückblenden durchbrochen, die durch entsprechende Jahreszahlen und Tempuswechsel deutlich markiert sind. Die erste Rückblende setzt im Jahr 1981 an, als Nasrin sieben Jahre alt ist und mit ihrer Mutter (Mâmân) und ihrer jüngeren Schwester Nushin vor dem Ersten Golfkrieg (1980–1988) aus dem Iran fliehen muss. Die Familie zieht in den Hudekamp, eine teils als „sozialen Brennpunkt“ beschriebene Siedlung in Lübeck (siehe z. B. Lenz 2013). Der Vater (Bâbâ) wird in Teheran ermordet, bevor er seiner Familie nachfolgen kann. Nasrins Kindheit und Jugend sind von Entbehrungen und Gewalterfahrungen geprägt. Die hart arbeitende und strenge Mutter schlägt ihre Töchter, später wird sie sich weigern zu akzeptieren, dass Nasrin lesbisch ist. Mit zwölf Jahren irrt Nasrin durch Lübeck und wird von einem Pädophilen, der später trotz nationalsozialistischer Gesinnung Karriere machen wird und in der Geschichte noch mehrmals auftaucht, vergewaltigt. Nasrins Jugendclique, immer wieder Ziel rassistischer Anfeindungen, entgeht einmal nur knapp einem Angriff gewalttätiger Skinheads. Überhaupt ist die deutsche Rassismusgeschichte der 90er Jahre ein bedrohliches Hintergrundrauschen der Schilderungen aus dieser Zeit, die sich explizit auf reale rassistische Anschläge und das Desinteresse der Polizei beziehen (darunter die Angriffe auf Migrant*innen in Wohnheimen in Hoyerswerda im Jahr 1991 (MdT 175) und den Lübecker Brandanschlag von 1996, bei dem 10 Menschen ermordet wurden (MdT 252)). Beides setzt sich bis in die Gegenwart fort, was die beiden letzten Rückblenden (2001 und 2006), die auf die Morde des NSU Bezug nehmen (MdT 265, 327), die polizeilichen Ermittlungen im Fall von Nasrins Schwester und der empathielose Umgang der Polizist*innen mit ihr als Hinterbliebener (MdT 21) deutlich markieren.

Neben der vielschichtigen traumatischen Vergangenheit ziehen sich weitere Leitthemen und -motive durch den Roman, die allerdings eng mit ihr verwoben sind. Dazu gehört das Thema der fragmentierten Erinnerung, die die Ich-Erzählerin wiederholt mit dem Wort „Krater“ umschreibt (u. a. MdT 206, 253, 276). Hervorzuheben ist auch die klangliche Dimension. So tauchen auf allen Zeitebenen der Erzählungen immer wieder Ausschnitte aus Songtexten auf. Auf der Vergangenheitsebene korrespondieren die Releases der jeweiligen Songs, die Autor*in Yaghoobifarah auch auf einer Spotify-Playlist gesammelt hat, mit dem zeitlichen Rahmen des Geschehens. Zu der klanglichen Dimension zählt zudem das Telefonklingeln, das Nasrin regelmäßig als einzige zu hören scheint und das bei ihr traumatische Flashbacks auslöst (MdT 276, 380). In dem immer wieder auftauchenden Motiv der Telefonzelle bekommt das retraumatisierende Geräusch ein Bild. Alle erwähnten Aspekte manifestieren sich insbesondere in den Träumen der Protagonistin, die so zu einem Brennglas für all das werden, an dem Nasrin in Gegenwart und Vergangenheit zerbricht.

Subjektivität und Traumerleben

Mit seinem Roman möchte Marco Balzano bewusst einen subjektiv aufgeladenen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis Südtirols und Italiens leisten (Grite/Siller 2011). In einer Anmerkung des Autors begründet er sein Vorhaben wie folgt:

A me, ma forse accade lo stesso a molti scrittori, non interessava la cronaca della storia altoatestina né quella delle vicende di uno die tanti paesi schiacciati da interessi politico-economici incontrastabili dalla gente comune […]. O meglio, questi fatti mi interessavano, ma come punto di partenza. Se la storia di quella terra e della diga non mi fossero parse da subito capaci di ospitare una storia piú intima e personale, attraverso cui filtrare la Storia con la s maiuscola, se non mi fossero immediatamente sembrate di valore piú generale per parlare di incuria, di confini, di violenza del potere, dell’importanza e dell’impotenza della parola, non avrei […] trovato interesse sufficiente per […] scrivere un romanzo (RQ 178 f.).
Wie wahrscheinlich vielen Schriftstellern ging es mir weder um die Chronik der Südtiroler Geschichte noch um die Ereignisse in einem jener Dörfer, die von den politisch-ökonomischen Interessen überrollt wurden, ohne dass die Bevölkerung etwas dagegen ausrichten konnte […]. Oder, besser gesagt, es ging mir schon um die Fakten, aber sie waren für mich Ausgangspunkt, nicht das Ziel. Hätte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, dass die Geschichte dieser Gegend und des Staudamms sich dafür eignete, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen Abläufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein über Verantwortungslosigkeit, über Grenzen, über Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hätte ich […] nicht genug Interesse aufgebracht, um […] einen Roman darüber zu schreiben (RQd 283 f.)

Die Wahl einer homodiegetischen Erzählinstanz schafft in diesem Sinn eine subjektive Dimension, die durch den Aufbau des Romans noch verstärkt wird (Orosz 2016). In 38 kurzen Kapiteln erzählt Trina ihre Lebensgeschichte aus der Retrospektive. Jedes Kapitel hebt dabei einzelne, sorgfältig ausgewählte Ereignisse hervor, die Trina in Form eines Briefes an ihre Tochter Marica richtet, die 1939 heimlich mit ihrer Tante den elterlichen Hof verließ, um die Chance auf ein besseres Leben zu haben und zu der die Eltern seither keinen Kontakt mehr haben. In diesem höchst subjektiven Erinnerungsprozess spielen Träume wiederholt eine Rolle.

Ganz generell hebt Trina den Traum als wichtigen persönlichen und kulturellen Anker hervor, da er in den Stunden des Schlafs eine Rückkehr in die Heimat und zu sich selbst ermöglicht. Angesichts der Gastarbeiter, die in Resto qui zum Bau des Staudamms ins Südtiroler Dorf Graun geholt werden, überlegt die Erzählerin: »La notte senz’altro sognavano i loro paese assolati e le mogli con cui fare l’amore appena tornati a casa« (RQ 150; »Bestimmt träumten sie nachts von ihren sonnenbeschienenen Dörfern und ihren Frauen, mit denen sie bei ihrer Rückkehr schlafen würden«, RQd 239). Der Traum wird in Balzanos Roman so zu einer transkulturellen Erfahrung, die eine nonverbale Verständigungsbasis zwischen Individuen schafft. Obwohl Trina die Sprache der Gastarbeiter nur fehlerhaft spricht und diese Teil des geradezu verhassten Bauprojekts sind – in den Augen der Grauner Bevölkerung Schergen des faschistischen Systems – bildet der Traum eine Brücke des Verständnisses und der Verständigung.

Grenzerfahrung und Vergangenheitsbewältigung im Traum

Darüber hinaus bilden Träume und Halluzinationen in Resto Qui einen liminalen Raum, in dem die Protagonistin mit ihren Traumata und tiefsten Ängsten konfrontiert wird, vor allem mit dem plötzlichen Verschwinden ihrer Tochter Marica. Das subjektive Familienschicksal überlagert in Balzanos Roman die historischen Ereignisse: Nach der Machtübernahme durch die Faschisten entschließt sich die kleine Marica, mit Onkel und Tante heimlich das Heimatdorf Graun zu verlassen. In einem Abschiedsbrief begründet sie ihre Flucht mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Obwohl dieser Brief das letzte Lebenszeichen ist, das die Familie jemals erreicht – oder gerade deswegen – bleibt die Tochter im Familienleben allgegenwärtig. Die Erzählung selbst präsentiert sich wie eine Autobiographie der Mutter, die sie als Brief an die Tochter verfasst. So konstruiert der Autor ein komplexes Netz aus ineinander verflochtenen Erinnerungsmedien, bestehend aus dem ›autobiographischen Brief‹ – dem narrativen Rahmen also –, intradiegetischen Briefen, Fotos, Zeichnungen und auch Träumen. Während die Mutter die verschwundene Tochter über Jahre hinweg in ihrem Leben hält, indem sie ihr täglich einen Brief schreibt, füllt der Vater heimlich ein ganzes Heft mit Zeichnungen von der Tochter. Dabei bleibt der Schmerz über den Verlust zwischen den beiden Eheleuten unausgesprochen, wird mit der Zeit unaussprechbar: Gerade das Briefeschreiben bedeutet Verdrängung, denn es suggeriert, dass der Verlust nicht als solcher angenommen wird, dass die Tochter immer noch wirklicher, präsenter Teil der Familie ist. Erst im Traum holen der Schmerz und das Gefühl des Verlusts die Protagonistin ein. So zum Beispiel nach einem Spaziergang zum See, zu dem sie ihre beste Freundin drängt:

Allora per farla contenta uscivo ma appena fuori pregavo Maja di portarmi al suo maso perché il lago ghiacciato non lo volevo nemmeno vedere. Mi bastava guardarlo che la notte sognavo di camminarci sopra con te. Era un sogno bellissimo ma avevo pauro di rifarlo. Io e te lo attraversiamo mano nella mano finché mettiamo i piedi in una crepa. Precipitiamo. Ma senza morire. Restiamo avvolte da un’acqua tiepida. Nuotiamo prive di peso. Torniamo a essere l’una il mondo intero dell’altra (RQ 73).
Ich verließ das Haus nur, um ihr eine Freude zu machen, doch kaum war ich draußen, bat ich Maja, mich mit zu sich zu nehmen, denn den zugefrorenen See wollte ich überhaupt nicht sehen. Ich brauchte ihn nur anzuschauen, schon träumte ich nachts, ihn mit dir zu überqueren. Es war ein wunderschöner Traum, aber ich fürchtete mich davor, ihn wieder zu träumen. Du und ich, Hand in Hand, bis das Eis bricht und wir versinken. Wir kommen aber nicht um. Eine lauwarme Flüssigkeit umhüllt uns. Wir schwimmen schwerelos und werden eine für die andere wieder die ganze Welt (RQd 122 f.).

Die einfache Syntax imitiert die Traumstruktur, in der Bildsequenzen und Eindrücke ohne die Notwendigkeit einer kausalen oder logischen Verknüpfung aufeinanderfolgen. Der Wassertraum verweist auf einen pränatalen Zustand, auf einen Zeitpunkt der Mutter-Tochter Beziehung, zu dem beide in einer perfekten Symbiose lebten und der Leib der Mutter für die Tochter noch die ganze Welt war – eine Welt die diese nicht so einfach verlassen konnte wie einige Jahre später das Dorf Graun. Obwohl es ein schöner Traum ist, schreckt die Mutter davor zurück, ihn zu träumen. Ganz bewusst versucht sie, den äußeren Stimuli zu entkommen, die im Traum eine Konfrontation mit der Vergangenheit provozieren und so einen Erinnerungsprozess in Gang stoßen, den die Mutter ablehnt: Denn Erinnerung bedeutet Vergangenheit, bedeutet den Verlust der Tochter als festgeschrieben zu akzeptieren, mit der Möglichkeit ihrer Rückkehr abzuschließen.

Am Abend bevor Erich und Trina ihr Heimatdorf verlassen, um sich vor der deutschen Armee zu verstecken, beschließt Trina, das obsessive Warten auf Marica hinter sich zu lassen:

Per quattro anni, ogni sera, ti avevo scritto su un vecchio quaderno. Lo rilessi tutto d’un fiato, poi lo appoggiai nel camino. Le braci scarlatte venavano la cenere. Il fuoco lentamente s’infilava tra le pagine crepitando, riprendeva vita. Non mi sono mai sentita piú libera (RQ 90).
Vier Jahre lang hatte ich dir jeden Abend in einem alten Heft geschrieben. Ich las alles noch einmal durch, dann legte ich es in den Kamin. Die rotleuchtende Glut maserte die Asche. Knisternd schlüpfte das Feuer langsam zwischen die Seiten und wurde wieder lebendig. Nie habe ich mich freier gefühlt (RQd 149 f.).

Doch das Gefühl der Befreiung hält nicht lange an. In der Einsamkeit der Hochalpen wird Trina regelmäßig von ihren Erinnerungen eingeholt, während sich ihr Unterbewusstsein gleichzeitig zu weigern scheint, die schmerzhafte Vergangenheit zu verarbeiten:

La sera, sdraiata sul letto di foglie, non volevo addormentarmi perché sentivo che ti avrei sognato. Invece quasi sempre sognavo il ragazzo biondo che mi si era addormentato sulla spalla e che veniva a svegliarmi gridando: »Trina la guerra è finita!« (RQ 114).
Am Abend auf dem Blätterlager wollte ich nicht einschlafen, weil ich ahnte, dass ich von dir träumen würde. Doch fast immer träumte ich von dem blonden Jungen, der an meiner Schulter eingeschlafen war und nun kam und mich schreiend weckte: »Trina, der Krieg ist aus!‹« (RQd 185).

Obwohl Trina während ihrer Zeit im Exil wiederkehrende Träume hat, träumt sie offenbar kaum von ihrer Tochter. Auch wenn die obige Passage darauf hindeutet, dass ihre Tochter manchmal in den Träumen der Protagonistin auftaucht, so wird doch keiner dieser Träume im Text erzählt. Während der Episode im Hochgebirge, die nur vage durch einen festen Tagesablauf strukturiert ist, scheint Trina wie paralysiert im Zustand der Trauer. Statt einer Konfrontation mit der Vergangenheit nehmen ihre Träume vielmehr die Form einer Flucht in noch dunklere Tiefen an: Das wiederholte Traumbild des kleinen Jungen, eines unbekannten Kindes, das während der Kriegszeit in Trinas Armen Trost sucht und findet, unterstreicht das Gefühl der totalen mütterlichen Hilflosigkeit. Die Traumpräsenz dieses anderen Kindes verweist auf die unerträgliche Abwesenheit ihres eigenen Kindes in der primären Welt.

Erst nach Kriegsende, nachdem Trina und Erich endlich in ihr Haus zurückgekehrt sind, hat die Protagonistin am helllichten Tag erneut eine traumhafte Begegnung mit ihrer Tochter:

Una mattina ti ho vista tra gli alberi. Eri ancora bambina. Ho lasciato le bestie al cane e ti ho inseguita. Ti chiamavo ma tu continuavi a camminare a passo lento, con la schiena dritta. Avevi addosso solo una maglietta ed eri a piedi nudi. Io acceleravo, ti inseguivo, correvo a perdifiato gridando il tuo nome. La mia voce sgolata si perdeva tra il frusciare dei larici. La distanza tra noi, anche tu camminavi lentamente, rimaneva sempre la stessa. Ho corso finché senza respiro e con le gambe traballanti mi sono appoggiata a un albero. L’ho colpito coi pugni, gridando che era tua la colpa della nostra miseria, del nazismo di Michael, dei proiettili che avevo sparato ai tedeschi. Tua e solo tua era la colpa. La colpa di tutto. E me ne sono andata giurando che a casa avrei buttato i tuoi giochi. Quella bambola di legno che ti aveva fatto Pa’ l’avrei gettata nella stufa (RQ 128).
Eines Morgens sah ich dich zwischen den Bäumen. Du warst noch ein Kind. Ich überließ das Vieh dem Hund und folgte dir. Ich rief dich, aber du gingst weiter, mit langsamem Schritt und geradem Rücken. Du hattest nur ein Hemdchen an und warst barfuß. Ich beschleunigte, verfolgte dich, rannte dir hinterher und rief deinen Namen. Meine heisere Stimme verlor sich im Rauschen der Lärchen. Der Abstand zwischen uns blieb immer gleich, obwohl du langsam gingst. Ich rannte, bis ich mich ganz außer Atem und mit wackeligen Beinen an einen Baum lehnen musste. Ich hämmerte mit den Fäusten gegen den Stamm und schrie, du seist an unserem Elend schuld, daran, dass Michael ein Nazi geworden war, daran, dass ich auf die Deutschen geschossen hatte. Du, du allein warst schuld. An allem. Und auf dem Rückweg schwor ich, dass ich zu Hause alle deine Spielsachen wegwerfen würde. Die Holzpuppe, die Vater dir gebastelt hatte, würde ich in den Ofen werfen (RQd 204).

Die Tatsache, dass Marica in dieser Begegnung noch ein Kind ist, deutet darauf hin, dass Trina die ganze Szene halluziniert haben muss: Phantasie und Realität vermischen sich in dieser Passage - zum Beispiel wenn Trina als Reaktion auf die plötzliche Vision den Namen ihrer Tochter zu schreien beginnt und damit deren Existenz in der Gegenwart markiert. Maricas Erscheinung als reines, fast nacktes kleines Mädchen unterstreicht den Wunsch der Mutter, das zu schützen, was sie Jahre zuvor verloren hat. Doch Marica läuft einmal mehr vor Trina davon, und auch wenn sie langsam geht, viel langsamer als die eilende Mutter, bleibt die Distanz zwischen Mutter und Tochter unüberwindbar. Es ist nicht verwunderlich, dass Trina auf die beunruhigende Vision zunächst mit Verzweiflung, dann mit Wut reagiert: Erneut verflucht sie ihre Tochter für das, was sie ihrer Familie angetan hat; erneut beschließt sie, ihr Leben, ihre ganze Existenz, zu vergessen. Während unklar bleibt, ob Trina die Spielsachen ihrer Tochter tatsächlich zerstört, wissen wir als Rezipienten bereits, dass es ihr einmal mehr nicht gelingen wird, die Vergangenheit zu verarbeiten: Der gesamte Roman, der in Form eines Briefs an die verschwundene Tochter geschrieben ist, unterstreicht die Unmöglichkeit zu vergessen.


Sophia Mehrbrey

Literatur

Ausgaben

  • Balzano, Marco: Resto qui. Torino: Einaudi 2018 (zitiert als RQ).
  • Balzano, Marco: Ich bleibe hier. Übers. von Maja Pflug. Zürich: Diogenes 2020 (zitiert als RQd).


Forschungsliteratur

  • Beyer, Rahel/Albrecht Plewnia (Hg.): Handbuch des Deutschen in West-und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen. Tübingen: Narr 2019.
  • Forkel, Robert: Literarisches Erzählen über die Zeit des Nationalsozialismus seit der Jahrhundertwende. Bestandaufnahme und Typologie. In: Daniel Fulda/Stephan Jaeger (Hg.): Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Berlin: de Gruyter 2019, 205–229.
  • Grote, Georg/Barbara Siller: Südtirolismen. Erinnerungskulturen, Gegenwartsreflexionen, Zukunftsvisionen. Innsbruck: Wagner 2011.
  • Grugger, Helmut: Zum Begriff des Generationenromans. In: Ders./Johann Holzner (Hg.): Der Generationenroman. Berlin: de Gruyter 2021, 3–17.
  • Klettenhammer, Sieglinde: Die Wiederentdeckung der Geschichte. Zu Familien- und Generationenromanen Südtiroler Autorinnen und Autoren seit der Jahrtausendwende. In: Cescutti, Marjan/Johann Holzner/Roger Vorderegger (Hg.): Raum, Region, Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse. Innsbruck: Wagner 2013, 241–269.
  • Orosz, Magdolna: Kriegsgeschichte aus der Retrospektive. Erinnerung in diskursiver Verarbeitung. In: Barbara Beßlich/Ekkehard Felder (Hg.): Geschichte(n) fiktional und faktual. Literarische und diskursive Erinnerungen im 20. und 21. Jahrhundert. Bern: Lang 2016, 133–153.
  • Riel, Claudia Maria: Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien. Tübingen: Stauffenberg 2001.


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Mehrbrey, Sophia: "Resto qui" (Marco Balzano). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Resto_qui%22_(Marco_Balzano).