"Les bagages de sable" (Anna Langfus, geb. Szternfinkiel)
Kurzerläuterung
Les bagages de sable (dt. Gepäck aus Sand) ist ein 1962 erstmals veröffentlichter Roman der polnisch-französischen Schriftstellerin Anna Langfus (geb. 2. Januar 1902 in Lublin, gest. 12. Mai 1966 in Paris). Er erzählt von den Versuchen der Protagonistin, als Shoah-Überlebende in der Nachkriegsrealität Fuß zu fassen. Traumberichte und traumhaftes Erzählen spielen in diesem Roman eine wichtige Rolle für die Darstellung traumatischer Erfahrung.
Autorin und Gesamtwerk
Die heute weitgehend unbekannte Autorin Anna Langfus wächst in einer assimilierten jüdischen Familie in Polen auf, studiert Mathematik in Belgien und wird kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bei einem Ferienaufenthalt in Polen zusammen mit ihrem Ehemann in das Ghetto Lublin deportiert. Es folgen weitere Verhaftungen und Internierungen. Als einzige Überlebende ihrer Familie lässt sie sich ab 1946 in Frankreich als Mathematiklehrerin nieder. Langfus zählt zu den wenigen Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren literarischen Arbeiten die Shoah auf ausdrücklich fiktionale Weise verarbeiten (Friedemann 2007, 112). Langfus’ Texte sind kaum erforscht. Systematische Studien zum Traum liegen daher bislang nicht vor. Eine Ausnahme bilden Schubert 2001 und Klein 1991, die sich beide mit Träumen in einem anderen Roman von Langfus, nämlich Le Sel et le soufre, beschäftigen. Langfus’ Werk umfasst – neben zwei Theaterstücken, Hörspielen, essayistischen Beiträgen zum Judentum und zum Gedenken an die Shoah – vor allem drei Romane, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit den Erfahrungen von Verfolgung, Vernichtung und Überleben auseinandersetzen. Les bagages de sable bildet zusammen mit den Romanen Le sel et le soufre (dt. Salz und Schwefel) von 1960 und Saute, Barbara (bisher nicht ins Deutsche übersetzt) von 1965 eine Art Trilogie: In jedem Werk geht es um Shoah-Überlebende, die ihr Weiterleben als eine unerträgliche Qual empfinden. Während die Hauptfigur von Le sel et le soufre der Judenverfolgung persönlich im Warschauer Ghetto und in den Gefängnissen der Gestapo ausgesetzt ist, handelt Saute, Barbara von einem Mann, der in den Ruinen Berlins ein Kind entführt, das ihn an seine ermordete Tochter erinnert.
Werk (Überblick)
In Les bagages de sable irrt eine junge Frau nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als einzige Überlebende ihrer Familie durch eine Großstadt und trifft dort zufällig auf einen älteren Mann, mit dem sie einige Zeit in einem südfranzösischen Ferienhaus verbringt. Träume bilden die entscheidende Verbindung der Hauptfigur zu ihren ermordeten Familienangehörigen. Der Roman wurde im Jahr seiner Veröffentlichung mit dem bekanntesten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet.
Die Träume
Traumerzählungen, traumhaft-halluzinatorische Episoden und alptraumartige Wahrnehmungen der Protagonistin Maria stellen ein durchgehendes Erzählprinzip des Romans dar. Regelmäßig erscheinen der Hauptfigur im Traum oder in Visionen die im Konzentrationslager ermordeten Eltern und eine weitere geliebte Figur (Langfus 1962, 10, 47, 158, 204 u.a.). Diese wird in der nur spärlich vorhandenen Forschung aufgrund einer (meist unreflektiert erfolgenden) autobiographischen Deutung des Romans meist als Ehemann identifiziert (z.B. Friedemann 2007, 124), auch wenn der Text selbst diesbezüglich nicht eindeutig ist und vieles für den Bruder spricht. Zentrale Themen solcher Träume sind das eigene Schuldgefühl, als einzige die Shoah überlebt zu haben, aber auch der Vorwurf des erzählenden Ich an die Angehörigen, von ihnen verlassen worden zu sein. In weiteren Alp- und Fieberträumen (Langfus 1962, 52, 65, 66) bricht die Vergangenheit in die Gegenwart der Erzählerin ein. Wichtige Motive sind etwa Gebäude, in denen Menschen und Tiere verbrennen (Langfus 1962, 51), die Folter eines Babys durch die Gestapo (Langfus 1962, 110) oder das Foto eines deportierten Kindes, das helfen soll, die Bedrohung durch deutsche Soldaten abzuwenden (Langfus 1962, 36, 37). Die erzählten Träume sind selten eindeutig als solche markiert. Jedoch werden sie zumeist gerahmt, etwa durch die Situation des Einschlafens (Langfus 1962, 36), eine nachträgliche Fieberdiagnose (Langfus 1962, 67) oder den Anbruch eines neuen Tages (Langfus 1962, 85). Auch der Bericht von zunehmender Müdigkeit oder die direkte Verbindung mit Tagesresten aus zuvor erzählten Episoden (Langfus 1962, 37) legen es nahe, bestimmte Passagen als Träume zu lesen. Die Protagonistin selbst hat allerdings aufgehört, zwischen Wirklichkeit und Imagination zu unterscheiden („il y a longtemps que je ne distingue plus entre ce que j’imagine et ce que je fais“, Langfus 1962, 13). Auch die Wachwelt der Hauptfigur ist daher von einer traumhaften, halluzinatorischen Wahrnehmung geprägt. Damit geht ein grundsätzlicher Zweifel an der Realität bzw. der Eindruck einer Entwirklichung der eigenen Existenz einher. Beispielhaft präsentiert werden im Folgenden ein nächtlicher Alptraum und demgegenüber eine Situation, in der die Wirklichkeit als traumhaft erlebt wird.
Der KZ-Traum
Situierung
Der knapp fünfseitige Traum wird im ersten Drittel des Romans erzählt (Langfus 1962, 62-64) und schließt direkt an einen Ausflug der Hauptfigur mit ihrem neuen Bekannten an. Diese Fahrt ins Grüne ist die bisher einzige Episode, in der die Protagonistin ihr Leben für einen kurzen Moment nicht als Qual erlebt hat. Die Ich-Erzählerin kehrt erschöpft nach Hause zurück, legt sich angekleidet ins Bett und nimmt im Übergang zwischen Wachzustand und Schlaf eigenartige Körpersymptome und sich merkwürdig verschiebende Objekte in ihrer Umgebung wahr: Der Klang aus dem Bett fallender Schuhe dröhnt schmerzlich im Kopf, der Leib zittert trotz der Sommerhitze, im Kiefer haben sich zu viele Zähne ausgebreitet, die Glühbirne im Zimmer verwandelt sich in eine schrille Feuerglocke. Der Mann, der plötzlich an ihrer Bettkante sitzt und von dem der nun einsetzende Traum handelt, entpuppt sich während des späteren Aufwachens als Arzt, der eine schwere Erkrankung seiner Patientin feststellt. Als die Erzählerin vollständig erwacht ist, hat sich die Gestalt des Arztes in diejenige ihres Bekannten verwandelt, der sie darüber aufklärt, wie lange sie geschlafen hat (Langfus 1962, 67).
Beschreibung
Der eigentliche Traum setzt mit dem Anblick des unbekannten Mannes an der Bettkante der Erzählerin ein (Langfus 1962, 63). Als sie vergeblich versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen, bemerkt sie, dass an ihrem Rücken ein schwerer Stein hängt, dessen Gewicht sie nach unten zieht. Dieser Stein ist mit einem Seil an ihrem Hals befestigt und nimmt ihr die Luft zum Atmen. Auf den Vorwurf, dass das Gegenüber sie derart gefesselt habe, reagiert der Mann, indem er ihr zeigt, dass er seinerseits unter derselben Last leidet. Es folgt ein Disput darüber, wer wem dieses Leid zugefügt habe, bevor die Träumerin versucht, den Anderen, der plötzlich Ähnlichkeit zu ihrem Vater aufweist, mit einem Messer zu befreien. Doch die Träumerin muss feststellen, dass es sich bei dem Seil um eine lebendige, pulsierende, beide miteinander verbindende Vene handelt, die schließlich zur Schnur der im Zimmer baumelnden Alarmglocke wird. In einer zweiten, direkt anschließenden Traumepisode wechselt die Szenerie in ein Klassenzimmer, in dem die Träumerin in eine bedrohliche Prüfungssituation versetzt wird (Langfus 1962, 64). Sie soll die Namen von Konzentrationslagern aufsagen, während sie bemerkt, dass sie mit unziemlichen Schuhen bekleidet ist, die ihre Verhaltensnote herabsetzen könnten. Obwohl sie gut vorbereitet und sich keiner Schuld bewusst ist, wird sie von ihrem Lehrer vor der Klasse bloßgestellt: Es sind alleine die Namen und Zahlen der Konzentrationslager gefragt, sie hingegen möchte sämtliche Details nennen, die „keinen Menschen interessieren“ (Langfus 1962, 65). Ihr fehlerhaftes Betragen wird mit den unerlaubten Schuhen erklärt, und sie selbst weiteren Vorwürfen ausgesetzt; etwa sich im Konzentrationslager falsch verhalten zu haben oder den Namen eines geflohenen Häftlings zu verschweigen. Der Traum endet mit einer zusätzlichen Demütigung: Während der deutsche Lehrer sie ohrfeigt, bittet sie unterwürfig um eine gute Zensur (Langfus 1962, 66).
Analyse und Interpretation
Zentrales Thema des präsentierten Traumes ist die Last der Vergangenheit, die hier als ein Stein erscheint, der mit einem nabenschnur-ähnlichen Seil am Körper fixiert wurde. Der subjektive Eindruck schuldhafter Verstrickung der Überlebenden in den Genozid wird in Szene gesetzt, indem die Träumende nicht nur selbst an der Belastung zu ersticken droht, sondern zugleich untrennbar an die deportierte Vater-Figur gebunden bleibt. Die gegenseitigen Vorwürfe zweier unschuldig Verfolgter und im Leid aneinander geketteter Opfer kulminieren in der Behauptung des Gegenübers, Stein und Seil existierten in Wirklichkeit gar nicht: Die Shoah ist also zugleich an- und abwesend, sichtbar und unsichtbar, real und irreal – in ihrer lähmenden Wirkung wird sie jedoch als lebensbedrohlich erlebt. Während der erste Teil der Traumepisode durch einfache, symbolisch allerdings hoch aufgeladene Bilder konstruiert ist, erzählt die zweite von einer schulischen Alltagssituation, in der Schuld und Versagen sehr viel konkreter zur Sprache gebracht werden. Es handelt sich hier insofern um einen Meta-Traum über das Trauma der KZ-Erfahrung, als die Erinnerung an den Genozid Thema einer Schuldstunde ist. Hier stehen sich zwei unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegenüber: Der Lehrer, der offensichtlich der Täterseite angehört, verlangt allgemeine Daten und Fakten und lässt keine Antworten jenseits des „règlements“ (Langfus 1962, 64) zu. Das detailreiche Wissen der Schülerin, das sich aus persönlicher Erfahrung speist, findet demgegenüber kein Gehör. Im Raum steht dabei die ambivalente Forderung „de savoir sa leçon“ (Langfus 1962, 65): Die Formulierung kann das Konzentrationslager als abstrakten, historiographischen Schulstoff meinen oder aber das Gebot, die Lehre aus der Vergangenheit zu ziehen und das Wissen über die Shoah damit im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Zahlreiche Motive des Traumes spielen auch in der Wachwelt der Protagonistin eine wichtige Rolle und bilden insgesamt eine weitläufige Verweisstruktur innerhalb des Romans: Dazu zählen etwa das diffuse Schuldgefühl, am ‚normalen’ Leben teilzuhaben, der schmerzende Strahl der Sonne oder einer anderen Lichtquelle, der wie ein Alarmsignal empfunden wird, das mühselige Treppensteigen oder der Eindruck, an zu schwerem Gepäck zu ersticken. Besonders die beiden letzten Motivkomplexe sind in auffälliger Anlehnung an die antike Mythologie gestaltet: Platons Höhlengleichnis handelt von der Mühe und der Qual desjenigen, der sich, einsam die Höhle verlassend, ans Licht bewegt, um einer schmerzhaften Wahrheit ins Auge zu blicken, die bei allen anderen auf Ablehnung und Unglauben stößt. Die unerträgliche Last, die immer wieder von neuem gestemmt werden muss und das Leben zu einer quälenden Abfolge sich stets wiederholender Tage macht (vgl. auch Langfus 1962, 47, 49), erinnert darüber hinaus an die Figur des Sisyphos: Zum ewigen Lastenschleppen verdammt, kann er sich seinem Schicksal nicht entziehen, selbst wenn er, wie die Protagonistin des Romans, den Tod vorziehen würde.
Die Ferienidylle als Traum
Situierung
Das schmerzende Licht der Sonne, der Transport von Gepäck und der vergebliche Gedanke an Selbstmord spielen auch in jener fünfseitigen Passage eine wichtige Rolle, die von der Ankunft des ungleichen Paares in ihrem Ferienort erzählt (Langfus 1962, 77-81). Eingerahmt wird sie von scheinbar eindeutigen Traummarkierungen: zu Beginn durch das Einschlafen im Zug, der gen Süden rollt, sowie den Eindruck der Ich-Erzählerin, im Schlaf die bislang bekannte Welt zu verlassen: „Mon sommeil m’a fait glisser hors du monde que j’ai jusqu’ici connu“ (Langfus 1962, 77). Am Schluss der Episode erkundigt sich der Begleiter bei der Protagonistin, ob sie gut geschlafen habe (Langfus 1962, 81). Außerdem tragen mehrere bereits zuvor erzählte Träume dazu bei, auch diese Episode als Traum zu lesen. Rückwirkend allerdings, wenn die Erzählung nämlich mit dem Aufenthalt im Ferienhaus und einem Restaurantbesuch fortfährt, lässt sich erkennen, dass der Zug inzwischen tatsächlich angekommen ist, die beiden Figuren also wirklich ausgestiegen sind und den Weg vom Bahnhof zu ihrem Domizil zurückgelegt haben, wo die Hauptfigur erschöpft ins Bett fällt. Ein weiteres wichtiges Moment der Situierung ist der Beginn der Zugreise, von dem unmittelbar zuvor berichtet wird. Hier werden offensichtlich traumatische Erfahrungen der Protagonistin evoziert: die halluzinierte Begegnung mit dem ermordeten Geliebten, der ihr Vorwürfe angesichts der bevorstehenden Reise macht, ein anschließender Weinkrampf, die Angst vor der Kontrolle durch Bahnbeamte und einer möglichen Verhaftung oder vor dem Signal und dem Rauch der Züge, die wie träumende Tiere wirken. All diese Elemente stellen die Episode in einen motivisch-assoziativen Kontext der Deportation.
Beschreibung, Analyse und Interpretation
Die Passage fährt mit einem abrupten Szenenwechsel fort, der eine traumhafte Landschaft präsentiert. Das erzählende Ich durchquert eine Idylle, die als gänzlich irreal erlebt wird. Alle Elemente der Umgebung scheinen künstlich und einer auf Illusion angelegten Theaterszenerie anzugehören: Die Kleidungsstücke der Passanten wirken wie Kostüme, Sonne, Himmel und Landschaft wie gemalte Kulissen, die Häuschen als seien sie aus Pappmaschee angefertigt (Langfus 1962, 79). Auch Formulierungen wie „décor“, „travesti“, „figurants“, „scène géante“ und „spectateurs“ (Langfus 1962, 77, 78) unterstreichen den theaterhaften Eindruck. Das erzählende Ich entscheidet sich, selbst zur Mitwirkenden an diesem „recht lustigen Stück“ (Langfus 1962, 78) zu werden. Auch wenn ihr die Rolle fremd bleibt, versucht sie, diese gut zu spielen (ebd.). Zugleich nimmt sie aber die konventionelle Rolle der Zuschauerin ein: Einerseits erliegt sie der Illusion des Theaters, andererseits weiß sie genau, dass es sich dabei um eine Illusion handelt: „Bien sûr, je ferai semblant de croire que ce ciel est un vrai ciel“ (ebd.). Über die Theatermetapher hinaus werden auch andere Formen des Ästhetisch-Künstlerischen mit der Wahrnehmung der Wirklichkeit in Verbindung gebracht: Sie erscheint wie ein gemaltes Bild („une belle toile peinte“, Langfus 1962, 79) oder ein Film, der von einem „projecteur monstre“ (Langfus 1962, 78) abgespielt wird. Doch in dieser Passage wird nicht nur die Umgebung wie ein Traum erlebt. Das Wahrgenommene wird zugleich auch als traumhaft reflektiert: Die Bäume werden als „arbres de songe“ bezeichnet, die „végétation“ als „imaginaire“ (ebd.) und die Umgebung als ein Treibhaus, in dem sich Jahrhunderte alte, von Kinderbildern überlagerte Träume angesammelt haben. Im Zusammenhang mit dem Eindruck des erzählenden Ich, sich durch die Verdichtung unzähliger bereits zuvor geträumter Träume zu bewegen, ist vor allem der Schluss der Passage bedeutsam. Die Erzählerin ist von der Wirklichkeit derart entfremdet, dass sie sich letztlich selbst als unwirklich erlebt: Weil ihr beim Einschlafen die Geräusche im Haus irreal vorkommen, erwägt sie die These, dass auch sie selbst gar nicht wirklich existiert, sondern nur eine Gestalt aus den Träumen der Toten ist. Im Bett liegend, nimmt sie allerdings noch die Decken-Balken des wirklichen Schlafzimmers als gute Möglichkeit war, um sich daran aufzuhängen, bevor sie tatsächlich einschläft.
Einordnung
In mehrfacher Hinsicht können die Träume im Werk Anna Langfus’ als paradigmatisch für die literarische Auseinandersetzung mit einer traumatischen Erfahrung, genauer, dem Überleben der Shoah, gelten: Die beiden präsentierten Passagen sind Beispiele dafür, wie in Langfus’ Roman das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit umgekehrt wird: Was Wirklichkeit ist, wird erlebt wie ein Traum; die Träume selbst hingegen erscheinen ausgesprochen realistisch und sind für die Träumende auch nachträglich nicht von der Wachwelt zu unterscheiden. Für die Figur sind Schlafträume, traumatische Erfahrung, traumhafte Wahrnehmung der Wirklichkeit und Selbstentfremdung untrennbar miteinander verflochten (Klein 1991, 517). Eine solche Verflechtung wird zusätzlich auf der formalen Ebene des Textes erreicht, und zwar durch die zahlreichen Traum-Motive, den Titel, das Ende (v.a. Langfus 1962, 236) und das Motto des Romans, die sich jeweils auf das Gedicht „La mort rose“ aus der Gedichtsammlung Le Revolver aux cheveux blancs von André Breton aus dem Jahre 1932 beziehen. Die Protagonistin selbst hat den Eindruck, nur in den Träumen Verstorbener zu existieren. Diese Erfahrung einer fundamentalen Entwirklichung findet sich auch in zahlreichen weiteren Texten über die Shoah. Als „être fictif“ (Langfus 1962, 81) geistert die Überlebende durch die Häuser der Opfer und wird so zu einer Art Gespenst; einem „revenant“ im wörtlichen Sinne: einer Wiedergängerin, die sich zwischen den Welten und Zeiten bewegt (Weinberg 1999, 175). Die gänzlich unwahrscheinliche Erfahrung, die Shoah überlebt zu haben, lässt sich für Langfus nicht vermitteln (v.a. Langfus 1962, 22-28 und Langfus 1963) – zumindest nicht als linearer, rational nachvollziehbarer Erfahrungsbericht. In Alpräumen, flash-backs und dem Eindruck traumhafter Wahrnehmung der Wirklichkeit hingegen – also jenseits einer ‚realistischen’ Darstellung (vgl. Schubert 2001, 343) – ist sie über den gesamten Roman hinweg präsent.
Literatur
Ausgaben / Quellen
- Anna Langfus: Les bagages de sable, Paris: Gallimard 1962.
(= zitierte Ausgabe)
- Anna Langfus: Les bagages de sable, Paris: Gallimard 1981 (Folio 1283).
(= Taschenbuchausgabe)
- Anna Langfus: Gepäck aus Sand, aus dem Französischen übersetzt von Yvonne Meier-Haas, München: Piper 1964.
(=deutsche Übersetzung)
- Anna Langfus: « Un crime ne s’imprime pas ». Discours inédit prononcé devant la WIZO en mars 1963. In : Les nouveaux cahiers 101, été 1990, S. 42.
Forschungsliteratur
- Clark Schaneman, Judith : « Writing to survive : The Novels of Anna Langfus », in : Women in French Studies 9 (2001), S. 92-105.
- Friedemann, Joe: Langages du désastre, Saint Genouph: Nizet 2007, S. 107-141.
- Klein, Judith: „An unseren Schläfen perlt die Angst. Traumberichte in der Lager-Literatur“, in: Psyche 6 /45 (1991), S. 506-521.
- Levi, Clara: « La guerre dans les textes littéraires d’Anna Langfus : la mise à distance de l’expérience », ds : Esprit Créateur 40.2 (2000), S. 52-60.
- Mesnard, Philippe: „Ecritures d’après Auschwitz“, ds: Vox Poetica. Lettres et Sciences humaines (sans page: www.vox-poetica.org/t/articles/mesnard.html, 17.6.2016).
- Schubert, Katja: Notwendige Umwege / Voies de traverses obligées, Hildesheim: Olms 2001, zu Langfus’ Roman Le sel et le soufre: S. 340-348.
- Stistrup Jensen, Merete : « Genre littéraire et récits issus de l’expérience concentrationnaire : l’exemple d’Anna Langfus », in : id. et al. : Frontières de genres, migrations, transferts, transgressions, Lyon : PUL 2005, S. 157-172.
- Weinberg, Manfred: „Trauma – Geschichte, Gespenst, Literatur – und Gedächtnis“, in: Bronfen Elisabeth / Weigel, Sigrid u.a. (éd.): Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln: Böhlau 1999, p. 173-206.