Martin Luther: Traumtheorie

Aus Lexikon Traumkultur
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Martin Luther (um 1555).

Die Geschichte des Traumes in der reformatorisch geprägten Frömmigkeit des frühneuzeitlichen Deutschland ist nicht ohne das Nebeneinander unterschiedlicher Bewertungen des Traums durch die Reformatoren zu verstehen (vgl. Weiß 2008, Gantet 2010). Zugleich ist auf die Attraktivität des Traumwissens der Griechen für die gelehrten Humanisten zu verweisen (Alt 2002, 55), sodass im 16. Jh. Unterschiede zwischen den Konfessionen wie auch zwischen den Bildungsschichten nicht von vornherein entscheidend sind. Traumdeutung und Traumkritik blühten bekanntlich schon vor der Reformationszeit. Sebastian Brant hatte in seinem Narrenschiff (1494) im 65. Kapitel die Blüte magischer Praktiken wie auch der Astrologie und der Traumdeutung als Zeichen für Unglauben angesehen, drang damit aber nicht wirklich durch, ebensowenig die Kritik des Florentiners Savonarola an solchen Praktiken [1], wie auch die Wirkung der Traumkritik Ciceros (Cicero 1991, II, 121–135) beschränkt blieb.

Martin Luther (1483-1546) hat teil an voraufklärerischen theologischen Voraussetzzungen für das Reden von Träumen: Traumerzählungen der Bibel werden vorbehaltlos als wahr anerkannt und nicht als literarische Einkleidung des jeweiligen Verfassers für ihre Ideen verstanden. Zu beachten ist allerdings: Auf alttestamentliche Traumszenen wird im Neuen Testament nicht Bezug genommen. Jesus und die Apostel werden nicht durch Träume oder Traumdeutung legitimiert; zur antiken Traumtheorie trägt das Neue Testament nichts bei. Wohl aber hat das Neue Testament teil an dem traumkritischen Diskurs klassisch-biblischer Prophetie (vgl. Jeremia 23,9–40): Gegnerische Lehren werden schon in einer Spätschrift des Neuen Testaments, im Judasbrief (Vers 8) als "Träume" bezeichnet.

Physiologische Voraussetzungen der Traumauffassung Luthers

Die physiologischen Voraussetzungen des Redens vom Traum bei Luther sind schnell benannt. Luther geht davon aus, dass im Schlaf die Sinnesorgane nicht tätig sind, dass sie der Mensch im Schlaf nicht benutzt (WA 42, 555,35–38). Luther kann auch ähnlich wie Platon sagen: "Im Schlaf schläft der Leib, doch die Seele wacht" (WA 24, 510,29 f.; vgl. Platon 1983, 66 = Phaidros 245c; später Clemens von Alexandria 1972, 207 = Paedagogus II 82,1 f.). Gelegentlich, etwa in der Auslegung zu Kohelet 5,1, verweist Luther auf Tagesreste. Wo tagsüber viele Sorgen und Überlegungen quälen, folgen bei Nacht vielerlei Träume, auch nach dem Urteil der Ärzte (WA 20, 90,30 f.): "Ubi multae cogitationes […] ibi multa somnia" (Wo es viele Gedanken gibt, gibt es viele Träume; WA 20, 95,33; vgl. WA 40.II, 253,4). Das betrifft auch sexuelle Träume (WA 43, 303,17). Das Verständnis des Traumes als Tagesrest kann auch zum Tragen kommen, wenn Luther auf Cato verweist. Dort heißt es: "Somnia ne cures, nam mens humana, quod optat/ Dum vigilans sperat, per somnum cernit id ipsum" ((Um Träume kümmere dich nicht, denn was der menschliche Geist sich wünscht, erhofft er, während er wach ist, sieht es aber [bereits als wirklich] im Traum; Cato, Disticha II, 31). Luther zitiert dabei die ersten drei Worte (WA 43, 592,7 f.), und man kann fragen, ob der Kontext bei Cato für Luther entscheidend ist. Diese physisch bedingten Träume interessieren Luther nicht wirklich; er verweist zu deren Verständnis kurzerhand auf Macrobius (WA 44, 248,25–30).

Biblische Traumkritik bei Luther

Auffällig ist die überwiegend negative Konnotation des Wortfeldes "Traum" bei Luther. Der Traum steht für unvollkommene Erkenntnis (WA 11, 19,8; 24, 342,10; 39.I, 346,25), die den Abstand zwischen Gott und Mensch verkennt (WA 24, 242,21), für das, was man sich einbildet, was im Gegensatz zur Wahrheit des biblischen Wortes steht (WA 11, 34,20; 14, 23,28), ist menschlicher Traum, nicht göttliches Wort (WA 39.I, 420,24). Es verwundert nicht, dass Luther, dem Vorbild des Judasbriefes folgend (Judas 8), die Lehren der altgläubigen Gegner (WA 6, 630,1; 25, 14,7; 39.I, 420,24; 40.I, 231,20 u. 274,19; 40.II, 424,34 u.ö) wie der Dissidenten in den eigenen Reihen als nur menschliche Träume verwirft (WA 28, 461,36; WA 29, 163,21; 36, 323,29 u.ö).

In einer Vorlesung von 1527 zum Ersten Johannesbrief heißt es: Gott wollte uns nicht in ähnlicher Weise erscheinen wie den Aposteln, sondern begegnet uns im Wort der Heiligen Schrift. Damit nicht zufrieden sein zu wollen, heißt, Gott versuchen – da wirkt der Teufel. Nach einer Anspielung auf 2 Korinther 11,14 ("Der Satan verkleidet sich als Engel des Lichtes") bekennt Luther freimütig: "Ego nulli somnio vel visioni credo" (Ich glaube weder einem Traum noch einer Vision; WA 20, 787,21; ähnlich WA 42, 667,28–35). Ähnlich erklärt Luther in seiner Genesisvorlesung: "Somnia […] ego nec curo, nec desidero" (Träume […] ich kümmere mich nicht darum, ersehne sie auch nicht; WA 44, 246,17). Es kann einfach heißen: Träume sind trügerisch (WA 44, 251,1–9, mit Verweis auf Jesaja 29,8), Träume sind Lügen (WA 29, 376,20).

Von daher gelangt Luther zu einer völligen Ablehnung von Traumbüchern: "Dass man aber darauff felt [darauf hereinfällt], und wie etliche Narren gethan haben, bucher da von gemacht hat, ist nichts denn trigery [Betrug]. Es kann niemand eine konst [Kunst] daraus machen, sie gilt auch nichts" (WA 15, 621,9–11).

Luthers Auslegungen biblischer Traumerzählungen

An vier Stellen in Luthers Gesamtwerk, jeweils in der Behandlung traumbejahender Passagen in der Bibel, nämlich zu Apostelgeschichte 16,9 f. (WA 15, 619–622), Genesis 40 (WA 24, 640–644); Genesis 28 ( Der Traum mit der Jakobsleiter; WA 43, 591–594) und Genesis 37 (die Träume Josephs; WA 44, 246–251), finden sich längere Ausführungen Luthers zum Thema Traum. Auch sie sind von der generellen Skepsis des Reformators gegenüber dem Traum geprägt. Kritik wird an Jakob nicht wegen seines Betrugsverhaltens, an Joseph nicht wegen seines Hochmutes geübt; es geht um die fehlende Verlässlichkeit eines Traumes.

Wie in Ansätzen bereits Johannes Chrysostomus (Homiliae in Matthaeum 4,5, PG 57, 45) ordnet Luther den Traum ein in eine dreifach gestufte Hierarchie dessen, wie sich Gott mitteilen kann: durch Weissagung, durch Vision und durch Träume (WA 29, 375,31–376,15; 42, 555,18–40; 44, 247,8–13). Weissagung ergeht in klaren Worten; Visionen bedürfen der Deutung; Träume bedürfen darüber hinaus der Klärung ihrer Herkunft. Anlass zu dieser dreifachen Stufung geben Numeri 12,6 ("Wenn unter euch ein Prophet ist, dann will ich, der Herr, mich ihm kundmachen in Gesichten oder mit ihm reden in Träumen") und Joel 3,1 ("Und nach diesem will ich meinem Geist ausgießen über alles Fleisch, und eure Söhne und Töchter sollen weissagen, eure Alten sollen Träume haben, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen"). Allerdings hält Luther auch in der Auslegung der genannten traumbejahenden Passagen fest, dass Träume auch vom Teufel stammen können; er kann nicht nur falsche, sondern auch wahre Träume schicken, d.h. Träume, die in Erfüllung gehen (WA 44, 247,25–248,24; die in antiker römischer Literatur erwähnten Träume [Luther kommt auf Hannibals Traum bei Livius, 21,22 zu sprechen] sind vom Teufel geschickt). Deshalb enthält die Bibel neben den traumbejahenden auch traumkritische Passagen wie Deuteronomium 13,2–6; Sirach 34; Kohelet 5,6 etc.

Wie soll der Mensch entscheiden, ob ein Traum von Gott oder vom Teufel stammt? Luther gibt zwei Antworten: (1) Die von Gott gesandten Träume werden von Gott selbst gedeutet, während bei den vom Teufel gesandten Träumen keine Deutung mitgegeben wird (WA 44, 249,15–23). (2) Ob Träume von Gott oder von dem Teufel kommen, kann man nicht lehren, sondern muss man auf der Basis von Erfahrung erkennen, nämlich, dass man des Glaubens des Evangeliums gewiss ist (WA 15, 620,18–22). Die Träume also sind nach der analogia fidei ("Analogie des Glaubens"; WA 29, 375,31–376,15; 44, 247,18 f.) zu beurteilen, d.h. ob sie "dem Glauben ähnlich" (WA 15, 620,25), d.h. mit dem Wort der Heiligen Schrift in Einklang zu bringen sind oder nicht (WA 43, 593,26; 44, 251,36–41). Das aber ist Werk des Heiligen Geistes. So kann Paulus den Traum, in dem ihn der Mann aus Makedonien zur Überfahrt nach Europa auffordert (Apostelgeschichte 16,9f.) im Heiligen Geist deuten und ihm Folge leisten, weil die Bitte des Mannes seinem generellen Auftrag, das Evangelium zu predigen, durchaus entsprach (WA 15, 621,29–35).

Bei der Behandlung von Gen 40,16 (der oberste Bäcker fühlt sich durch Josephs Gutes verheißende Deutung des Traums des Obermundschenks dazu veranlasst, auch seinen Traum zu erzählen, den Josef dann aber als Hinweis auf seine bevorstehende Hinrichtung deutet) findet Luther zu einer Exegese, die geradezu rezeptionsästhetische Fragestellungen vorwegnimmt. Die genannte Stelle gibt Luther Anlass zur Frage: Warum steht das in der Bibel? Luthers Antwort: "Eben darum, dass man auf Träume nicht baue" (WA 24, 641,26 f.; Orthographie modernisiert). Die Regel Gen 40,8 "Auslegen ist allein Sache Gottes" heißt für Luther: Wem Gott einen Traum gibt, dem gibt er auch den Verstand, ihn zu deuten (WA 24, 641,34–642,5). Man soll nicht auf Träume achten, d.h. sich nicht anmaßen, sie richtig auszulegen; die Träume, die Gott geschickt hat, wird er selbst auslegen (WA 24, 642,32–34).

Nicht sehr häufig werden positive Traumerzählungen ohne weitere Vorbehalte ausgelegt. Als ein Beispiel seien die beiden Träume des jugendlichen Joseph nach Genesis 37 genannt. Sie bedeuten nach allegorischer Auslegung den Verweis der Patriarchen und Propheten auf Christus und das Neue Testament (WA 24, 616,28–32); nach wörtlicher Auslegung weisen sie auf die kommende Karriere in Ägypten voraus, wo seine Brüder ihn tatsächlich um Quartier bitten müssen, aber sie erfüllen sich nicht geradewegs; dass sie sich erfüllen werden, ist zunächst nicht am Schicksal ablesbar (WA 24, 682,16–18).

Biographische Voraussetzungen bei Luther

Wie kommt es zu dieser traumkritischen Haltung bei Luther? Im Sinne einer Begründung in Luthers Biographie hat Ulman Weiß darauf verwiesen, dass Luther das Erlebnis in Stotternheim, das ihn zu dem Entschluss geführt hat, ein Mönch zu werden, in späterer Zeit durch sein eigenes Verhalten (er trat aus dem Kloster aus und heiratete) faktisch als Blendwerk interpretiert habe (Weiß 2008, 229). So gewiss Luther die auch von ihm während seiner Klosterzeit vertretene Meinung, dass bestimmte kirchliche Zeremonien den Menschen näher zu Gott bringen, als Traum charakterisieren kann (WA 24, 562,21), so selten bringt Luther seine kritische Haltung zum Thema Traum unmittelbar mit der Korrektur des genannten Erlebnisses in Verbindung.

Abschließend lässt sich zu Martin Luther sagen: Innerhalb des voraufklärerischen Weltbildes, das Luther fraglos teilt, gelangt er zu einer Position größter Kritik, wie sie bei Anerkennung der auch historischen Irrtumslosigkeit der Bibel überhaupt möglich ist. Das Ergebnis ist vor allem durch Vergleich biblischer traumkritischer wie traumbejahender Passagen gewonnen; ein Urteil jenseits eines bloßen Erfahrungswissens, das unabhängig von den biblischen Texten her erfolgt, lässt sich bei Luther nicht belegen.

Martin Meiser

Ausgaben, Primär- und Forschungsliteratur

  • Luther, Martin: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von J.K.F. Knaake u.a. Bd. 1–58, Weimar: Böhlau 1883–2009; zitiert als WA mit Angabe von Band, Seite und Zeile.


  • Platon: Werke. 8 Bde. Griech.-dt. Hg. von Gunther Eigler. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bd. 5: Phaidros. Parmenides. Briefe. Bearbeitet von Dietrich Kurz. 1983.
  • Cicero: Über die Wahrsagung / De divinatione. Lat.-dt. Hg., übers. und erl. von Christoph Schäublin. München: Artemis und Winkler 1991.
  • Macrobius: Commentaire au Somne de Scipion, Tome I. Livre I. Hg., übers. u. komm. von Mireille Armisen-Marchetti. Paris : Les belles lettres 2001, 2. Aufl. 2003.
  • Clemens von Alexandria: Paedagogus. Hg. von Otto Stählin, 3. Aufl. Hg. v. Ursula Treu (Griechische Christliche Schriftsteller 12). Berlin: Akademie 1972, 87–292.
  • Johannes Chrysostomus: Homiliae in Matthaeum; Patrologiae Cursus Completus (Series Graeca, Vol. 57). Paris: J.P. Migne 1862.


  • Alt, Peter-André: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München: Beck 2002.
  • Bernhardt, Oliver: Gestalt und Geschichte Savonarolas in der deutschsprachigen Literatur. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016.
  • Gantet, Claire: Der Traum in der frühen Neuzeit. Ansätze zu einer kulturellen Wissenschaftsgeschichte, Berlin, New York: de Gruyter 2010.
  • Weiß, Ulman:, Traumglaube und Traumkritik im älteren deutschen Luthertum. Eine Skizze. In: Peer Schmidt / Gregor Weber (Hg.): Traum und res publica. Traumkulturen und Deutung sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock. Berlin: Akademie 2008, 227–256.


Anmerkungen

  1. Oliver Bernhardt: Gestalt und Geschichte Savonarolas in der deutschsprachigen Literatur. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, 33 mit Anm. 45


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Meiser, Martin: Martin Luther: Traumtheorie. In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2017; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/Martin_Luther:_Traumtheorie.