"Il cardillo addolorato" (Anna Maria Ortese)

Aus Lexikon Traumkultur
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Kurzerläuterung

Der 1993 veröffentlichte Roman Il cardillo addolorato [Die Klage des Distelfinken, wörtlich „Der untröstliche Distelfink"] von A. M. Ortese (1914-1998) ist ein "phantastisch-historischer Roman“ (Brunner 2009, 8) mit vier wegweisenden Träumen oder Traumvisionen. Die Autorin gesteht: "Scivolo sul ghiaccio dell’invenzione e cado dove non c’è più invenzione" ["Ich gleite über das Eis der Erfindung und falle, wo die Erfindung aufhört"] (Clerici 2002, 584). Ihre im fortgeschrittenen Alter entstandenen Werke seien alle als moderne Märchen zu verstehen, deren Hauptfiguren auch als Erwachsene noch "Kindsköpfe" seien, weil sie den Gefahren und der Sterilität der herrschenden Sitten trotzten, zu Scherzen aufgelegt seien und das Spiel der unbegrenzten Möglichkeiten ausreizten, darin ihr als Autorin durchaus ähnlich, so verteidigt eine übermütige A. M. Ortese ihre besonders fruchtbare Schaffensperiode in den Siebziger und Achtziger Jahren (Clerici 2002, 585). Sie bezieht sich mit dieser Aussage auf eine Reihe von Manuskripten, darunter die zwei Romane ihrer späteren Jahre "Alonso e i visionari" und "Il cardillo addolorato". Noch ein weiteres Zitat bietet einen sicheren Zugang zu Orteses Verständnis vom "magischen Realismus": "L’ovvio, il comune, il parlato, il comprensibile mi sembrano cose sempre più prive di vita, come le mode, e vorrei perciò scrivere in modo antico o antichissimo, proprio per raggiungere un accento di verità (e anche attualità)" ["Alles Banale, Gewöhnliche, Dahergeredete, Selbstverständliche erscheint mir immer mehr als etwas Lebensfremdes, wie die Moden, und darum möchte ich auf eine veraltete Art schreiben, so veraltet wie möglich, um einen Hauch von Wahrheit zu erzeugen (und auch von Aktualität)"] (Clerici 2002, 586).

Zur Autorin

A. M. Ortese ist eine der wichtigen, allerdings lange Zeit verkannten italienischen Autorinnen des Novecento. Sie ist 1914 in Rom geboren und in Neapel aufgewachsen. Noch ein halbes Kind, verweigerte sie mit vierzehn Jahren die Schule, weil sie dort nichts lerne. "Io ho avuto il vantaggio di una famiglia che mi lasciava libera di camminare e di leggere: sono state queste due possibilità a formarmi" ["Ich hatte den Vorteil, eine Familie zu haben, die mir die Freiheit ließ, umherzugehen und zu lesen: Darin bestand meine Bildung"] (Clerici 2002, 62). In der Folgezeit begann sie – als Autodidaktin – zu schreiben. Ausgestattet mit einem Hang zu Isolation und Selbstaufopferung – oft saß sie um drei Uhr nachts am Schreibtisch – sowie mit einer großen Eigenwilligkeit, experimentierte A.M. Ortese viel mit der italienischen Sprache. Dabei feilte sie so lange an jedem ihrer Sätze, bis er ihren hohen poetischen Anforderungen entsprach. Niemals ordnete sie sich einer gerade gängigen literarischen Mode unter. Erste Bekanntheit erlangte sie 1953 mit dem Erzählband Il mare non bagna Napoli [Neapel liegt nicht am Meer]. Eine Erzählung daraus erregte unter den von ihr namentlich zitierten Intellektuellen eine so heftige Polemik, dass sie Neapel schließlich verließ. Seitdem fühlte sie sich weder im privaten Leben noch im Kulturbetrieb zu Hause, obwohl sie weiterhin viele literarische Werke produzierte. A. M. Ortese blieb ihrer Heimatstadt stets in schmerzvoller Liebe verbunden. In einem Interview gestand sie, sie habe es beim Schreiben von Il cardillo addolorato als Glück empfunden, in eine Welt zurückzukehren, an der sie mit ganzer Seele hängt: Neapel. Diesem Roman gebührt der Ruhm als „erfolgreichstem Werk ihrer letzten Schaffensphase“ (Brunner 2009, 184). Ein Jahr vor ihrem Tod 1998 schrieb sie einer Freundin: "Vorrei dirLe tante più cose. Di quelle che si pensano di notte e sono molte luminose, però sfuggono subito. Al risveglio, non c’è nulla" ["Gern würde ich Ihnen noch viel mehr sagen. Von Nachtgedanken, die sehr einleuchtend sind, aber auch sofort wieder verschwinden. Beim Aufwachen ist alles weg"] (Clerici 2002, 639). A. M. Ortese starb mit 84 Jahren in Rapallo in Ligurien, ihrer Wahlheimat für lange zwanzig Jahre.


Zum Werk

Entstehungskontext

Zusammen mit ihren großen Romanen L’Iguana [Iguana: ein romantisches Märchen], Il porto di Toledo [Der Hafen von Toledo] und Alonso e i visionari erschuf A. M. Ortese auch in Il cardillo addolorato ungewöhnliche und fast magische Figuren, Dialoge und Handlungen, die die Schwerelosigkeit eines fliegenden Teppichs haben, mit dem Ziel, etwas Wahres zu verfassen - und da die Wahrheit ihrer Ansicht nach der einzige Weg war, Probleme zu lösen, auch einen Akutalitätsbezug herzustellen (Brunner 2009, 160). Nach Ansicht des Literaturkritikers und Essayisten Goffredo Fofi hat A. M. Ortese "mit ihren beiden letzten Romanen [dem Distelfinken und Alonso] ihre wahre Dimension erreicht und sich unter den größten Schriftstellerinnen dieses Jahrhunderts einen Platz gesichert". "In essi si perfeziona, trovando una liberissima misura narrativa dentro la metamorfosi e il movimento, dentro il cambiamento ingannevole delle apparenze e delle sostanze, l’acquisizione di una sempre più profonda verità essenzialmente religiosa " ["In ihnen zeigt sich immer deutlicher, indem sie in der Verwandlung und Bewegung, im trügerischen Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Täuschung ihren ganz eigenen Erzählstil findet, die Errungenschaft einer immer tieferen, im Wesentlichen religiösen Wahrheit"] (Fofi 1999, 283 f.).


Vier Träume bzw. Traumvisionen im Roman Il cardillo addolorato

Gedanken sind Träume, und Träume sind Eingebungen (1.Traum)

"Immer wenn es sich um Elmina drehte, träumte er. Und wenn er träumte, war er unberechenbar." Dieser Satz steht exakt in der Mitte des 415 Seiten langen Romans Il cardillo addolorato (Ortese 1993: 209). Er ist eigentlich nur auf einen Mann gemünzt – den launenhaften und auch rachsüchtigen, aber im Grunde keineswegs böswilligen Prinz Ingmar Neville. Doch der Roman beginnt, dass nicht er, sondern ein anderer von Elmina träumt und sich zu einer vorschnellen und unvorsichtigen Handlung hinreißen lässt.

Bellerophon wachte aus einem wunderbaren Traum auf. Elmina lag in seinen Armen, auf ihrem Antlitz der Abglanz tiefen Glücks und bräutlicher Demut. Tränen, rührend wie wahre Liebesbriefe, gaben ihren Goldaugen einen weichen Ausdruck, sie schaute mit Zuversicht in eine strahlende Zukunft. Hinter ihr stand die kleine Teresa mit einem Weidenkäfig in der Hand. In dem Käfig saß ein Vogel, der am Vortag gestorbene Distelfink. Er war vom Tode auferstanden und lebte, das Böse auf Erden war nichts als ein Traum. Mit ihrem hübschen Gesicht nah am Käfig und mit schelmischem Blick auf die beiden Verliebten spitzte Teresa ihre Lippen zum Kuss, und der Distelfink näherte sich ihr zutraulich mit zwei Hüpfern. "Er lebt! Das Böse ist ein Trugschluss! Der Tod eine Lüge, und Elmina liebt mich!", jubelte der Künstler. Er erblickte hinter dem Käfig einen großen rosigen Schein. Es war die aufgehende Sonne! Und die frühe Morgensonne, die durch den zum Meer hin offenen Balkon hereinschien, weckte ihn. Noch traumverfangen freute sich Albert, kaum war er wach, über den offen auf dem Tisch liegenden Brief, den die ersten Sonnenstrahlen streiften, und beschloss, ihn auf der Stelle, ohne ihn noch einmal zu lesen, zum Haus des Handschuhmachers zu bringen. (Ortese 1993, 33 f., übers. von S.K.)

Vorher

Prinz Ingmar Neville hat sich von zwei Freunden (dem jungen Bildhauer Albert Dupré und dem Kaufmann Nodier) nach Neapel begleiten lassen. Kaum angekommen, lernen die drei dort im Hause des stadtbekannten Handschuhmachers Mariano Civile dessen Töchter Elmina und die kleine Teresa kennen. Noch in derselben Nacht träumt Dupré von Elmina. Im Roman wird er auch Bellerophon genannt, nach dem Helden aus der griechischen Mythologie, der für seinen Übermut, auf seinem geflügelten Pferd zum Olymp zu fliegen, von den Göttern hart bestraft wird und blind und verkrüppelt stirbt.

Albert [...] war der Stern des apollinischen Wagens, der aus diesen drei jungen Reisenden bestand, er war der wahre Bellerophon der Gruppe; und als der Wagen losfuhr, beflügelt vom feurigen Pegasos – d.h. der europäischen Romantik –, überquerte man in Windeseile erst das von den Jakobinern schon viel weniger überlaufene Frankreich, dann die im Azur schwimmenden Alpen; anschließend fuhr man in euphorischer Stimmung das himmelblaue Italien runter und immer weiter runter, um endlich nach einem gewagten Sprung durch den rosafarbenen Feuerreifen der ersten mediterranen Morgenröte in Neapel zu landen; Neville will sich später daran erinnern können, dass bei ihrer Ankunft viele kleine Wellen hinter den Felsbrocken hervorgelugt hätten, oder dass noch andere luftgeborene Wesen des Frühlings die grünen Türen der am durchsichtigen Meer liegenden Fischerhütten, in deren Nähe das Haus von don Mariano Civile stand, einen Spalt weit geöffnet hätten, um lachend nach ihnen Ausschau zu halten… Don Mariano wohnte bekannterweise hier; und genau hier, wo er seine prachtvolle, mit dorischen Säulen geschmückte Villa wie eine Chimäre oder einen Traum angrenzend an das farbige und einfältige Fischerdorf mit seinen Fischernetzen und Fischerbooten errichtet hatte, war er in jungen Jahren zu viel Berühmtheit, vielen Kindern und einem unglaublichen Reichtum und Wohlstand gekommen, von dem man in Neapel und Umgebung nur so schwärmte [...]. (Ortese 1993, 17 f., übers. von S.K.).

Nachher

Gleich am frühen Morgen berichtet Albert Dupré dem Prinzen Ingmar Neville vertrauensselig von seinem Traum und was dieser ausgelöst habe. Er gibt zu, sich noch am selben Abend ihrer Ankunft in das Mädchen Elmina verliebt zu haben und bereits bei Sonnenaufgang einen Brief zum Haus des Handschuhmachers gebracht zu haben: Darin bittet er Herrn Mariano Civile um die Hand seiner Tochter. Der Prinz ist eifersüchtig - besonders auf Duprés Traum. Und er traut dem Glück nicht, das dem jungen Künstler den Verstand zu rauben scheint. Elmina kann aus dem Fenster beobachten, wie sich Neville kurzentschlossen den Brief wieder aushändigen lässt und damit den Heiratsantrag aus der Welt schafft. Seitdem ist sie ihm feindlich gesinnt.


Von Trotz und Träumen (2. Traum)

"Solo sogni e dispetti" [Nur Träume und Trotzreaktionen]: A. M. Ortese verbindet diese beiden Begriffe, um das Verhalten von "principi e fanciulli" [Prinzen und Kindern] zu beschreiben. Sie seien die „ammanettati dal Sogno“ [mit Handschellen vom Traum Gefesselten] – und sie laufen Gefahr, sich selbst und anderen zu schaden.

Neville ging nicht sofort schlafen. Er stand noch eine gute Stunde lang auf dem Balkon und lauschte den Geräuschen der zartblauen, zwar bewölkten, aber doch immer blauen Nacht über Neapel. Ihn ärgerte der glückliche Singsang Nodiers hinter der Wand. Der war bestimmt in Gedanken bei Teresella. Ingmar aber war die Lust auf jede Art von Kritik vergangen. Er ging hinein und schlief endlich ein, wobei er von einem gewissen Poussin träumte, der zu ihm wollte, "um sich Geld zu leihen", dem er aber ins Gesicht sagen ließ, "er solle ein andermal wiederkommen, dafür sei ihm seine Zeit wirklich zu schade". Einfach so, ohne ein schlechtes Gewissen. Doch so sind nun mal unsere Träume: Da verliert oder vergisst man schnell seine gute Erziehung, deren einziges Ziel es ist, dass man sich der Welt anpasst. Ihrerseits aber zeigt sich diese Welt gerade Prinzen und Kindern gegenüber kein bisschen aufgeschlossen, sondern unnachsichtig und gehässig und begegnet allen im Traum Gefangenen mit Spottlust und Drohgebärden. In den frühen Morgenstunden kann man sie übrigens nach einer durchwachten Nacht vorbeilaufen sehen, die mit Handschellen vom Traum Gefesselten, eine Ahnung von Sonnenaufgang in den Augen, ihre Schritte hallen in den leeren Straßen wider. (Ortese 1993, 335, übers. von S.K.)

A. M. Ortese hat bei der Charakterisierung der Figur des Prinzen, indem sie das Bild der im Morgengrauen in Handschellen durch die Straßen abgeführten Menschengruppe zeichnet, ausdrücklich die politischen Häftlinge des beginnenden 19. Jahrhunderts - der Roman spielt in jener Epoche - vor Augen. Sie waren jung und unverbesserlich, und kein Verbot oder Gefängnis, keine Folter oder sogar Todesstrafe konnte sie abschrecken. Durch ihren Trotz und ihre Träume unterscheidet sich diese Art von Menschen einerseits von den Freien, die wie der Kaufmann Nodier niemals gegen den eigenen Vorteil handeln würden. Doch liegen auch Welten zwischen ihnen und den Abhängigen, die sich wie der Künstler Albert Dupré zum eigenen Leidwesen oder aus Bequemlichkeit zeitlebens anderen unterordnen.


Ein wenig mehr Licht (3.Traum)

Prinz Neville träumt von einem geräumigen Atelier für seinen Freund Albert Dupré, wobei sein prophetischer Traum nichts Gutes verheißt.

Um das Häuschen herum lief wie eine Steinterrasse ein enger, verwilderter Garten mit Pflaumen- und Kirschbäumen, die der ständige Wind für immer krummgebogen hatte. Das war das Heim der Frischvermählten. Die hellblauen Fensterläden waren wie müde Augen geschlossen, aber das Gartentörchen stand offen - so als wäre das Anwesen verlassen. Der Prinz betrat den Garten und erblickte im Erdgeschoss des Hauses durch eine beschlagene Fensterscheibe ein großes Zimmer, es passte vortrefflich zu seiner Idee von einem Atelier für den Steinmetz, so geräumig war es, mit Lehmboden und mächtigen, wohlgeordnet aufgereihten Marmorblöcken, ringsherum verstreut die für die Bildhauerkunst nötigen Werkzeuge. Von der gegenüberliegenden Fensterwand schien ein schwerer Vorhang, ein Sonnenschutz für delikate Augen, zu Boden gegangen zu sein, und mit dem Rücken zum Betrachter gedreht war eine hochgewachsene Frau damit beschäftigt, ihn aufzuheben und wieder zu befestigen. Er vermutete, das könnte Ferrantina sein, aber dann fiel ihm ein, die alte Frau müsste zu dieser Stunde in der hellbeleuchteten, rosengeschmückten und betörend duftenden Kirche sitzen. Dem Prinzen schwindelte es. Er sah, wie die Alte sich einer im Schatten eines hohen Marmorblocks verborgenen Gestalt zuwendete und freundlich redete: „Lasst es bleiben, Albert. Das ist ja eine Obsession. Sagt mir doch lieber, ob der Vorhang so richtig hängt. Oder wollt ihr ein wenig mehr Licht?“ Der anscheinend im Schatten hingelagerte Mann, der wohl krank, lustlos oder verängstigt war, antwortete nicht, und nach einer gewissen Totenstille verschwand alles, die Frau, das Fenster und der Vorhang. (Ortese 1993, 125 f., übers. von S.K.)

Vorher

Diesem Traumbild des Prinzen war ein nächtlicher Meinungsumschwung vorausgegangen. Neville ist nach einem kurzen Abstecher in Caserta, wo er einem polnischen Herzog einen Besuch abgestattet hat, nach Neapel zurückgekehrt. Seit er von seinem Wunsch, die Ehe zwischen Albert und Elmina zu verhindern, abgelassen hat, ist er bereit, der Trauung in der Kirche beizuwohnen. Doch in der Nacht davor fühlt er plötzlich einen wilden Schmerz und ein grausames und egoistisches Verlangen, das Weite zu suchen. Er beschließt am folgenden Morgen, über Nizza in seine Heimat nach Lüttich zurückzukehren. Vorher will er sich aber noch schnell die zukünftige Wohnstätte der Frischvermählten ansehen, deren Restaurierung er finanziert hat.

Nachher

Nevilles polnischer Freund, der hellseherische Fähigkeiten hat, hatte ihn vorgewarnt. Jedes Mal, wenn er den Namen Dupré ausspreche: Albert Dupré, überlaufe es ihn kalt. "Ich mag diese beiden jungen Menschen, auch wenn ich sie persönlich nicht kenne, rührt mich ihre Unbedarftheit... ja, sie sind auf höchste Weise unschuldig, ungeachtet der Tatsache, dass Elmina noch blutjung und oft hochmütig ist. Beide scheinen im ersten Morgenlicht so strahlend glücklich, als könnten sie fliegen, noch ahnen sie nicht die Last, die das Schicksal für sie im Schlepptau hält." (Ortese 1993, 97) Der heruntergefallene Vorhang, den die alte Ferrantina wieder aufzuhängen bemüht ist, um die Fenster zu verdunkeln, bietet die Gelegenheit, einen kurzen Blick in die Zukunft zu werfen. Neville verfolgt nur bruchstückhaft das Gespräch der Alten mit dem am Boden liegenden Bildhauer. Aber es reicht, um sich Albert so krank vorzustellen, dass er noch nicht einmal mehr die Kraft besitzt, sich der rachsüchtigen Dienerin zu wehren.


Ein Gespenst! (4.Traum)

"Elmina war nie abergläubisch gewesen, aber in letzter Zeit träumte ihr." A. M. Ortese schafft zu Beginn ihres dritten Romanteils mit dieser Wendung einen Zwischenraum zwischen Traum- und Wachwelt, dessen Grenzen unscharf geworden sind. Elmina ist zu diesem Zeitpunkt des Handlungsgeschehens als Ehefrau und Mutter von mehreren Schicksalsschlägen getroffen worden. Die Traummarkierung per Dativkonstruktion stellt diese Träume als von außen eingegebene Träume aus, was wie eine Reminiszenz an voraufklärerische Zeiten wirkt. Ihre Gedanken sind zudem in weiten Teilen der Wirklichkeit entrückt und kreisen um Neville, der am Ende des ersten Romanteils abgereist war. Das dritte Romankapitel beginnt mit der Beschreibung einer Treppe, der "Scalinatella", die über mindestens tausend verwitterte Stufen bis hoch zu dem vereinsamten Häuschen mit Atelier führt.

Zu etwa dergleichen Zeit, als Herr Neville in Lüttich allmählich merkte, neuerdings und immer öfter die ruhigeren Zerstreuungen, wie das Lesen guter Bücher oder die Pflege alter Freundschaften, seinen sonst so mondänen Beschäftigungen vorzuziehen, zu etwa derselben Zeit stieg an einem Novemberabend um zehn Uhr abends in Neapel inmitten eines stetigen Nieselregens eine kleine Frauenperson die dunkle und einsame Treppe herauf. Sie klemmte ihre Tasche fest an sich, denn sie hatte Angst: Seit ein paar Tagen waren schreckliche Gerüchte im Umlauf. In der Gegend trieben Diebe ihr Unwesen. Oder man munkelte von Geistererscheinungen, vom Spuk der Hingerichteten. Elmina war nie abergläubisch gewesen, aber in letzter Zeit träumte ihr. Und automatisch begann sie mit klopfendem Herzen um das Seelenheil der Toten zu beten. Sie sehnte sich nach einer Laterne, die ihr von irgendwoher leuchten würde. Und kaum hatte sie aus tiefster Seele gebetet, erschien das Licht. Es kam direkt aus ihrem Haus mit zitterndem Schein auf sie zu. Die Witwe Dupré blieb ernst und bleich stehen, und es schoss ihr durch den Kopf: Ein Gespenst! Bald darauf verlosch der Lichtschein, und vom Mond beschienen tauchte im silbernen Regenschleier die große und fröhliche Gestalt Nevilles auf, den sie für den anziehendsten und hassenswertesten Menschen auf der ganzen Welt hielt. (Ortese 1993, 174-181. Für diese Traumvision sind verschiedene Textausschnitte verwendet worden. Collage und Übers. von S.K.)

Vorher

Elmina ist an dieser Stelle des Romans eine gealterte Frau: nicht, was ihren unbeugsamen Stolz, sondern was ihr Wissen um die Vergänglichkeit der Welt angeht, ausgelöst durch den schlagartigen Verlust lieber Menschen und Sicherheiten. In weniger als zehn Jahren sind ihr drei Familienmitglieder weggestorben. Ihre Tätigkeit als Näherin, die ihr gesellschaftlich und finanziell Halt gegeben hat, steht auf unsicheren Füßen: erst der Tod des Vaters, dann der Tod des Sohnes, dann die lange Krankheit ihres Ehemanns Albert Dupré, von der ihr niemand sagen kann, ob es Verrücktheit war, schließlich das kümmerliche Schattendasein als mittellose Witwe mit einer dreijährigen stummen Tochter. Alles zusammen hat ihre Kundschaft vertrieben und sie in die Abhängigkeit einer einzigen strengen Arbeitgeberin gebracht.

Nachher

Wenn am Ende der Treppe, die einem Bußgang gleicht, Neville auf sie wartet, könnte man meinen, die Erlösung sei greifbar nah. Aber dass es sich um einen Trugschluss handelt, zeigt schon allein die augenzwinkernd getroffene Wahl der Autorin, Neville zeitgleich an zwei Orten zu platzieren. Außerdem hat Elmina ihren eigenen Kopf. Sie ist wahrlich nicht frei, aber sie ist aufmüpfiger als ihr verstorbener Mann Albert. In ihrem Trotz und ihrer Fähigkeit zu träumen ist sie dem Prinzen ebenbürtig. Nicht zuletzt ist Orteses Roman die Geschichte einer unerfüllten Liebe zwischen zwei Menschen, die sich gegenseitig anziehen und hassen: der Prinz Neville und die schöne Elmina.


Einordnung

Nur schwer lässt sich im Roman Die Klage des Distelfinken die Grenze zwischen einer erträumten Welt zu der eines wachen Bewusstseins ziehen: Trotz einer kunstvoll stimmigen und geschlossenen Wiedergabe, als wären es alles wahre Begebenheiten, kann keine der noch so minuziös geschilderten Szenen aus diesem Roman dauerhaft den Anspruch auf diegetische Wirklichkeit erheben, weil jeder einzelnen zu viele Widersprüchlichkeiten gleich auf den Fersen folgen. Was die vier genannten Traumsequenzen im „Distelfinken“ aber auszeichnet ist die ihnen innewohnende Anlage, dass sie nicht nur auf einzelne interpretative Ansätze hin, sondern auch maßgebend für ein allgemein besseres Verständnis des Handlungsverlaufs ausgelegt werden können. Gerade was die Zusammenfassung des Inhalts betrifft, hat A. M. Ortese vor oberflächlichen Aussagen gewarnt: "Ein Roman ist ein Gewebe, und wenn man an seinen einzelnen Fäden zieht, zerstört man sein Geheimnis" (Clerici 2002, 586). Die Geschichte sei das eigentliche Übel des Romans, gibt die Autorin zu. "In questo quadro fatto di prospettive multiple e personaggi instabili la vicenda non può che essere complessa e sfuggente, ramificata e contraddittoria, incontrollabile: quello dell’impossibilità di riassumere i due romanzi è un topos della critica" ["In diesem Bild, in dem es hundertfache Blickwinkel und mutierende Persönlichkeiten gibt, kann auch das Geschehen nur ein vielschichtiges und unbeständiges, weitgefächertes und widersprüchliches sein, mit einem Wort: ein außer Kontrolle geratenes; die Unmöglichkeit der Inhaltszusammenfassung ist für beide Romane ein Topos der Kritik"] (Clerici 2002, 601 f.). Die vier ausgesuchten Träume hingegen zeigen auf, dass sich aus bestimmten Eingebungen der Protagonisten eine Struktur für das Romangeschehen ergeben kann. So bewahrheiten sich die onirischen Prophezeiungen vom Glanz (1.Traum) und Untergang (3.Traum) des Bildhauers Albert Dupré, wobei die zwei zeitlich getrennten Visionen kontrastiv aufeinanderprallend den Wendepunkt im Leben des Künstlers gestalten. Eine selbstreferentielle Qualifizierung der Traumbedeutung (2.Traum) nimmt die Erzählinstanz in Bezug auf den Individuationsprozess der wichtigsten Figur, Prinz Neville, vor: Dem Traum wird hier ein Momentum der Selbstbestimmtheit zugesprochen, der als Kontrapunkt zu gesellschaftlichen Rollenerwartungen anzusehen ist. Auch die in ängstlicher Traumverlorenheit zum Ausdruck kommenden Leidenschaften der schönen Elmina (4.Traum) verdeutlichen schließlich die implizite Strukturierung des Romangeschehens in ähnlicher Art und Weise. Das Romangeschehen spiegelt sich in dem durch die Schicksalsschläge gewandelten Seelenleben Elminas wider, das Zeugnis von einem Bekenntnis zur Individualität ablegt, auch wenn diese lediglich im Gewand des Trotzes aufrechterhalten werden kann.

Stephanie Kunzemann


Literatur

  • Ortese, Anna Maria: Il cardillo addolorato. Milano: Adelphi 1993.
  • Brunner, Maria E.: Schreiben als Arbeit an der Sprache. Das literarische Werk von Anna Maria Ortese. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009.
  • Clerici, Luca: Apparizione e visione. Vita e opere di Anna Maria Ortese. Milano: Mondadori 2002.
  • Fofi, Goffredo: Le nozze coi fichi secchi. Storie di un’altra Italia. Napoli: L’ancora del Mediterraneo 1999.
  • Rebane, Gala: "The Flickering Light of Reason: Anna Maria Ortese’s Il cardillo addolorato and the Critique of European Modernity." In: Gian Maria Annovi/Flora Ghezzo (Hg.): Anna Maria Ortese. Celestial Geographies. Toronto: University Press 2015, 356-384.


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Kunzemann, Stephanie: "Il cardillo addolorato" (Anna Maria Ortese). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Il_cardillo_addolorato%22_(Anna_Maria_Ortese).


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