"Le due chiese" (Sebastiano Vassalli)

Aus Lexikon Traumkultur
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Sebastiano Vassalli (1941–2015) gehört zu den bekanntesten Autoren der italienischen Neoavanguardia (vgl. Barański 1993; Nesi 2005). Sein Roman Le due chiese (dt.: Die zwei Kirchen; eine Übersetzung ins Deutsche existiert bislang nicht) erschien 2010 bei Einaudi. Es handelt sich um einen historischen Roman (vgl. Aust 1994), der eine lange zeitliche Periode vom beginnenden 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart umfasst. Schauplatz der Handlung ist ein kleines Dorf in den italienischen Alpen, das geographisch jedoch nicht genau verortet ist. Der symbolisch aufgeladene »Macigno Bianco« verweist allerdings auf den Monte Rosa, ein Bergmassiv in den Walliser Alpen. Die Erzählung beschreibt anhand unterschiedlicher Einzelschicksale welche Spuren die europäische Geschichte, insbesondere die beiden Weltkriege, selbst in diesem abgelegenen Alpendorf hinterlassen haben. Die Frage nach einer transeuropäischen Gedächtniskultur steht somit im Zentrum des Werks. Dabei wird den Alpen eine essentielle Rolle für die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins zugeschrieben.

Der geplatzte Traum von der Menschlichkeit

Dem Gebirge und insbesondere dem »Macigno Bianco« schreibt Vassallis Roman eine starke spirituelle Kraft zu. Aufgrund ihrer Nähe zum Himmel dienen Berge seit jeher als Symbol für Transzendenz und Spiritualität, aufgrund ihrer Abgeschiedenheit auch als Ort der Selbsterfahrung, auf das die Träume des Individuums projiziert werden (Kopf 2016, 83–98; Silber 2019, 18). Diese metaphorische Traumdimension greift Sebastiano Vassalli im Vorwort zu seinem Roman Le due chiese auf und versieht sie mit einer kollektiven Dimension. Die Handlung seines Romans verankert er in einem kollektiven Traum, der durch die beiden Weltkriege zerplatzt:

Questa storia, come tutte le storie, si svolge nello spazio e nel tempo. Nello spazio, il suo punto di riferimento è una grande montagna, che si vede per centinaia di chilometri dalla pianura sottostante e che un poeta, tanti anni fa, chiamò «il Macigno Bianco». Il Macigno Bianco fa parte di un sistema montuoso, quello delle Alpi, che è al centro della nostra vecchia Europa e ne costituisce, per così dire, la struttura portante. L’ossatura. È qui, in questo incrocio di culture, di nazioni e di lingue, che nasce l’altro punto di riferimento della storia che sto per raccontare, quello che ci aiuta a collocarla nel tempo. Un insieme di musica e di parole. Un inno: l’Internazionale […]
Cento e cinquanta anni fa, [il] sogno [di un mondo più giusto e più libero] diventò un inno: l’Internazionale, che poi è risuonato in ogni parte del mondo e che era nato tra queste montagne e in queste valli intorno al Macigno Bianco, dove si svolge la nostra storia.
Anche se l’autore delle parole è un certo Pierre Degeyter, di nazionalità francese: la musica, nella sua parte essenziale, esisteva prima delle parole ed era un inno alle Alpi. Era una «marcia per banda» del maestro Vincenzo Petrali, e si intitolava Orobia. Come abbia poi fatto l’inno delle Alpi a diventare l’inno del genere humano […] resterà un mistero, che nessuno probabilmente potrà mai spiegare. La musica, si sa, è la cosa più volatile e orecchiabile del mondo. Ma è bello, è consolante, che dietro alle rivoluzioni fallite et alle speranze tradite, dietro al sangue e alle lacrime delle guerre ci sia la visione maestosa delle grandi montagne (DC 7 f.).


Diese Geschichte ist, wie alle Geschichten, in Raum und Zeit verankert. Im Raum ist ihr Bezugspunkt ein großer Berg, der über Hunderte von Kilometern von der Ebene aus zu sehen ist und den ein Dichter vor vielen Jahren »il Macigno Bianco« nannte. Der Macigno Bianco ist Teil eines Gebirgssystems, dem der Alpen, das im Zentrum unseres alten Europas liegt und sozusagen sein tragendes Gerüst bildet. Sein Rückgrat. Hier, an diesem Kreuzungspunkt der Kulturen, Nationen und Sprachen, entsteht der andere Bezugspunkt der Geschichte, die ich erzählen möchte, der uns hilft, sie in der Zeit zu verorten. Eine Kombination aus Musik und Text. Eine Hymne: die Internationale [...]
Vor einhundertfünfzig Jahren wurde [der] Traum [von einer gerechteren und freieren Welt] zu einer Hymne: die Internationale, die damals in allen Teilen der Welt erklang und die in diesen Bergen und Tälern rund um den Macigno Bianco, wo unsere Geschichte spielt, geboren wurde.
Auch wenn der Autor des Textes, ein gewisser Pierre Degeyter, ein Franzose ist: Die Musik existierte in ihrem wesentlichen Teil vor dem Text und war eine Hymne an die Alpen. Es handelte sich um einen »Marsch für Orchester« von Maestro Vincenzo Petrali mit dem Titel Orobia. Wie die Hymne der Alpen zur Hymne der Menschheit wurde [...], wird ein Geheimnis bleiben, das wohl nie jemand wird erklären können. Es ist weithin bekannt, dass Musik die flüchtigste und eingängigste Sache der Welt ist. Aber es ist schön, es ist tröstlich, dass hinter den gescheiterten Revolutionen und verratenen Hoffnungen, hinter dem Blut und den Tränen der Kriege die majestätische Vision der großen Berge steht (eigene Übersetzung).

Dieser Ausschnitt aus dem Vorwort bildet den Rahmen der nachfolgenden Geschichte des kleinen, geographisch nicht eindeutig verorteten, italienischen Alpendorfs und seiner Bewohner. Dabei betont Vassalli einerseits die strategische Lage der Alpen als transkultureller Raum der Begegnung, die besonders im Kontext der Weltkriege relevant wird, andererseits die Rolle der Alpen als Wiege einer gemeinsamen, internationalen Vision von mehr Gerechtigkeit. Die »Alpenhymne« wird zu einer »Hymne der Menschheit«, die Vassalli ganz bewusst als sogno, Traum beschreibt.  Dieser Traum von mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit bildet den eigentlichen Rahmen des Romans: Durch die Grauen der beiden Weltkriege scheint dieser Traum selbst in den abgeschiedensten Bergdörfern ad absurdum geführt zu werden. Das Vorwort erfüllt so eine entscheidende Funktion für die Leserlenkung, da sie den alptraumhaften Erfahrungen der Diegese die Hoffnung des kollektiven Traums entgegenstellt, dessen Echo zwischen den Felswänden der Alpen doch bis ins 21. Jahrhundert nachhallt.[1]


Alpträume und Kriegstrauma

Anhand von 13 Einzelschicksalen aus dem kleinen italienischen Alpendorf zeigt Sebastiano Vassalli jedoch, wie der Hoffnungstraum der Internationalen in den Weltkriegen zugrunde geht. An seiner Stelle bleiben nur die persönlichen Traumata des Einzelnen. Besonders verheerend sind die Erfahrungen von Giuseppe Calandron, der zwar wie durch ein Wunder einen Granateneinschlag in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs überlebt, dabei aber zum »scemi di guerra« (DC 123) wird – zum Kriegszitterer (vgl. Holden 1998, 26). Giuseppe ist in seinem Heimatdorf als introvertierter, sachlich-gefühlskalter Mensch bekannt, die Fronterlebnisse kehren jedoch eine bislang unbekannte, psychisch fragile Seite seiner Persönlichkeit heraus:

ha scoperto, in guerra, di essere una persona emotiva. Un uomo fragile, che di notte, nel sonno, rivive gli incubi della giornata e a volte grida, svegliandosi e svegliando i compagni (DC 125).


Im Krieg hat er entdeckt, dass er eine emotionale Persönlichkeit ist. Ein zerbrechlicher Mann, der während der Nacht, im Schlaf, die Alpträume des Tages noch einmal erlebt und manchmal schreit und dabei sich und seine Kameraden aufweckt (Eigene Übersetzung).

Die Schrecken der Kriegserfahrung werden hier durch die Doppeldeutigkeit des Begriffs »incubo« deutlich: Die traumatischen Erlebnisse werden mit der Metapher des Albtraums umschrieben, die den Protagonisten des Nachts, im Schlaf – also in Form eines tatsächlichen Albtraums - heimsuchen. Die Analogie zwischen dem italienischen Begriff und der mythologischen Figur des Incubus oder Nachtmahrs verstärken die Intensität der Metapher noch. Das Ausmaß von Giuseppes Trauma, das sich zu Beginn des Krieges noch in diesen Albträumen äußert, wird potenziert durch einen Granateneinschlag, den Giuseppe zwar körperlich unversehrt überlebt, der ihn jedoch endgültig zum Schüttelneurotiker macht:

Il proiettile non esplode. Al suo posto e in quel medesimo istante, esplode la testa di Giuseppe. O, per essere più precisi, si svuota. La memoria e il senno se ne vanno e lui incomincia a vagare qua e là, nella trincea sconvolta dalle bombe, finché uno dei suoi compagni che ha capito csa gli è successo, lo prende per mano e lo porto al riparo (DC 126).


Das Geschoss explodiert nicht. Stattdessen und genau in diesem Moment explodiert Giuseppes Kopf. Oder, genauer gesagt, er leert sich. Sein Gedächtnis und seine Sinne verflüchtigen sich und er beginnt, in dem von Bomben verwüsteten Graben hin und her zu irren, bis einer seiner Kameraden, der begriffen hat, was mit ihm geschehen ist, ihn an der Hand nimmt und ihn in Deckung bringt (eigene Übersetzung).

Die Analogie zwischen der Explosion der Granate und dem psychologischen Vorgang in Giuseppes Kopf führt das Ausmaß seines Traumas eindrücklich vor Augen. Nach einer radikalen Elektroschocktherapie, die überprüfen soll, ob Giuseppe seinen Zustand nicht nur vortäuscht, um aus dem Kriegsdienst entlassen zu werden, wird der Soldat schließlich zum Invaliden erklärt und nach Hause geschickt. Was tatsächlich im Krieg oder danach in Giuseppes Kopf vorgeht – oder vorgegangen ist –, enthält uns der Erzähler vor: Er positioniert sich als externer Beobachter der Geschehnisse im Alpendorf, wodurch selbst der kurze Exkurs in Giuseppes Kriegsalltag nur möglich wird, da der Ezähler für einen Moment seine Funktion an die »divina Calliope« (125), Homers Muse, übergibt – eine auktoriale Erzählerin, die dem Lesenden Einblick in Giuseppes Schicksal gibt.

Der Erzähler selbst kann lediglich die äußeren Eindrücke der Dorfbewohner, insbesondere die von Giuseppes Frau Lucciola wiedergeben. Als ihr Gatte mit einem Krankentransport im Bergdorf ankommt, hält sie den Fahrer des Transports dazu an, ihren Gatten wieder mitzunehmen, da er nicht mehr er selbst und zu nichts mehr zu gebrauchen sei: »Io avevo un marito e tu mi riporti un pezzo di legno« (124). Der intertextuelle, metaphorische Verweis auf Pinocchio (»ein Stück Holz«) unterstreicht das ganze Ausmaß des Traumas, das Giuseppe nicht nur geistig verwirrt, sondern innerlich regelrecht tot zurückgelassen hat. Durch das chiasmatische Verhältnis von intensivem Traumerleben, das Schutz und Schrecken zugleich ist, und der völligen inneren Leere etabliert der Erzähler in Giuseppes Geschichte eine existentielle Verknüpfung zwischen Traum und Trauma.[2]

Die abschließenden Worte des Kapitels verdeutlichen die Schwere des Traumas und die Dimension des Verlusts:

Questa [è] la storia di Giuseppe Calandron che, pur essendo fisicamente integro, è riuscito ad andarsene dalla Guerra e adesso respira il profumo del fieno appena tagliato, in un paese : il suo paese !, che non è più in grado di riconoscere (DC 127).


Dies [ist] die Geschichte von Giuseppe Calandron, dem es trotz seiner körperlichen Unversehrtheit gelungen ist, dem Krieg zu entkommen, und der nun den Duft von frisch gemähtem Heu einatmet, in einem Land – seinem Land –, das er nicht mehr erkennt (eigene Übersetzung).

Dieser Abschnitt etabliert eine Analogie zwischen Lucciola und Giuseppe. Denn nicht nur Lucciola hat ihren Gatten verloren - er hat sich selbst verloren und vor allem: alles, was sein Leben ausgemacht hat. »Il suo paese«, die Alpen, fassen seine ganze Existenz – von den wenigen Kriegsjahren abgesehen – seine Erinnerungen, seine Familie, sein Dorf. Die Alpen sind immer noch dieselben, im Rhythmus der Jahreszeiten präsentiert sich die Landschaft, die von den Menschen gezähmte Natur immer gleich, hier symbolisiert durch den Duft des frisch gemähten Heus.[3] Diese sinnlichen Assoziationen, die aus der Landschaft erst die Heimat werden lassen jedoch finden gänzlich im Kopf der Einheimischen statt - und den hat Giuseppe im Krieg verloren, wie der Fahrer des Transports wortwörtlich verdeutlich: »E andato via con la testa« (DC 123).

Sophia Mehrbrey

Literatur

Ausgaben

  • Vassalli, Sebastiano: Le Due Chiese. Torino: Einaudi 2010 (zitiert als DC).                                                 

Sekundärliteratur

  • Aust, Hugo: Der historische Roman. Stuttgart,Weimar: Metzler 1994.
  • Barański, Zygmunt G.: Sebastiano Vassalli: Literary Lives. In: Ders./Lino Pertile (Hg.): The New Italian Novel. Edinburgh: Edinburgh UP 1993, 239–257.
  • Caroli, Flavio/Philippe Daverio/Sebastiano Vassalli: Le anime del paesaggio. Spazi, arte, letteratura. Hg. von Fabrizio Schiaffonati. Novara : Interlinea 2013.
  • Kopf, Martina. Alpinismus – Andinismus. Gebirgslandschaften in europäischer und lateinamerikanischer Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler 2016.
  • Holden, Wendy: Shell Shock. The Psychological Impact of War. London: Channel Four Books 1998.
  • Lughofer, Johann Georg (Hg.): Das Erschreiben der Berge. Die Alpen in der deutschsprachigen Literatur. Innsbruck: Innsbruck UP 2014.
  • Nesi, Christina: Sebastiano Vassalli. Fiesole: Cadmo 2005.
  • Nesselhauf, Jonas: Der ewige Albtraum. Zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Paderborn: Fink 2018.
  • Silber, Leonie: Poetische Berge. Alpinismus und Literatur nach 2000. Heidelberg: Winter 2019.
  • Quendler, Christian: Holy Mountain Hollywood. Hölderlin, Fanck und Herzog. In: Monika Fink/Thomas Steppan (Hg.): Heilige Berge – das Heilige der Berge. Regensburg: Schnell & Steiner 2020, 161–173.

Anmerkungen

  1. Zu den Alpen als Erinnerungsspeicher vgl. Lughofer 2014, 8–14; Quendler 2020.
  2. Zu Traum und Trauma bei Kriegsheimkehrerfiguren in der Literatur vgl. Nesselhauf 2018, 55–57.
  3. Zu Vassallis Landschaftskonzeption vgl. Caroli, Daverio, Vassalli 2013.


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Mehrbrey, Sophia: "Le due chiese" (Sebastiano Vassalli). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Le_due_chiese%22_(Sebastiano_Vassalli).