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===Zu Material und Komposition===
 
===Zu Material und Komposition===
Alle drei Abschnitte von ''„Hay que caminar“ sognando'' verwenden ähnliches klangliches Material: In beiden Violinen werden hauptsächlich lang ausgehaltene Einzeltöne oder Zweiklänge in überwiegend sehr leiser, zum Teil bis zum siebenfachen ''piano'' zurückgenommener Dynamik komponiert, die gelegentlich durch dynamisch und gestisch hervorgehobene Klangereignisse unterbrochen werden. Das vorgeschriebene Tempo wechselt in ''Leggio 1'' und ''Leggio 2'' je mehrfach zwischen Viertel = ca. 30 und Viertel = ca. 72 und wird zum Teil durch ''accelerandi'' oder ''rallentandi'' beschleunigt oder verlangsamt. In ''Leggio 3'' sind zunächst häufig – und auch innerhalb der Takte – wechselnde Tempi vorgezeichnet; ab Takt 12 steht die Komposition überwiegend im Tempo Viertel = ca. 30. Zudem wird der musikalische Verlauf in allen drei Teilen des Stücks immer wieder durch Fermaten kurzzeitig stillgestellt, die über einzelnen Klängen, Pausen, Taktstrichen oder Zäsuren eingetragen sind (z.B. ''Leggio 1'', T. 2 f.). Dass ihre Dauer fast immer in Sekunden angegeben ist, überlagert das vorgeschriebene Tempo durch eine andere Art der Zeitordnung: Mit Bezug auf die häufigen Fermaten und die Tempowechsel spricht Drees von einer Auflösung der „metrischen Verhältnisse zugunsten einer flexiblen Zeitgestaltung“ (Drees 1998, 175; Haas 1991, 335).
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Alle drei Abschnitte von ''„Hay que caminar“ sognando'' verwenden ähnliches klangliches Material: In beiden Violinen werden hauptsächlich lang ausgehaltene Einzeltöne oder Zweiklänge in überwiegend sehr leiser, zum Teil bis zum siebenfachen ''piano'' zurückgenommener Dynamik komponiert, die gelegentlich durch dynamisch und gestisch hervorgehobene Klangereignisse unterbrochen werden. Das vorgeschriebene Tempo wechselt in ''Leggio 1'' und ''Leggio 2'' je mehrfach zwischen Viertel = ca. 30 und Viertel = ca. 72 und wird zum Teil durch ''accelerandi'' oder ''rallentandi'' beschleunigt oder verlangsamt. In ''Leggio 3'' sind zunächst häufig – und auch innerhalb der Takte – wechselnde Tempi vorgezeichnet; ab Takt 12 steht die Komposition überwiegend im Tempo Viertel = ca. 30. Zudem wird der musikalische Verlauf in allen drei Teilen des Stücks immer wieder durch Fermaten kurzzeitig stillgestellt, die über einzelnen Klängen, Pausen, Taktstrichen oder Zäsuren eingetragen sind (z.B. ''Leggio 1'', T. 2 f.). Dass ihre Dauer fast immer in Sekunden angegeben ist, überlagert das vorgeschriebene Tempo durch eine andere Art der Zeitordnung: Mit Bezug auf die häufigen Fermaten und die Tempowechsel spricht Drees von einer Auflösung der „metrischen Verhältnisse zugunsten einer flexiblen Zeitgestaltung“ (Drees 1998, 175).
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Auffällig ist zudem die spieltechnische und klangfarbliche Differenzierung: Durch verbale Eintragungen im Notentext präzisiert Nono, ob die Saiten der Violinen mit dem Bogenhaar („crini“), dem Holz der Bogenstange („legno“) oder mit Holz und Haar gleichzeitig angestrichen werden. Außerdem wird die Kontaktstelle auf der Saite spezifiziert: Durch Streichen nahe am Steg („ponte“) entsteht ein Klang mit größerem Anteil höherer Partialtöne, durch Streichen über dem Griffbrett („tasto“) ein obertonärmerer Klang (Sevsay 2010, 57). Dynamische und spieltechnische Angaben wechseln häufig; zudem deutet Nono durch Pfeile oder horizontale Linien Übergänge zwischen Stricharten und Kontaktstellen an. Der entstehende Klang verändert sich insofern auch bei länger ausgehaltenen Tonhöhen im Sinne von Nonos Vorstellung eines „suono mobile“, eines beweglichen Klangs (Dollinger 2012, 29). Dem entsprechen Nonos Spielanweisung, dass die Töne nicht statisch, sondern mit mikrotonalen Abweichungen gespielt werden sollen („I suoni tenuti mai statici ma modulati meno di 1/16“, HQCS, Avvertenze), sowie die in ''Leggio 1'' mehrfach im Notentext eingetragene Formulierung „Suono non statico“. In dieser ‚internen Beweglichkeit‘ spiegelt sich auf anderer Ebene die Bewegung des Klangs im Aufführungsraum, die durch die Positionswechsel der Musiker:innen entsteht (Dollinger 2012, 29).
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Auffällig ist zudem die spieltechnische und klangfarbliche Differenzierung: Durch verbale Eintragungen im Notentext präzisiert Nono, ob die Saiten der Violinen mit dem Bogenhaar („crini“), dem Holz der Bogenstange („legno“) oder mit Holz und Haar gleichzeitig angestrichen werden. Außerdem wird die Kontaktstelle auf der Saite spezifiziert: Durch Streichen nahe am Steg („ponte“) entsteht ein Klang mit größerem Anteil höherer Partialtöne, durch Streichen über dem Griffbrett („tasto“) ein obertonärmerer Klang (Sevsay 2010, 57). Dynamische und spieltechnische Angaben wechseln häufig; zudem deutet Nono durch Pfeile oder horizontale Linien Übergänge zwischen Stricharten und Kontaktstellen an. Der entstehende Klang verändert sich insofern auch bei länger ausgehaltenen Tonhöhen im Sinne von Nonos Vorstellung eines „suono mobile“, eines beweglichen Klangs (Dollinger 2012, 29). Dem entsprechen Nonos Spielanweisung, dass die Töne nicht statisch, sondern mit mikrotonalen Abweichungen gespielt werden sollen („I suoni tenuti mai statici ma modulati meno di 1/16“; HQCS, Avvertenze), sowie die in ''Leggio 1'' mehrfach im Notentext eingetragene Formulierung „Suono non statico“. In dieser ‚internen Beweglichkeit‘ spiegelt sich auf anderer Ebene die Bewegung des Klangs im Aufführungsraum, die durch die Positionswechsel der Musiker:innen entsteht (Dollinger 2012, 29).
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Im ersten und dritten ''Leggio'' versieht Nono einzelne Zweiklänge in beiden Violinen mit eckigen Klammern (z.B. ''Leggio 1'', T. 3, Violinen 1 und 2). Die so markierten Tonhöhen sind, wie Nono in den Anmerkungen zur Partitur angibt, der sogenannten ''scala enigmatica'' entnommen (vgl. HQCS, Avvertenze), einer speziellen Tonleiter, die Giuseppe Verdi (1813–1901) seinem ''Ave Maria'' (1889/1897) für vierstimmigen Chor zugrunde gelegt hat (Haas 1991, 326–330; Drees 1998, 175 f.). In ihrer von c ausgehenden Transposition enthält diese Skala aufwärts die Tonhöhen ''c-des-e-fis-gis-ais-h-c'' und abwärts die Tonhöhen ''c-h-ais-gis-f-e-des-c''. In ''Leggio 1'' werden die Tonhöhen der Skala aufwärts zweimal nacheinander verwendet, in ''Leggio 3'' die der Skala abwärts einmal mit einer zusätzlichen Tonhöhe (Haas 1991, 326–328). Bereits in seinem Streichquartett ''Fragmente – Stille, An Diotima'' (1979/80) und auch in ''La lontananza nostalgica utopica futura'' hatte Nono mit der ''scala enigmatica'' gearbeitet (zum Streichquartett Linden 1989, 187–193; zu ''La lontananza'' Drees 1998, 125 f., 176 f.). Wenn er die Skala auch in ''„Hay que caminar“ sognando'' nutzt, greift er also nicht nur auf eine Komposition Verdis, sondern vor allem auch auf eigene Werke zurück: Drees beschreibt diese Geste als „Einfügung historischen Materials, das primär auf eigene Arbeiten verweist“ (Drees 1998, 176).<ref>Die Verwendung einer als ''enigmatisch'' bezeichneten Tonleiter traumthematisch zu deuten, scheint indessen nicht naheliegend: Das Adjektiv ''enigmatisch'' bezieht sich weniger auf eine prinzipielle, möglicherweise traumhafte Rätselhaftigkeit als mehr darauf, dass die Tonleiter aufgrund ihrer Intervallfolge schwer Dur-moll-tonal zu harmonisieren ist. Zudem arbeitet Nono in anderen Kompositionen ebenfalls mit der Skala, ohne dass aus ihrer Verwendung ein deutlicher Traumbezug ableitbar wäre. Entsprechend verweist er in seinen Skizzen offenbar nicht auf die ''scala enigmatica'' als solche, sondern auf Verdis ''Ave Maria''; vgl. Drees 1998, 177 und 239.</ref>
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Im ersten und dritten ''Leggio'' versieht Nono einzelne Zweiklänge in beiden Violinen mit eckigen Klammern (z.B. ''Leggio 1'', T. 3, Violinen 1 und 2). Die so markierten Tonhöhen sind, wie Nono in den Anmerkungen zur Partitur angibt, der sogenannten ''scala enigmatica'' entnommen (HQCS, Avvertenze), einer speziellen Tonleiter, die Giuseppe Verdi (1813–1901) seinem ''Ave Maria'' (1889/1897) für vierstimmigen Chor zugrunde gelegt hat (Haas 1991, 326–330; Drees 1998, 175 f.). In ihrer von c ausgehenden Transposition enthält diese Skala aufwärts die Tonhöhen ''c-des-e-fis-gis-ais-h-c'' und abwärts die Tonhöhen ''c-h-ais-gis-f-e-des-c''. In ''Leggio 1'' werden die Tonhöhen der Skala aufwärts zweimal nacheinander verwendet, in ''Leggio 3'' die der Skala abwärts einmal mit einer zusätzlichen Tonhöhe (Haas 1991, 326–328). Bereits in seinem Streichquartett ''Fragmente – Stille, An Diotima'' (1979/80) und auch in ''La lontananza nostalgica utopica futura'' hatte Nono mit der ''scala enigmatica'' gearbeitet (zum Streichquartett Linden 1989, 187–193; zu ''La lontananza'' Drees 1998, 125 f., 176 f.). Wenn er die Skala auch in ''„Hay que caminar“ sognando'' nutzt, greift er also nicht nur auf eine Komposition Verdis, sondern vor allem auf eigene Werke zurück: Drees beschreibt diese Geste als „Einfügung historischen Materials, das primär auf eigene Arbeiten verweist“ (Drees 1998, 176).<ref>Die Verwendung einer als ''enigmatisch'' bezeichneten Tonleiter traumthematisch zu deuten, scheint indessen nicht naheliegend: Das Adjektiv ''enigmatisch'' bezieht sich weniger auf eine prinzipielle, möglicherweise traumhafte Rätselhaftigkeit als vielmehr darauf, dass die Tonleiter aufgrund ihrer Intervallfolge schwer Dur-moll-tonal zu harmonisieren ist. Zudem arbeitet Nono in anderen Kompositionen ebenfalls mit der Skala, ohne dass aus ihrer Verwendung ein deutlicher Traumbezug ableitbar wäre. Entsprechend verweist er in seinen Skizzen offenbar nicht auf die ''scala enigmatica'' als solche, sondern auf Verdis ''Ave Maria''; vgl. Drees 1998, 177 und 239.</ref>
    
Insgesamt können die drei ''Leggii'' von ''„Hay que caminar“ sognando'' als eine Folge von Klangereignissen im meist unteren dynamischen Bereich beschrieben werden, die immer wieder durch Fermaten oder Pausen stillgestellt und nicht nach konventionellen Formmodellen kompositorisch bearbeitet werden (Drees 1998, 195). Musikalisch schreitet das im Titel erwähnte Wandern in dieser Hinsicht also keinen traditionell vorgegebenen Weg ab. Die in Bezug auf die Tonhöhen unisono geführten Passagen im tiefen Register am Ende von ''Leggio 1'' (T. 40) und ''Leggio 2'' (T. 62–66) sowie das Ende von ''Leggio 3'', bei dem die Violinist:innen die Bögen etwa zwölf Sekunden lang auf der Saite liegen lassen (T. 47f.), erscheinen dennoch als Schlussgesten. Haas bezeichnet zudem die Symmetrie der aufsteigenden ''scala enigmatica'' im ersten und der absteigenden ''scala'' im dritten ''Leggio'' als „strukturelle Klammer“ (Haas 1991, 330, vgl. auch Impett 2019, 493); in Bezug auf die Tonhöhenorganisation spricht er von einer „formalen Geschlossenheit“ (Haas 1991, 334), die dem Motiv des Wanderns ohne vorbestimmtem Weg eigentlich nicht entspricht. Dieses sei daher, so Haas, eher „auf die unmittelbare Aufeinanderfolge der klanglichen Einzelereignisse [zu] beziehen – und nicht auf die formale Konzeption“ (Haas 1991, 334). Wie also der von den Musiker:innen im Aufführungsraum abgeschrittene Weg durch die feste Abfolge der drei Teile bestimmt ist, so ordnet Nono auch das klangliche Material nicht völlig ungebunden, sondern mit Blick auf Symmetrien oder Schlussgesten an: Der beim Gehen entstehende Weg erschließt Bezüge innerhalb des Materials.
 
Insgesamt können die drei ''Leggii'' von ''„Hay que caminar“ sognando'' als eine Folge von Klangereignissen im meist unteren dynamischen Bereich beschrieben werden, die immer wieder durch Fermaten oder Pausen stillgestellt und nicht nach konventionellen Formmodellen kompositorisch bearbeitet werden (Drees 1998, 195). Musikalisch schreitet das im Titel erwähnte Wandern in dieser Hinsicht also keinen traditionell vorgegebenen Weg ab. Die in Bezug auf die Tonhöhen unisono geführten Passagen im tiefen Register am Ende von ''Leggio 1'' (T. 40) und ''Leggio 2'' (T. 62–66) sowie das Ende von ''Leggio 3'', bei dem die Violinist:innen die Bögen etwa zwölf Sekunden lang auf der Saite liegen lassen (T. 47f.), erscheinen dennoch als Schlussgesten. Haas bezeichnet zudem die Symmetrie der aufsteigenden ''scala enigmatica'' im ersten und der absteigenden ''scala'' im dritten ''Leggio'' als „strukturelle Klammer“ (Haas 1991, 330, vgl. auch Impett 2019, 493); in Bezug auf die Tonhöhenorganisation spricht er von einer „formalen Geschlossenheit“ (Haas 1991, 334), die dem Motiv des Wanderns ohne vorbestimmtem Weg eigentlich nicht entspricht. Dieses sei daher, so Haas, eher „auf die unmittelbare Aufeinanderfolge der klanglichen Einzelereignisse [zu] beziehen – und nicht auf die formale Konzeption“ (Haas 1991, 334). Wie also der von den Musiker:innen im Aufführungsraum abgeschrittene Weg durch die feste Abfolge der drei Teile bestimmt ist, so ordnet Nono auch das klangliche Material nicht völlig ungebunden, sondern mit Blick auf Symmetrien oder Schlussgesten an: Der beim Gehen entstehende Weg erschließt Bezüge innerhalb des Materials.

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