"'Hay que caminar' sognando" (Luigi Nono): Unterschied zwischen den Versionen

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===Zu Material und Komposition===
 
===Zu Material und Komposition===
Alle drei Abschnitte von ''„Hay que caminar“ sognando'' verwenden ähnliches klangliches Material: In beiden Violinen werden hauptsächlich lang ausgehaltene Einzeltöne oder Zweiklänge in überwiegend sehr leiser, zum Teil bis zum siebenfachen ''piano'' zurückgenommener Dynamik komponiert, die gelegentlich durch dynamisch und gestisch hervorgehobene Klangereignisse unterbrochen werden. Das vorgeschriebene Tempo wechselt in ''Leggio 1'' und ''Leggio 2'' je mehrfach zwischen Viertel = ca. 30 und Viertel = ca. 72 und wird zum Teil durch ''accelerandi'' oder ''rallentandi'' beschleunigt oder verlangsamt. In ''Leggio 3'' sind zunächst häufig – und auch innerhalb der Takte – wechselnde Tempi vorgezeichnet; ab Takt 12 steht die Komposition überwiegend im Tempo Viertel = ca. 30. Zudem wird der musikalische Verlauf in allen drei Teilen des Stücks immer wieder durch Fermaten kurzzeitig stillgestellt, die über einzelnen Klängen, Pausen, Taktstrichen oder Zäsuren eingetragen sind (z.B. ''Leggio 1'', T. 2 f.). Dass ihre Dauer fast immer in Sekunden angegeben ist, überlagert das vorgeschriebene Tempo durch eine andere Art der Zeitordnung: Mit Bezug auf die häufigen Fermaten und die Tempowechsel spricht Drees von einer Auflösung der „metrischen Verhältnisse zugunsten einer flexiblen Zeitgestaltung“ (Drees 1998, 175; Haas 1991, 335).
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Alle drei Abschnitte von ''„Hay que caminar“ sognando'' verwenden ähnliches klangliches Material: In beiden Violinen werden hauptsächlich lang ausgehaltene Einzeltöne oder Zweiklänge in überwiegend sehr leiser, zum Teil bis zum siebenfachen ''piano'' zurückgenommener Dynamik komponiert, die gelegentlich durch dynamisch und gestisch hervorgehobene Klangereignisse unterbrochen werden. Das vorgeschriebene Tempo wechselt in ''Leggio 1'' und ''Leggio 2'' je mehrfach zwischen Viertel = ca. 30 und Viertel = ca. 72 und wird zum Teil durch ''accelerandi'' oder ''rallentandi'' beschleunigt oder verlangsamt. In ''Leggio 3'' sind zunächst häufig – und auch innerhalb der Takte – wechselnde Tempi vorgezeichnet; ab Takt 12 steht die Komposition überwiegend im Tempo Viertel = ca. 30. Zudem wird der musikalische Verlauf in allen drei Teilen des Stücks immer wieder durch Fermaten kurzzeitig stillgestellt, die über einzelnen Klängen, Pausen, Taktstrichen oder Zäsuren eingetragen sind (z.B. ''Leggio 1'', T. 2 f.). Dass ihre Dauer fast immer in Sekunden angegeben ist, überlagert das vorgeschriebene Tempo durch eine andere Art der Zeitordnung: Mit Bezug auf die häufigen Fermaten und die Tempowechsel spricht Drees von einer Auflösung der „metrischen Verhältnisse zugunsten einer flexiblen Zeitgestaltung“ (Drees 1998, 175).
  
Auffällig ist zudem die spieltechnische und klangfarbliche Differenzierung: Durch verbale Eintragungen im Notentext präzisiert Nono, ob die Saiten der Violinen mit dem Bogenhaar („crini“), dem Holz der Bogenstange („legno“) oder mit Holz und Haar gleichzeitig angestrichen werden. Außerdem wird die Kontaktstelle auf der Saite spezifiziert: Durch Streichen nahe am Steg („ponte“) entsteht ein Klang mit größerem Anteil höherer Partialtöne, durch Streichen über dem Griffbrett („tasto“) ein obertonärmerer Klang (Sevsay 2010, 57). Dynamische und spieltechnische Angaben wechseln häufig; zudem deutet Nono durch Pfeile oder horizontale Linien Übergänge zwischen Stricharten und Kontaktstellen an. Der entstehende Klang verändert sich insofern auch bei länger ausgehaltenen Tonhöhen im Sinne von Nonos Vorstellung eines „suono mobile“, eines beweglichen Klangs (Dollinger 2012, 29). Dem entsprechen Nonos Spielanweisung, dass die Töne nicht statisch, sondern mit mikrotonalen Abweichungen gespielt werden sollen („I suoni tenuti mai statici ma modulati meno di 1/16“, HQCS, Avvertenze), sowie die in ''Leggio 1'' mehrfach im Notentext eingetragene Formulierung „Suono non statico“. In dieser ‚internen Beweglichkeit‘ spiegelt sich auf anderer Ebene die Bewegung des Klangs im Aufführungsraum, die durch die Positionswechsel der Musiker:innen entsteht (Dollinger 2012, 29).
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Auffällig ist zudem die spieltechnische und klangfarbliche Differenzierung: Durch verbale Eintragungen im Notentext präzisiert Nono, ob die Saiten der Violinen mit dem Bogenhaar („crini“), dem Holz der Bogenstange („legno“) oder mit Holz und Haar gleichzeitig angestrichen werden. Außerdem wird die Kontaktstelle auf der Saite spezifiziert: Durch Streichen nahe am Steg („ponte“) entsteht ein Klang mit größerem Anteil höherer Partialtöne, durch Streichen über dem Griffbrett („tasto“) ein obertonärmerer Klang (Sevsay 2010, 57). Dynamische und spieltechnische Angaben wechseln häufig; zudem deutet Nono durch Pfeile oder horizontale Linien Übergänge zwischen Stricharten und Kontaktstellen an. Der entstehende Klang verändert sich insofern auch bei länger ausgehaltenen Tonhöhen im Sinne von Nonos Vorstellung eines „suono mobile“, eines beweglichen Klangs (Dollinger 2012, 29). Dem entsprechen Nonos Spielanweisung, dass die Töne nicht statisch, sondern mit mikrotonalen Abweichungen gespielt werden sollen („I suoni tenuti mai statici ma modulati meno di 1/16“; HQCS, Avvertenze), sowie die in ''Leggio 1'' mehrfach im Notentext eingetragene Formulierung „Suono non statico“. In dieser ‚internen Beweglichkeit‘ spiegelt sich auf anderer Ebene die Bewegung des Klangs im Aufführungsraum, die durch die Positionswechsel der Musiker:innen entsteht (Dollinger 2012, 29).
  
Im ersten und dritten ''Leggio'' versieht Nono einzelne Zweiklänge in beiden Violinen mit eckigen Klammern (z.B. ''Leggio 1'', T. 3, Violinen 1 und 2). Die so markierten Tonhöhen sind, wie Nono in den Anmerkungen zur Partitur angibt, der sogenannten ''scala enigmatica'' entnommen (vgl. HQCS, Avvertenze), einer speziellen Tonleiter, die Giuseppe Verdi (1813–1901) seinem ''Ave Maria'' (1889/1897) für vierstimmigen Chor zugrunde gelegt hat (Haas 1991, 326–330; Drees 1998, 175 f.). In ihrer von c ausgehenden Transposition enthält diese Skala aufwärts die Tonhöhen ''c-des-e-fis-gis-ais-h-c'' und abwärts die Tonhöhen ''c-h-ais-gis-f-e-des-c''. In ''Leggio 1'' werden die Tonhöhen der Skala aufwärts zweimal nacheinander verwendet, in ''Leggio 3'' die der Skala abwärts einmal mit einer zusätzlichen Tonhöhe (Haas 1991, 326–328). Bereits in seinem Streichquartett ''Fragmente – Stille, An Diotima'' (1979/80) und auch in ''La lontananza nostalgica utopica futura'' hatte Nono mit der ''scala enigmatica'' gearbeitet (zum Streichquartett Linden 1989, 187–193; zu ''La lontananza'' Drees 1998, 125 f., 176 f.). Wenn er die Skala auch in ''„Hay que caminar“ sognando'' nutzt, greift er also nicht nur auf eine Komposition Verdis, sondern vor allem auch auf eigene Werke zurück: Drees beschreibt diese Geste als „Einfügung historischen Materials, das primär auf eigene Arbeiten verweist“ (Drees 1998, 176).<ref>Die Verwendung einer als ''enigmatisch'' bezeichneten Tonleiter traumthematisch zu deuten, scheint indessen nicht naheliegend: Das Adjektiv ''enigmatisch'' bezieht sich weniger auf eine prinzipielle, möglicherweise traumhafte Rätselhaftigkeit als mehr darauf, dass die Tonleiter aufgrund ihrer Intervallfolge schwer Dur-moll-tonal zu harmonisieren ist. Zudem arbeitet Nono in anderen Kompositionen ebenfalls mit der Skala, ohne dass aus ihrer Verwendung ein deutlicher Traumbezug ableitbar wäre. Entsprechend verweist er in seinen Skizzen offenbar nicht auf die ''scala enigmatica'' als solche, sondern auf Verdis ''Ave Maria''; vgl. Drees 1998, 177 und 239.</ref>
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Im ersten und dritten ''Leggio'' versieht Nono einzelne Zweiklänge in beiden Violinen mit eckigen Klammern (z.B. ''Leggio 1'', T. 3, Violinen 1 und 2). Die so markierten Tonhöhen sind, wie Nono in den Anmerkungen zur Partitur angibt, der sogenannten ''scala enigmatica'' entnommen (HQCS, Avvertenze), einer speziellen Tonleiter, die Giuseppe Verdi (1813–1901) seinem ''Ave Maria'' (1889/1897) für vierstimmigen Chor zugrunde gelegt hat (Haas 1991, 326–330; Drees 1998, 175 f.). In ihrer von c ausgehenden Transposition enthält diese Skala aufwärts die Tonhöhen ''c-des-e-fis-gis-ais-h-c'' und abwärts die Tonhöhen ''c-h-ais-gis-f-e-des-c''. In ''Leggio 1'' werden die Tonhöhen der Skala aufwärts zweimal nacheinander verwendet, in ''Leggio 3'' die der Skala abwärts einmal mit einer zusätzlichen Tonhöhe (Haas 1991, 326–328). Bereits in seinem Streichquartett ''Fragmente – Stille, An Diotima'' (1979/80) und auch in ''La lontananza nostalgica utopica futura'' hatte Nono mit der ''scala enigmatica'' gearbeitet (zum Streichquartett Linden 1989, 187–193; zu ''La lontananza'' Drees 1998, 125 f., 176 f.). Wenn er die Skala auch in ''„Hay que caminar“ sognando'' nutzt, greift er also nicht nur auf eine Komposition Verdis, sondern vor allem auf eigene Werke zurück: Drees beschreibt diese Geste als „Einfügung historischen Materials, das primär auf eigene Arbeiten verweist“ (Drees 1998, 176).<ref>Die Verwendung einer als ''enigmatisch'' bezeichneten Tonleiter traumthematisch zu deuten, scheint indessen nicht naheliegend: Das Adjektiv ''enigmatisch'' bezieht sich weniger auf eine prinzipielle, möglicherweise traumhafte Rätselhaftigkeit als vielmehr darauf, dass die Tonleiter aufgrund ihrer Intervallfolge schwer Dur-moll-tonal zu harmonisieren ist. Zudem arbeitet Nono in anderen Kompositionen ebenfalls mit der Skala, ohne dass aus ihrer Verwendung ein deutlicher Traumbezug ableitbar wäre. Entsprechend verweist er in seinen Skizzen offenbar nicht auf die ''scala enigmatica'' als solche, sondern auf Verdis ''Ave Maria''; vgl. Drees 1998, 177 und 239.</ref>
  
 
Insgesamt können die drei ''Leggii'' von ''„Hay que caminar“ sognando'' als eine Folge von Klangereignissen im meist unteren dynamischen Bereich beschrieben werden, die immer wieder durch Fermaten oder Pausen stillgestellt und nicht nach konventionellen Formmodellen kompositorisch bearbeitet werden (Drees 1998, 195). Musikalisch schreitet das im Titel erwähnte Wandern in dieser Hinsicht also keinen traditionell vorgegebenen Weg ab. Die in Bezug auf die Tonhöhen unisono geführten Passagen im tiefen Register am Ende von ''Leggio 1'' (T. 40) und ''Leggio 2'' (T. 62–66) sowie das Ende von ''Leggio 3'', bei dem die Violinist:innen die Bögen etwa zwölf Sekunden lang auf der Saite liegen lassen (T. 47f.), erscheinen dennoch als Schlussgesten. Haas bezeichnet zudem die Symmetrie der aufsteigenden ''scala enigmatica'' im ersten und der absteigenden ''scala'' im dritten ''Leggio'' als „strukturelle Klammer“ (Haas 1991, 330, vgl. auch Impett 2019, 493); in Bezug auf die Tonhöhenorganisation spricht er von einer „formalen Geschlossenheit“ (Haas 1991, 334), die dem Motiv des Wanderns ohne vorbestimmtem Weg eigentlich nicht entspricht. Dieses sei daher, so Haas, eher „auf die unmittelbare Aufeinanderfolge der klanglichen Einzelereignisse [zu] beziehen – und nicht auf die formale Konzeption“ (Haas 1991, 334). Wie also der von den Musiker:innen im Aufführungsraum abgeschrittene Weg durch die feste Abfolge der drei Teile bestimmt ist, so ordnet Nono auch das klangliche Material nicht völlig ungebunden, sondern mit Blick auf Symmetrien oder Schlussgesten an: Der beim Gehen entstehende Weg erschließt Bezüge innerhalb des Materials.
 
Insgesamt können die drei ''Leggii'' von ''„Hay que caminar“ sognando'' als eine Folge von Klangereignissen im meist unteren dynamischen Bereich beschrieben werden, die immer wieder durch Fermaten oder Pausen stillgestellt und nicht nach konventionellen Formmodellen kompositorisch bearbeitet werden (Drees 1998, 195). Musikalisch schreitet das im Titel erwähnte Wandern in dieser Hinsicht also keinen traditionell vorgegebenen Weg ab. Die in Bezug auf die Tonhöhen unisono geführten Passagen im tiefen Register am Ende von ''Leggio 1'' (T. 40) und ''Leggio 2'' (T. 62–66) sowie das Ende von ''Leggio 3'', bei dem die Violinist:innen die Bögen etwa zwölf Sekunden lang auf der Saite liegen lassen (T. 47f.), erscheinen dennoch als Schlussgesten. Haas bezeichnet zudem die Symmetrie der aufsteigenden ''scala enigmatica'' im ersten und der absteigenden ''scala'' im dritten ''Leggio'' als „strukturelle Klammer“ (Haas 1991, 330, vgl. auch Impett 2019, 493); in Bezug auf die Tonhöhenorganisation spricht er von einer „formalen Geschlossenheit“ (Haas 1991, 334), die dem Motiv des Wanderns ohne vorbestimmtem Weg eigentlich nicht entspricht. Dieses sei daher, so Haas, eher „auf die unmittelbare Aufeinanderfolge der klanglichen Einzelereignisse [zu] beziehen – und nicht auf die formale Konzeption“ (Haas 1991, 334). Wie also der von den Musiker:innen im Aufführungsraum abgeschrittene Weg durch die feste Abfolge der drei Teile bestimmt ist, so ordnet Nono auch das klangliche Material nicht völlig ungebunden, sondern mit Blick auf Symmetrien oder Schlussgesten an: Der beim Gehen entstehende Weg erschließt Bezüge innerhalb des Materials.

Version vom 1. Februar 2023, 23:03 Uhr

Seine letzte vollendete Komposition weist der italienische Komponist Luigi Nono (1924–1990) im Titel als traumbezogen aus: „Hay que caminar“ sognando für zwei Violinen wurde Anfang März 1989 fertiggestellt und im Oktober desselben Jahres in Mailand von Irvine Arditti und David Alberman uraufgeführt. Das spanischsprachige Zitat „Hay que caminar“ (dt. etwa „Man muss wandern“) ergänzt der Titel in italienischer Sprache um die Beschreibung sognando (dt. „träumend“). Der erste Aspekt, das Wandern, wird bei der Aufführung des Duos unter anderem dadurch inszeniert, dass die Musiker:innen sich zwischen verschiedenen Positionen im Aufführungsraum bewegen. Dies lässt nach einer möglichen kompositorischen Umsetzung des zweiten im Titel genannten Aspekts, des Träumens, fragen.

Zum Komponisten

Luigi Nono, geboren am 29. Januar 1924 in Venedig, gilt als einer der wichtigsten Komponisten zeitgenössischer Musik nach 1950 (Borio 2001, 24). Nach dem Ende seiner Schulzeit studierte er zunächst Jura und erhielt Kompositionsunterricht bei Gian Francesco Malipiero (1882–1973) und später bei Bruno Maderna (1920–1973). Ab 1950 besuchte er die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, bei denen er ab 1956 auch als Lehrender tätig war. Gemeinsam mit Pierre Boulez (1925–2016) und Karlheinz Stockhausen (1928–2007) entwickelte sich Nono zu einem der bestimmenden kompositorischen Protagonisten der seriellen Musik (Stenzl 2004, 1158). Ab 1952 war er Mitglied der Italienischen Kommunistischen Partei und bezog auch mit den in seinen Werken vertonten Texten immer wieder politisch Stellung. Zunehmend nahm sein Komponieren auch die Möglichkeiten elektronischer Klangverarbeitung auf (z.B. in La fabbrica illuminata für Sopran und Tonband, 1964); ab seinem Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima (1979/80) verstärkte sich der in seinem Werk bereits vorher spürbare Zug zu kompositorischer Reduktion mit dynamisch meist zurückgenommenen, intern differenzierten Klängen und einer Gestaltung formaler Abläufe aus einzelnen klanglichen Bruchstücken. Ein zentrales Werk seines letzten Lebensjahrzehnts ist die als Tragödie des Hörens bezeichnete musiktheatralische Komposition Prometeo, für die der italienische Philosoph Massimo Cacciari (*1944) das Libretto zusammengestellt hatte und die 1984 in Venedig uraufgeführt wurde. Nono starb am 8. Mai 1990 in Venedig.

Zum Werk

Einordnung und Titel

Die im Titel des Violinduos mit Anführungszeichen versehene Formulierung „Hay que caminar“ führt das Motiv des Gehens oder Wanderns ein. Sie entstammt einem Zitat, mit dem sich Nono gegen Ende seines Lebens intensiv auseinandergesetzt hat: Er erzählt, dass er im Kreuzgang eines Klosters in Toledo die Worte „Caminantes no hay caminos hay que caminar“ (dt. „Wanderer, es gibt keine Wege, man muss wandern“) gelesen habe (Nono 2003, 136; Nono 1995, 26 f.; Haas 1991, 325; Stenzl 1991, 97; Stenzl 1996, 133; Stenzl 1998, 118; Esterbauer 2011, 28–31; Dollinger 2012, 92; Impett 2019, 449 f.). Allerdings hat diese Formulierung große Ähnlichkeit mit zwei Zeilen aus einem Gedicht von Antonio Machado (1875–1939) – einem Dichter also, dessen Texte Nono bereits zuvor vertont hatte (Stenzl 1991, 97 f.; Stenzl 1998, 118). In einem Gedicht Machados aus Proverbios y cantares heißt es: „caminante, no hay camino,/ se hace camino al andar.“ (dt. „Wanderer, kein Weg ist da,/ Wege wachsen unterwegs“).[1] Die Frage, ob die von Nono erwähnte Inschrift auf der Klostermauer die Zeilen aus Machados Gedicht variiert, ob umgekehrt Machado die Inschrift für sein Gedicht aufgegriffen hat oder ob die Ähnlichkeit beider Texte zufällig ist, ist wohl nicht abschließend zu beantworten (zu den „Unklarheiten“ in Bezug auf Nonos Bericht Esterbauer 2011, 30 f.). Naheliegend dürfte aber die Vermutung sein, dass es sich bei der von Nono gelesenen Inschrift „um ein freies Zitat aus dem Machado-Gedicht handelte“ (Esterbauer 2011, 31).

Offenbar hat das Motiv des Wanderns ohne vorgegebene Wege, die vielmehr beim Gehen erst entstehen, Nono künstlerisch besonders interessiert. Jürg Stenzl bezeichnet die Figur des Wanderers daher als „eine Metapher für Luigi Nonos Selbstverständnis: Der Komponist als Wanderer ist unterwegs ins Ungehörte“ (Stenzl 1996, 133). So plante Nono eine Trilogie von Werken, die je einen der drei Teile der Mauerinschrift aus Toledo im Titel tragen sollten (Nono 2003, 136 f.). Ausgeführt wurden die Kompositionen 1° Caminantes ... Ayacucho für Mezzosopran, Flöte, Orgel, zwei Chöre, drei Orchestergruppen und Live-Elektronik (1986/87, uraufgeführt im April 1987 in München) und 2° No hay caminos, hay que caminar ... Andrej Tarkowskij für sieben Orchestergruppen (1987, uraufgeführt im November 1987 in Tokio). Den dritten Teil sollte, so zeigt Stefan Drees anhand von Nonos Skizzen (Drees 1998, 93 f.), zunächst wohl das Stück La lontananza nostalgica utopica futura für Violine solo und acht Tonbänder (mehrere Fassungen, 1988/89) bilden, bei dem der Bezug zur Wanderer-Figur durch den Titelzusatz madrigale per più „caminantes“ con Gidon Kremer („Madrigal für mehrere ‚Wanderer‘ mit Gidon Kremer“) hergestellt wird. Das Violinduo „Hay que caminar“ sognando trägt zwar den dritten Teil der Mauerinschrift im Titel, es ist jedoch keine Ziffer vorangestellt. Drees argumentiert daher, dass das Stück nicht zu Nonos geplanter Caminantes-Trilogie zu rechnen sei, die demgemäß als unvollendet zu gelten habe (Drees 1998, 93 f.).

Im Übrigen liest die publizierte Partitur den Stücktitel in der Form „Hay que caminar“ Soñando. Bei dieser Variante dürfte es sich um eine Ungenauigkeit des Verlags gehandelt haben (Drees 1998, 169); der Komponist selbst hatte wohl die Schreibweise „Hay que caminar“ sognando vorgesehen, die daher hier verwendet wird.

Zur Setzung: „Hay que caminar“

Die Partitur von „Hay que caminar“ sognando besteht aus drei Teilen, die als Leggio 1, 2 und 3 bezeichnet sind. Leggio 1 umfasst 40 Takte mit einer Aufführungsdauer von gut fünfeinhalb Minuten, Leggio 2 besteht aus 66 Takten und dauert knapp neuneinhalb Minuten, Leggio 3 umfasst 48 Takte mit einer Dauer von gut neuneinhalb Minuten. In den Anmerkungen zur Partitur gibt Nono an, dass die Noten im Aufführungsraum auf mehrere Notenständer (leggii) verteilt sein sollen. Zwischen den drei Teilen der Komposition sollen die Instrumentalist:innen sich zwischen den Notenständern bewegen, als würden sie einen Weg suchen („Camminando alla fine di ogni parte cercandoli come cercando un cammino“; HQCS, Avvertenze; dt.: ###). Der musiktheatralische Aspekt (Haas 1991, 326) dieses ‚Wanderns‘ von einem Notenständer zum nächsten setzt das Wandern aus dem Titel der Komposition visuell um.

Die konkrete Verteilung der Notenständer im Raum ist freigestellt und hängt auch von den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten ab; gefordert werden aber mindestens acht Notenständer („Almeno 8 leggii“; HQCS, Avvertenze). Als Beispiel schlägt Nono vor, dass Violine 1 drei Notenständer und Violine 2 drei weitere Notenständer verwendet. Dieser Vorschlag impliziert, so bemerkt Drees, dass die Musiker:innen nie vom gleichen Notenständer spielen und dass der Klang in allen drei Teilen der Komposition an verschiedenen Stellen im Raum erzeugt wird (Drees 1998, 171). Dass wenigstens acht Notenständer aufgestellt sein sollen, bedingt zudem, dass mindestens zwei Notenständer zwar als potenzielle Punkte der Klangerzeugung sichtbar sind, aber bei einer Aufführung nicht bespielt werden: Diese Aufstellung von nicht genutzten Notenständern wird auch in der Legende von La lontananza nostalgica utopica futura vorgeschlagen (Drees 1998, 100; Impett 2019, 484).

Allerdings ist die Reihenfolge, in der die drei Abschnitte von „Hay que caminar“ sognando realisiert werden, nicht beliebig; zudem können die Stimmen innerhalb der Abschnitte nicht frei miteinander kombiniert werden. In dieser Hinsicht ist der Weg durch die Komposition also bereits vorab festgelegt und entsteht nicht erst beim Gehen – die Aufstellung von möglichst vielen nicht verwendeten Notenständern dürfte den Eindruck einer während der Aufführung aus verschiedenen Möglichkeiten frei gesuchten Wegstrecke visuell aber verstärken.[2]

Zu Material und Komposition

Alle drei Abschnitte von „Hay que caminar“ sognando verwenden ähnliches klangliches Material: In beiden Violinen werden hauptsächlich lang ausgehaltene Einzeltöne oder Zweiklänge in überwiegend sehr leiser, zum Teil bis zum siebenfachen piano zurückgenommener Dynamik komponiert, die gelegentlich durch dynamisch und gestisch hervorgehobene Klangereignisse unterbrochen werden. Das vorgeschriebene Tempo wechselt in Leggio 1 und Leggio 2 je mehrfach zwischen Viertel = ca. 30 und Viertel = ca. 72 und wird zum Teil durch accelerandi oder rallentandi beschleunigt oder verlangsamt. In Leggio 3 sind zunächst häufig – und auch innerhalb der Takte – wechselnde Tempi vorgezeichnet; ab Takt 12 steht die Komposition überwiegend im Tempo Viertel = ca. 30. Zudem wird der musikalische Verlauf in allen drei Teilen des Stücks immer wieder durch Fermaten kurzzeitig stillgestellt, die über einzelnen Klängen, Pausen, Taktstrichen oder Zäsuren eingetragen sind (z.B. Leggio 1, T. 2 f.). Dass ihre Dauer fast immer in Sekunden angegeben ist, überlagert das vorgeschriebene Tempo durch eine andere Art der Zeitordnung: Mit Bezug auf die häufigen Fermaten und die Tempowechsel spricht Drees von einer Auflösung der „metrischen Verhältnisse zugunsten einer flexiblen Zeitgestaltung“ (Drees 1998, 175).

Auffällig ist zudem die spieltechnische und klangfarbliche Differenzierung: Durch verbale Eintragungen im Notentext präzisiert Nono, ob die Saiten der Violinen mit dem Bogenhaar („crini“), dem Holz der Bogenstange („legno“) oder mit Holz und Haar gleichzeitig angestrichen werden. Außerdem wird die Kontaktstelle auf der Saite spezifiziert: Durch Streichen nahe am Steg („ponte“) entsteht ein Klang mit größerem Anteil höherer Partialtöne, durch Streichen über dem Griffbrett („tasto“) ein obertonärmerer Klang (Sevsay 2010, 57). Dynamische und spieltechnische Angaben wechseln häufig; zudem deutet Nono durch Pfeile oder horizontale Linien Übergänge zwischen Stricharten und Kontaktstellen an. Der entstehende Klang verändert sich insofern auch bei länger ausgehaltenen Tonhöhen im Sinne von Nonos Vorstellung eines „suono mobile“, eines beweglichen Klangs (Dollinger 2012, 29). Dem entsprechen Nonos Spielanweisung, dass die Töne nicht statisch, sondern mit mikrotonalen Abweichungen gespielt werden sollen („I suoni tenuti mai statici ma modulati meno di 1/16“; HQCS, Avvertenze), sowie die in Leggio 1 mehrfach im Notentext eingetragene Formulierung „Suono non statico“. In dieser ‚internen Beweglichkeit‘ spiegelt sich auf anderer Ebene die Bewegung des Klangs im Aufführungsraum, die durch die Positionswechsel der Musiker:innen entsteht (Dollinger 2012, 29).

Im ersten und dritten Leggio versieht Nono einzelne Zweiklänge in beiden Violinen mit eckigen Klammern (z.B. Leggio 1, T. 3, Violinen 1 und 2). Die so markierten Tonhöhen sind, wie Nono in den Anmerkungen zur Partitur angibt, der sogenannten scala enigmatica entnommen (HQCS, Avvertenze), einer speziellen Tonleiter, die Giuseppe Verdi (1813–1901) seinem Ave Maria (1889/1897) für vierstimmigen Chor zugrunde gelegt hat (Haas 1991, 326–330; Drees 1998, 175 f.). In ihrer von c ausgehenden Transposition enthält diese Skala aufwärts die Tonhöhen c-des-e-fis-gis-ais-h-c und abwärts die Tonhöhen c-h-ais-gis-f-e-des-c. In Leggio 1 werden die Tonhöhen der Skala aufwärts zweimal nacheinander verwendet, in Leggio 3 die der Skala abwärts einmal mit einer zusätzlichen Tonhöhe (Haas 1991, 326–328). Bereits in seinem Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima (1979/80) und auch in La lontananza nostalgica utopica futura hatte Nono mit der scala enigmatica gearbeitet (zum Streichquartett Linden 1989, 187–193; zu La lontananza Drees 1998, 125 f., 176 f.). Wenn er die Skala auch in „Hay que caminar“ sognando nutzt, greift er also nicht nur auf eine Komposition Verdis, sondern vor allem auf eigene Werke zurück: Drees beschreibt diese Geste als „Einfügung historischen Materials, das primär auf eigene Arbeiten verweist“ (Drees 1998, 176).[3]

Insgesamt können die drei Leggii von „Hay que caminar“ sognando als eine Folge von Klangereignissen im meist unteren dynamischen Bereich beschrieben werden, die immer wieder durch Fermaten oder Pausen stillgestellt und nicht nach konventionellen Formmodellen kompositorisch bearbeitet werden (Drees 1998, 195). Musikalisch schreitet das im Titel erwähnte Wandern in dieser Hinsicht also keinen traditionell vorgegebenen Weg ab. Die in Bezug auf die Tonhöhen unisono geführten Passagen im tiefen Register am Ende von Leggio 1 (T. 40) und Leggio 2 (T. 62–66) sowie das Ende von Leggio 3, bei dem die Violinist:innen die Bögen etwa zwölf Sekunden lang auf der Saite liegen lassen (T. 47f.), erscheinen dennoch als Schlussgesten. Haas bezeichnet zudem die Symmetrie der aufsteigenden scala enigmatica im ersten und der absteigenden scala im dritten Leggio als „strukturelle Klammer“ (Haas 1991, 330, vgl. auch Impett 2019, 493); in Bezug auf die Tonhöhenorganisation spricht er von einer „formalen Geschlossenheit“ (Haas 1991, 334), die dem Motiv des Wanderns ohne vorbestimmtem Weg eigentlich nicht entspricht. Dieses sei daher, so Haas, eher „auf die unmittelbare Aufeinanderfolge der klanglichen Einzelereignisse [zu] beziehen – und nicht auf die formale Konzeption“ (Haas 1991, 334). Wie also der von den Musiker:innen im Aufführungsraum abgeschrittene Weg durch die feste Abfolge der drei Teile bestimmt ist, so ordnet Nono auch das klangliche Material nicht völlig ungebunden, sondern mit Blick auf Symmetrien oder Schlussgesten an: Der beim Gehen entstehende Weg erschließt Bezüge innerhalb des Materials.

Das Wandern als das erste Verb im Stücktitel hat insofern nicht nur mit der künstlerischen Haltung des Komponisten zu tun (Stenzl 1996, 133), sondern wird im Violinduo außerdem durch die Bewegung der Musiker:innen visuell und klangräumlich, durch den suono mobile klangfarblich und durch die Präsentation des Materials in der Zeit kompositorisch umgesetzt.

Zur Entstehung der Partitur

In seiner ausführlichen Analyse hat Stefan Drees die Entstehung von „Hay que caminar“ sognando nachgezeichnet (Drees 1998, 172–175): Demnach hat Nono das zuvor komponierte Stück La lontananza nostalgica utopica futura für Violine solo und acht Tonbänder als Ausgangspunkt der Komposition verwendet. Die Verteilung der Partitur auf mehreren Notenständern und die Bewegung im Raum wird aus La lontananza in das Violinduo übernommen, während die Kombination von einer Violine mit Tonbändern zu einer Kombination von zwei Violinen variiert wird (Drees 1998, 172). Zudem hat Nono das klangliche Material von „Hay que caminar“ sognando aus dem von La lontananza generiert: Die Stimme der Solovioline aus diesem Stück hat er in einzelne Fragmente unterteilt und diese unterschiedlich stark bearbeitet auf die beiden Violinen des Duos verteilt (Drees 1998, 173). Bei der Rekombination des Klangmaterials wurden, so Drees, zum Teil kontrastierende, zum Teil ähnliche, zum Teil auch in Bezug auf die Tonhöhen identische Passagen miteinander verbunden (Drees 1998, 173 f.). Dabei wurden die Tonhöhen und -dauern aus La lontananza nur gelegentlich verändert, die Ebenen von Lautstärke, Klangfarbe, Artikulation und Phrasierung aber meist stark variiert (Drees 1998, 172). Die scala enigmatica wird zur Tonhöhenorganisation bereits in La lontananza verwendet, sodass auch das Tonhöhenmaterial in „Hay que caminar“ sognando aus ihr abgeleitet ist. Die erwähnten im Violinduo mit eckigen Klammern versehenen Ausschnitte aus der scala enigmatica sind über die Fragmente von La lontananza hinaus eingefügte Zusätze (vgl. Drees 1998, 175). Insgesamt handelt es sich bei Nonos „Hay que caminar“ sognando also, so urteilt Drees, „um die Bearbeitung eines eigenen Werkes im Sinne einer Transkription oder Paraphrase“ (Drees 1998, 170).

sognando – Perspektiven der traumthematischen Interpretation

Dem Gehen oder Wandern aus dem Zitat der Mauerinschrift, das im Stück in verschiedener Hinsicht umgesetzt wird, stellt der Titel als zweites Verb das Träumen an die Seite. Da „Hay que caminar“ sognando allerdings keinen Text vertont und auch kein Paratext Nonos vorliegt, der diesen Bezug explizit präzisieren würde, stellt sich die Frage, wie eine traumthematische Interpretation des Stücks ansetzen kann: Offen bleibt nicht nur, ob ein Tag- oder ein Nachttraum gemeint ist, sondern auch, wer im Stück eigentlich träumend handelt oder handeln soll. Zudem lassen die Kombination zweier Sprachen sowie die Anführungszeichen auch verschiedene Deutungen des Titels zu: So kann sich der Zusatz träumend sowohl auf die Handlung des Gehens oder Wanderns beziehen („Man muss träumend wandern“) als auch auf das spanischsprachige Zitat als solches („Man muss wandern“, träumend).

Je nach Perspektive sind verschiedene Interpretationen vorgeschlagen worden, in denen auch der Status des Träumens und der Bezug zur Wachwirklichkeit changieren: Georg Friedrich Haas nennt die oben erwähnten Werke 1° Caminantes ... Ayacucho und 2° No hay caminos, hay que caminar ... Andrej Tarkowskij als Kontexte für das Violinduo und schreibt, dass „das Attribut ‚soñando‘ nicht nur als privates Träumen, sondern als Ausdruck, als Formulierung einer auch gesellschaftlichen Utopie verstanden werden“ müsse (Haas 1991, 325 f.). Diese utopische Dimension liegt auch deshalb nahe, weil der Titel des zuvor komponierten La lontananza nostalgica utopica futura sie explizit aufruft. So gelesen bezieht sich die Beschreibung träumend weniger auf eine individuell gemachte Erfahrung als mehr auf politische Imagination. Für Jürg Stenzl verweist der Traumbezug im Titel auf ein jeweils Anderes, nämlich eine „anders erfahrene Zeit und einen anders erfahrenen Raum“ (Stenzl 1991, 98; Stenzl 1996, 134; Stenzl 1998, 126). Nonos Hinweis auf das Träumen scheint in dieser Interpretation exemplarisch und gewissermaßen strukturell für einen Gegensatz zur Logik der Wachwirklichkeit zu stehen, der eine „Traumperspektive“ (Stenzl 1991, 99) einführt und dadurch Realitäten relativiert. Konkret interpretiert Stenzl das je Andere unter Bezug auf Nonos Rezeption von Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte; auch in dieser Interpretation steht die träumende Perspektive für „Utopie in einer Zeit, in welcher die großen Zukunftsentwürfe allesamt zusammengebrochen sind“ (Stenzl 1991, 99; Stenzl 1996, 134; Stenzl 1998, 126). Vom Träumen als einem Zustand „außerhalb jeder kausalen Folge von Vergangenheit und Zukunft“, in dem Utopien vorstellbar sind, spricht Impett (Impett 2019, 493; Übersetzung: HR).

Das utopische Moment im Violinduo hat Stefan Drees ausgehend von seiner Analyse von La lontananza nostalgica utopica futura und seiner Interpretation dieses Stücks unter Rückgriff auf Benjamins Begriff des Eingedenkens (Drees 1998, 163–168) genauer bestimmt: Das Stück für Violine solo und Tonbänder, das Bruchstücke von historischem Material verarbeitet, werde in „Hay que caminar“ sognando selbst zum Material einer Komposition, die damit auch „Fragmente eines historisch exakt bestimmbaren Schaffensabschnitts Nonos“ (Drees 1998, 170) enthalte: „Durch eine Reihe von Modifikationsprozessen entsteht – gleichsam als Anwendung des in La lontananza formulierten, utopischen Konzepts – Musik als schrittweise Erarbeitung neuer Möglichkeiten aus alten Zusammenhängen“ (Drees 1998, 170). Was neben diesem utopischen Moment den Traum-Bezug angeht, stellt Drees eine Verbindung der Traumerfahrung mit der Zeitorganisation von Nonos Komposition her: „In seiner unvorhersehbaren Abfolge von Brüchen, Fragmenten und Rätselbildern birgt der Traum ein vielschichtiges Bild der Realität; damit liefert er ein Charakteristikum, das auf die Aufhebung rationaler Zeitstrukturen in Nonos Musik verweist“ (Drees 1998, 169). Damit werden die gewissermaßen ‚formale Anlage‘ eines Traums und musikalisch komponierte Zeit verglichen: Wie die Anordnung der bruchstückhaften Klangereignisse in Nonos Musik zwar kompositorisch präzise ausgearbeitet ist, aber kaum voraushörbar erscheint, so ist auch eine geträumte Bilderfolge nicht im Vorhinein absehbar. In dieser Hinsicht erhellen sich die beiden im Werktitel verwendeten Verben gegenseitig: Der Traumbezug unterstreicht den Gedanken des Gehens, das den Weg erst entstehen lässt – während das Gehen ohne vorherbestimmten Weg auch eine mögliche Beschreibung einer Traumerfahrung darstellt. Dabei scheint das Gehen oder Wandern eher auf den räumlichen, das Träumen eher auf den zeitlichen Aspekt zu verweisen.

Die soeben zitierte Beschreibung von Drees impliziert einen weiteren Aspekt: Wie Traumbilder Bruchstücke der Wachwirklichkeit enthalten, so ist Nonos Stück fast vollständig aus Teilen einer früheren Komposition zusammengesetzt. Vor diesem Hintergrund kann man sognando auch als konkreten Verweis auf Nonos Vorgehen bei der Komposition verstehen: Träumend ist dann der Modus der Bearbeitung, der nicht nur historisches Material wie die scala enigmatica aus Verdis Ave Maria, sondern vor allem Material einer eigenen Komposition variiert und rekombiniert – oder, traumthematisch formuliert, eigene Erlebnisse verarbeitet. In der Partitur von La lontananza nostalgica utopica futura verwendet Nono die Spielanweisung „come ricordi come sogni come echi“ („wie Erinnerungen, wie Träume, wie Echos“, LLNUF, Leggio II, T. 1; Stenzl 1998, 126): Die Aufzählung impliziert, dass Träume für Nono mit Erinnerungen oder Echos vergleichbare Vergangenheitsbezüge darstellen können. Dass sognando im Titel des Violinduos nicht nur auf ein Zitat folgt, sondern dieses vor allem in einer anderen Sprache präzisiert, deutet ebenfalls darauf hin, dass träumend einen Bezug auf Vorgegebenes beschreiben kann. So verstanden verweist das Traumthema im Stücktitel auch auf den Aspekt, den Stenzl nennt, wenn er Nonos Haltung als Komponist als die eines „Wanderer[s] [...] auch in der Zeit, der Geschichte und Musikgeschichte“ (Stenzl 1998, 119) beschreibt. Traumbezogen interpretierbar ist auch das, mit Drees, „Element des Wanderns zwischen den Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (Drees 1998, 94): Im bereits zitierten Interview mit Enzo Restagni aus dem Jahr 1987 nämlich erwähnt Nono das Träumen im Zusammenhang der wechselseitigen Beziehung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Nono 2003, 119). Die Momente von Stille in seinem Streichquartett Fragmente – Stille, An Diotima stellten, so Nono, in ihrer Überlagerung von Zeiten bei der Wahrnehmung besondere Augenblicke dar: „Diese Stillen, in denen in unserem Ohr das, was wir gehört haben, eine Summe bildet, mit Vorausahnungen und Spannungen dessen, was noch fehlt, sind im wahrsten Sinne des Wortes aufgehobene Augenblicke“ (Nono 2003, 120). Dies präzisiert Nono mit dem Verweis auf einen „typisch Rilkesche[n] Augenblick [deutsch im Original], der antizipiert, träumt“ (Nono 2003, 120). Liest man den Traumbezug des Titels des Violinduos mit dieser Beschreibung, so steht er möglicherweise für die spezielle Zeiterfahrung, die das Duo ermöglicht – die Zeiterfahrung, von der Drees spricht, wenn er Nonos Musik als eine „Musik der Gegenwart“ beschreibt, „in der sich – basierend auf einer fragmentarisch erklingenden Vergangenheit – die klingende Jetztzeit im Hinblick auf eine Ahnung des Kommenden verdichtet“ (Drees 1998, 186).

Vielleicht ist die Tatsache, dass der Titel von „Hay que caminar“ sognando traumthematisch sowohl auf das Verfahren bei der Komposition als auch auf die ästhetische Erfahrung hin ausgelegt werden kann, die das Stück ermöglicht, die Besonderheit von Nonos Traumbezug.


Hendrik Rungelrath


Quellen und Literatur

Partituren

  • „Hay que caminar“ Soñando. Per 2 violini KOE 20 A. Mailand: Ricordi 1989 (134955), zit. als HQCS.
  • La lontananza nostalgica utopica futura. Madrigale per più „caminantes“ con Gidon Kremer. Violino solo 8 nastri magnetici da 8 a 10 leggii. Versione KOE 232. Mailand: Ricordi 1989 (134798/I), zitiert als LLNUF.

CD-Einspielungen

  • Luigi Nono: Fragmente – Stille, An Diotima/„Hay que caminar“ soñando. Disques Montaigne 1991 (MO 789005) (Irvine Arditti/David Alberman: Violine).
  • Luigi Nono: La lontananza nostalgica utopica futura/„Hay que caminar“ soñando. Deutsche Grammophon 1992 (DGG 435 870-2) (Gidon Kremer/Tatiana Grindenko: Violine).
  • Luigi Nono: Polifonica – Monodia – Ritmica/Canti per 13/Canciones a Guiomar/„Hay que caminar“ soñando. Wergo 1998 (WER 6631-2) (Andreas Bräutigam / Stephan Kalbe: Violine).
  • Jürg Frey: ohne titel (2 violinen)/Luigi Nono: „hay que caminar“ sognando. edition wandelweiser records 2001 (EWR 0103) (Joanna Becker/Clemens Merkel: Violine).
  • Luigi Nono: No hay caminos, hay que caminar… Andrej Tarkowskij/„Hay que caminar“ sognando/Caminantes… Ayacucho. KAIROS 2007 (0012512KAI) (Irvine Arditti/Graeme Jennings: Violine).
  • Bruno Maderna: Serenata per un satellite / Luigi Nono: „Hay que caminar“ sognando / Giorgio Netti: Inoltre. Nosag Records 2020 (nosag CD 240) (Duo Gelland: Cecilia Gelland/Martin Gelland: Violine).

Quellen

  • Nono, Luigi: Pour Edmond Jabès/Für Edmond Jabès. In: Nils Röller (Hg.): Migranten. Edmond Jabès – Luigi Nono – Massimo Cacciari. Berlin: Merve 1995, 24–27.
  • Nono, Luigi: Eine Autobiographie des Komponisten. Enzo Restagno mitgeteilt. Berlin, März 1987. In: Andreas Wagner (Hg.): Luigi Nono. Dokumente – Materialien (Schriftenreihe Netzwerk Musik Saar, Bd. 1). Saarbrücken: PFAU 2003, 34–138.

Forschungsliteratur

  • Borio, Gianmario: Art. Nono, Luigi. In: Stanley Sadie (Hg.): The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Bd. 18. London: Macmillan 2. neubearb. Ausg. 2001, 24–28.
  • Di Bona, Elvira: The Spatial Experience of Musical Sources. Two Case Studies. In: Phenomenology and Mind 14 (2018), 180–187.
  • Dollinger, Christina: Unendlicher Raum – zeitloser Augenblick. Luigi Nono: Das atmende Klarsein und 1° Caminantes ... Ayacucho. Saarbrücken: PFAU 2012.
  • Drees, Stefan: Architektur und Fragment. Studien zu späten Kompositionen Luigi Nonos. Saarbrücken: PFAU 1998.
  • Esterbauer, Erik: Eine Zone des Klangs und der Stille. Luigi Nonos Orchesterstück 2°) No hay caminos, hay que caminar…Andrej Tarkowskij. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011.
  • Haas, Georg Friedrich: Über: „Hay que caminar“ soñando. In: Otto Kolleritsch (Hg.): Die Musik Luigi Nonos. Studien zur Wertungsforschung. Bd. 24. Wien, Graz: Universal-Edition 1991, 325–337.
  • Impett, Jonathan: Routledge Handbook to Luigi Nono and Musical Thought. New York: Routledge 2019.
  • Linden, Werner: Luigi Nonos Weg zum Streichquartett. Vergleichende Analysen zu seinen Kompositionen Liebeslied, .....sofferte onde serene..., Fragmente-Stille, An Diotima. Kassel: Bärenreiter 1989.
  • Lange, Susanne/Petra Strien (Hg.): Spanische und hispanoamerikanische Lyrik. Bd. 3: Von José Martí bis Miguel Hernández. München: C. H. Beck 2022.
  • Sevsay, Ertuğrul: Handbuch der Instrumentationspraxis. Kassel: Bärenreiter 2. Aufl. 2010.
  • Stenzl, Jürg: Traum und Musik. In: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.): Musik und Traum. München: edition text + kritik 1991 (Musik-Konzepte 74), 8–102.
  • Stenzl, Jürg: Traum und Musik. In: Edgar Marsch (Hg.): Der Traum. Beiträge zu einem interdisziplinären Gespräch. Fribourg: Universitätsverlag 1996, 117–134.
  • Stenzl, Jürg: Luigi Nono. Reinbek: Rowohlt 1998.
  • Stenzl, Jürg: Art. Nono, Luigi. In: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearbeitete Ausgabe. Personenteil, Bd. 12. Kassel, Stuttgart: Bärenreiter/Metzler 2004, 1154–1171.

Anmerkungen

  1. Original und Übersetzung zit. nach Lange / Strien 2022, 106 f., Übersetzung von Susanne Lange; vgl. auch Haas 1991, 325; Stenzl 1996, 133; Esterbauer 2011, 30; Dollinger 2012, 92; Impett 2019, 449. Impett 2019, 449, weist darauf hin, dass Nono das entsprechende Gedicht Machados einige Jahre zuvor selbst hatte vertonen wollen, gibt dafür jedoch keine Quelle an.
  2. Für eine Untersuchung der Hörwahrnehmung von Raum und Klang im Raum am Beispiel von La lontananza nostalgica utopica futura und „Hay que caminar“ sognando vgl. Di Bona 2018.
  3. Die Verwendung einer als enigmatisch bezeichneten Tonleiter traumthematisch zu deuten, scheint indessen nicht naheliegend: Das Adjektiv enigmatisch bezieht sich weniger auf eine prinzipielle, möglicherweise traumhafte Rätselhaftigkeit als vielmehr darauf, dass die Tonleiter aufgrund ihrer Intervallfolge schwer Dur-moll-tonal zu harmonisieren ist. Zudem arbeitet Nono in anderen Kompositionen ebenfalls mit der Skala, ohne dass aus ihrer Verwendung ein deutlicher Traumbezug ableitbar wäre. Entsprechend verweist er in seinen Skizzen offenbar nicht auf die scala enigmatica als solche, sondern auf Verdis Ave Maria; vgl. Drees 1998, 177 und 239.


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Rungelrath, Hendrik: „‚Hay que caminar‘ sognando“ (Luigi Nono). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22%27Hay_que_caminar%27_sognando%22_(Luigi_Nono).