"Atys" (Jean-Baptiste Lully): Unterschied zwischen den Versionen
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 | Die 1676 entstandene ''tragĂ©die lyrique Atys'' des französischen Komponisten Jean-Baptiste Lully (1632â1687) beinhaltet als erste französische Oper eine Traumszene. Diese wurde wegweisend fĂŒr die Traumdarstellung in Oper und Instrumentalmusik. |  | Die 1676 entstandene ''tragĂ©die lyrique Atys'' des französischen Komponisten Jean-Baptiste Lully (1632â1687) beinhaltet als erste französische Oper eine Traumszene. Diese wurde wegweisend fĂŒr die Traumdarstellung in Oper und Instrumentalmusik. |
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 | ==Entstehung und AuffĂŒhrungsgeschichte== |  | ==Entstehung und AuffĂŒhrungsgeschichte== |
â | Die Entstehung der Oper ''Atys'' steht in Zusammenhang mit der ''Guerre de Hollande.'' Diese dehnt sich 1675 auf Seeschlachten von Frankreich gegen Holland und Spanien aus. Ludwig XIV, der selbst an der Front kĂ€mpft, kehrt von Juli 1675 bis MĂ€rz 1676 an seinen Hof zurĂŒck, bevor er im FrĂŒhjahr 1676 die KampfestĂ€tigkeit fortsetzt. In der Zeit seines Aufenthaltes in Paris wĂ€hlt er Atys als Opernsujet aus und wohnt der UrauffĂŒhrung am 10. Januar 1676 am Hof in Saint-Germain-en-Laye bei (vgl. Duron 1987b, 20). Lully und Philippe Quinault erwĂ€hnen im Prolog die bevorstehende RĂŒckkehr des Königs an die Front, sodass Duron annimmt, die Oper diene einzig der königlichen Unterhaltung (vgl. Duron 1987b, 20). Auf sentimentaler Ebene aber bezieht sie sich auf die Situation des Königs: | + | Die Entstehung der Oper ''Atys'' steht in Zusammenhang mit der ''Guerre de Hollande.'' Diese dehnt sich 1675 auf Seeschlachten von Frankreich gegen Holland und Spanien aus. Ludwig XIV, der selbst an der Front kĂ€mpft, kehrt von Juli 1675 bis MĂ€rz 1676 an seinen Hof zurĂŒck, bevor er im FrĂŒhjahr 1676 die KampfestĂ€tigkeit fortsetzt. In der Zeit seines Aufenthaltes in Paris wĂ€hlt er Atys als Opernsujet aus und wohnt der UrauffĂŒhrung am 10. Januar 1676 am Hof in Saint-Germain-en-Laye bei (vgl. Duron 1987b, 20). Lully und Philippe Quinault erwĂ€hnen im Prolog die bevorstehende RĂŒckkehr des Königs an die Front, sodass Duron annimmt, die Oper diene einzig der königlichen Unterhaltung (vgl. Duron 1987b, 20). Auf sentimentaler Ebene aber bezieht sie sich auf die Situation des Königs: Die Zeit der UrauffĂŒhrung des ''Atys'' fĂ€llt in eine Periode, in der Ludwig XIV keine Liebschaften unterhĂ€lt und in der er sich möglicherweise mit Atys Vorliebe fĂŒr âunbeteiligte Herzenâ identifiziert (vgl. Duron 1987b, 21). |
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â | Die UrauffĂŒhrung des ''Atys'' | + | Die UrauffĂŒhrung des ''Atys'' ist so erfolgreich gewesen, dass die Oper 1677, 1678 und 1682 in Saint-Germaine-en-Laye und 1753 am Hof in Fontainebleau wiederaufgenommen wird. Der Ăffentlichkeit wird das Werk im April 1676 an der Pariser Oper mit groĂem Erfolg prĂ€sentiert und erlebt sieben Wiederaufnahmen zwischen 1689 und 1747 (vgl. Rosow). Internationale AuffĂŒhrungen in Amsterdam, Marseille, Lyon, Rouen, BrĂŒssel, Metz, Lille und Den Haag folgen in den Jahren 1687â1749. ''Atys'' ist bis heute im Opernrepertoire, wobei insbesondere die historisch informierte WiderauffĂŒhrung unter der Regie von William Christie von 1987 hervorzuheben ist (vgl. Rosow). |
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 | ==Opernhandlung und Traumszene== |  | ==Opernhandlung und Traumszene== |
â | Die Oper ''Atys'' handelt von der tragischen Liebe der Göttin CybĂšle zu Atys. Im ersten Akt bereitet Atys mit Hilfe der Phrygier die Ankunft der Göttin vor, wĂ€hrend Sangaride, die eigentlich Atys liebt, erstmals auf ihren kĂŒnftigen Ehemann CĂ©lĂ©nus, König der Phrygier, treffen soll. Atys und CĂ©lĂ©nus geraten im zweiten Akt in Konflikt, weil beide das Amt des Hohepriesters fĂŒr CybĂšle ĂŒbernehmen wollen. CybĂšle, die Atys liebt, erwĂ€hlt diesen zum Hohepriester, kann ihm jedoch ihre Liebe aus GrĂŒnden der ''biensĂ©ance'' â der gesellschaftlich-sittlichen Normen â nicht gestehen. Kurz nachdem Atys sich fĂŒr Sangaride entschieden hat, sendet CybĂšle ihm im dritten Akt einen Traum. Darin erfĂ€hrt er von ihrer Liebe und der ihm drohenden Rache, sollte er sie zurĂŒckweisen. Als Sangaride fleht, CĂ©lĂ©nus nicht heiraten zu mĂŒssen, erkennt CybĂšle beider Liebe. Atys bittet CĂ©lĂ©nus im vierten Akt kraft seines Amtes als Hohepriester die Hochzeit mit Sangaride auszusetzen. Im fĂŒnften Akt erkennen CĂ©lĂ©nus und CybĂšle, dass sie hintergangen wurden: Die angekĂŒndigte Rache setzt ein, als CybĂšle Atys mit Wahnsinn belegt, dieser daraufhin Sangaride tötet und auch sich selbst, nachdem er seine Tat erkennt hat. ZurĂŒck bleibt CybĂšle, die Atys in eine Pinie verwandelt, als sie einsieht, dass sie auch sich gestraft hat (vgl. Duron 1987a, 28f.). | + | Die Oper ''Atys'' handelt von der tragischen Liebe der Göttin CybĂšle zu Atys. Im ersten Akt bereitet Atys mit Hilfe der Phrygier die Ankunft der Göttin vor, wĂ€hrend Sangaride, die eigentlich Atys liebt, erstmals auf ihren kĂŒnftigen Ehemann CĂ©lĂ©nus, König der Phrygier, treffen soll. Atys und CĂ©lĂ©nus geraten im zweiten Akt in Konflikt, weil beide das Amt des Hohepriesters fĂŒr CybĂšle ĂŒbernehmen wollen. CybĂšle, die Atys liebt, erwĂ€hlt diesen zum Hohepriester, kann ihm jedoch ihre Liebe aus GrĂŒnden der ''biensĂ©ance'' â der gesellschaftlich-sittlichen Normen â nicht gestehen. Kurz nachdem Atys sich fĂŒr Sangaride entschieden hat, sendet CybĂšle ihm im dritten Akt einen Traum. Darin erfĂ€hrt er von ihrer Liebe und der ihm drohenden Rache, sollte er sie zurĂŒckweisen. Als Sangaride fleht, CĂ©lĂ©nus nicht heiraten zu mĂŒssen, erkennt CybĂšle beider Liebe. Atys bittet CĂ©lĂ©nus im vierten Akt kraft seines Amtes als Hohepriester, die Hochzeit mit Sangaride auszusetzen. Im fĂŒnften Akt erkennen CĂ©lĂ©nus und CybĂšle, dass sie hintergangen wurden: Die angekĂŒndigte Rache setzt ein, als CybĂšle Atys mit Wahnsinn belegt, dieser daraufhin Sangaride tötet und auch sich selbst, nachdem er seine Tat erkennt hat. ZurĂŒck bleibt CybĂšle, die Atys in eine Pinie verwandelt, als sie einsieht, dass sie auch sich gestraft hat (vgl. Duron 1987a, 28f.). |
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â | Die als Divertissement gestaltete Traumszene steht kurz vor Ende des dritten Aktes. Die Traumszene wird dramaturgisch vorbereitet, indem CybĂšle bereits in Akt II, 3 im GesprĂ€ch mit ihrer Vertrauten MĂ©lisse darauf hinweist: âfay venir le Sommeil; que lui-mĂȘme en ce jour, / Prenne soin icy de conduire / Les songes qui luy font la Cour; / Atys ne sçait point mon amour, / Par un moyen nouveau je prentens lâen instruireâ ( | + | Die als Divertissement gestaltete Traumszene steht kurz vor dem Ende des dritten Aktes. Die Traumszene wird dramaturgisch vorbereitet, indem CybĂšle bereits in Akt II, 3 im GesprĂ€ch mit ihrer Vertrauten MĂ©lisse darauf hinweist: âfay venir le Sommeil; que lui-mĂȘme en ce jour,/ Prenne soin icy de conduire/ Les songes qui luy font la Cour;/ Atys ne sçait point mon amour,/ Par un moyen nouveau je prentens lâen instruireâ (A 10; âLass den Schlaf kommen;/ dass dieser selbst sich heute der Aufgabe annehme/ die TrĂ€ume zu leiten, die ihm [Atys] den Hof machen;/ Atys weiĂ nichts von meiner Liebe;/ durch ein neues Mittel, habe ich vor, ihn davon in Kenntnis zu setzenâ). Als Atys einschlĂ€ft (Akt III,3-4), verwandelt sich das BĂŒhnenbild von einem Palast in eine Grotte, umgeben von Mohn und BĂ€chen. Dies ist die Kulisse, vor der die Gottheiten des Schlafes erscheinen, gefolgt von den personifizierten guten und schlechten TrĂ€umen. Die Götter ĂŒberbringen Atys die Kunde von CybĂšles Liebe. Die guten TrĂ€ume bestĂ€rken ihn darin, die Liebe CybĂšles anzunehmen, wĂ€hrend die schlechten die von den Schlafgottheiten zuvor ausgesprochene Warnung vor ihrer Rache bei ZurĂŒckweisung bestĂ€rken (vgl. Henze-Döhring 1997, 316). Solche Personifizierungen von Gottheiten und TrĂ€umen im Musiktheater werden zu einem Topos von Traumszenen. Verbildlicht sind die TrĂ€ume als auf der BĂŒhne agierende Instrumentalisten und TĂ€nzer, wodurch eine Einheit von Musik und bildlicher Darstellung erzeugt wird (vgl. Henze-Döhring 1997, 317) und eine klare Abgrenzung des Traumes zur fiktionalen RealitĂ€t entsteht. Die Traumszene erhĂ€lt eine dramaturgische SchlĂŒsselrolle, da sich die Prophezeiungen der ''songes funestes'' auf der Handlungsebene bewahrheiten (vgl. Henze-Döhring 1997, 316). |
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 | ==Die Traumszene== |  | ==Die Traumszene== |
 | ===Aufbau=== |  | ===Aufbau=== |
â | Die Traumszene aus der Oper ''Atys'' ist in der vierten Szene des dritten Aktes als Divertissement angesiedelt. Damit hat das Divertissement die Position einer mittigen Symmetrieachse, die zugleich das emotionale Zentrum der Handlung â das LiebesgestĂ€ndnis CybĂšles â enthĂ€lt (vgl. Leopold 2006, 214). Dem Divertissement ist mit der dritten Szene eine Einschlafphase vorangestellt (III,3), in der Atys sich fĂŒr Sangaride entscheidet (vgl. Henze-Döhring 1997, 315). Die eigentliche Traumszene (III,4) beginnt mit einem ausgedehnten, vollbesetzen, instrumentalen PrĂ€ludium in g-Moll, auf das der Auftritt der guten und schlieĂlich derjenige der schlechten TrĂ€ume folgt. Die Traumzene ist so | + | Die Traumszene aus der Oper ''Atys'' ist in der vierten Szene des dritten Aktes als Divertissement angesiedelt. Damit hat das Divertissement die Position einer mittigen Symmetrieachse, die zugleich das emotionale Zentrum der Handlung â das LiebesgestĂ€ndnis CybĂšles â enthĂ€lt (vgl. Leopold 2006, 214). Dem Divertissement ist mit der dritten Szene eine Einschlafphase vorangestellt (III,3), in der Atys sich fĂŒr Sangaride entscheidet (vgl. Henze-Döhring 1997, 315). Die eigentliche Traumszene (III,4) beginnt mit einem ausgedehnten, vollbesetzen, instrumentalen PrĂ€ludium in g-Moll, auf das der Auftritt der guten und schlieĂlich derjenige der schlechten TrĂ€ume folgt. Die Traumzene ist so dreiteilig, wobei das PrĂ€ludium, mit den Arien der Schlafgottheiten, nach denen es wiederholt wird, den ersten musikalischen Teil in g-Moll bildet. Den zweiten Teil konstituieren weitere Arien der Schlafgötter sowie die Tanz- und Musikeinlagen der guten TrĂ€ume, ebenfalls in g-Moll. Die deutlichste ZĂ€sur bildet der harmonische Wechsel nach B-Dur, der mit Auftreten der schlechten TrĂ€ume einhergeht und den Beginn des dritten Teiles markiert (vgl. Wood 1981, 36). |
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 | ===Instrumentation=== |  | ===Instrumentation=== |
â | Weder aus Lullys Manuskripten (Lully o.J.) | + | Weder aus Lullys Manuskripten (Lully o.J.), aus spĂ€teren Nachdrucken (Lully 1689, 1709, 1720, 1998), noch aus der hier verwendeten modernen Ausgabe geht die exakte Instrumentation der Oper hervor. Diese ist aber von groĂer Bedeutung, da die Instrumentation von Traumszenen nach Vorbild Lullys zu einem Topos wird. Lullys 150-köpfiges Opernorchester hat neben den beiden fĂŒnfstimmigen Streichergruppen, dem ''grand choeur'' und dem solistisch besetzten ''petit choeur'', eine Continuogruppe aus zwei Cembalisten, sechs Theorben, Lauten und Violen und ein bis zwei basses de violon umfasst. Weitere 21 Musiker haben jeweils mehrere Holzblasinstrumente gespielt: Flöten, Oboen und Fagotte (vgl. La Gorce 1987, 85). Aus der Partitur des ''Atys'' geht hervor, dass eine Continuogruppe spielt. Der fĂŒnfstimmige Satz entspricht der SchlĂŒsselung nach dem fĂŒr Lully typischen Streichersatz. Der Einsatz von Flöten ist in der Partitur kenntlich gemacht, ebenso wie derjenige von zwei Violen, zwei Theorben, Flöten, einem zwölfstimmigen Chor der ''songes funestes'', zuzĂŒglich je acht tanzender guter und schlechter TrĂ€ume (vgl. A, 110ff.). |
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â | ===PrĂ€ludium und Terzett der Schlafgötter â erster Teil der | + | ===PrĂ€ludium und Terzett der Schlafgötter â erster Teil der Traumszene=== |
 | Das PrĂ€ludium, das das Divertissement einleitet, ist ein handlungsfreies Element, das als traumfreie Phase des Tiefschlafs interpretiert werden kann, wĂ€hrend die Gesangs-, Tanz- und Choreinlagen Teil des Onirischen sind (vgl. Alexandre 1987, 101). Das PrĂ€ludium ist mit Flöten instrumentiert, die zu einem Topos der Traumszenen werden (vgl. La Gorce 2010, 205). Harmonisch zeichnet es sich durch eine dem Schlaf gemĂ€Ăe Statik aus: g-Moll wird trotz BerĂŒhrung des doppeldominantischen Bereiches (z. B. T. 8; alle Taktangaben beziehen sich auf die Ausgabe A) und des Einsatzes von Zwischendominanten (T. 15ff.) und Vorhaltbildungen (z. B. T. 48: Quartvorhalt) nicht in Frage gestellt. |  | Das PrĂ€ludium, das das Divertissement einleitet, ist ein handlungsfreies Element, das als traumfreie Phase des Tiefschlafs interpretiert werden kann, wĂ€hrend die Gesangs-, Tanz- und Choreinlagen Teil des Onirischen sind (vgl. Alexandre 1987, 101). Das PrĂ€ludium ist mit Flöten instrumentiert, die zu einem Topos der Traumszenen werden (vgl. La Gorce 2010, 205). Harmonisch zeichnet es sich durch eine dem Schlaf gemĂ€Ăe Statik aus: g-Moll wird trotz BerĂŒhrung des doppeldominantischen Bereiches (z. B. T. 8; alle Taktangaben beziehen sich auf die Ausgabe A) und des Einsatzes von Zwischendominanten (T. 15ff.) und Vorhaltbildungen (z. B. T. 48: Quartvorhalt) nicht in Frage gestellt. |
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 | Einen wiegenliedhaften Gestus schaffen die stets prĂ€senten zweigebundenen Viertel, die sich ĂŒberwiegend schrittweise bewegen (vgl. La Gorce 2010, 205) und dialogartig zwischen Streichern und Flöten alterieren (z. B. T. 1-6: Streicher, T. 6-10: Flöten). Diese Motivik wird zum Topos in Schlafszenen (vgl. Wood 1996, 328). Das PrĂ€ludium setzt sich aus diesem Material fort, wobei die Begleitfigur aus ganzer Note mit Nachschlag, die erstmals in den tiefen Streichern zu den zweigebundenen Vierteln erschienen war (T. 1-3), zunehmend prominent wird (T. 45-48 und ab T. 54). Sie trĂ€gt zur Beruhigung der rhythmisch-melodischen Bewegung gemÀà dem Einschlafen bei. Aufgrund der dramaturgisch geschickten Gestaltung des PrĂ€ludiums, die aus dem prĂ€zisen Einsatz der monotonen, sich trotz der stetigen Viertelbewegung beruhigenden Motivik und der alterierenden Klangfarben resultiert, gelingt Lully eine musikalisch ökonomische aber wirkungsvolle HinfĂŒhrung zum Traumgeschehen. |  | Einen wiegenliedhaften Gestus schaffen die stets prĂ€senten zweigebundenen Viertel, die sich ĂŒberwiegend schrittweise bewegen (vgl. La Gorce 2010, 205) und dialogartig zwischen Streichern und Flöten alterieren (z. B. T. 1-6: Streicher, T. 6-10: Flöten). Diese Motivik wird zum Topos in Schlafszenen (vgl. Wood 1996, 328). Das PrĂ€ludium setzt sich aus diesem Material fort, wobei die Begleitfigur aus ganzer Note mit Nachschlag, die erstmals in den tiefen Streichern zu den zweigebundenen Vierteln erschienen war (T. 1-3), zunehmend prominent wird (T. 45-48 und ab T. 54). Sie trĂ€gt zur Beruhigung der rhythmisch-melodischen Bewegung gemÀà dem Einschlafen bei. Aufgrund der dramaturgisch geschickten Gestaltung des PrĂ€ludiums, die aus dem prĂ€zisen Einsatz der monotonen, sich trotz der stetigen Viertelbewegung beruhigenden Motivik und der alterierenden Klangfarben resultiert, gelingt Lully eine musikalisch ökonomische aber wirkungsvolle HinfĂŒhrung zum Traumgeschehen. |
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â | Dieses setzt nahtlos mit dem Terzett âDormons, dormons tousâ des Schlafgottes und seiner Söhne ein. Dass das Traumgeschehen Schlafgötter beinhaltet und dass der Traum eine Botschaft CybĂšles ist, verortet es in den Bereich der songes divins. | + | Dieses setzt nahtlos mit dem Terzett âDormons, dormons tousâ des Schlafgottes Le Sommeil und seiner Söhne MorphĂ©e, PhobĂ©tor und Phantase ein. Dass das Traumgeschehen Schlafgötter beinhaltet und dass der Traum eine Botschaft CybĂšles ist, verortet es in den Bereich der ''songes divins''. Deren Existenz wird im 17. Jahrhundert in Natur- und Geisteswissenschaften, Theologie, Mystik und Volksglauben aufgrund der AutoritĂ€t der Bibel anerkannt (vgl. Dandrey 1988, 85ff.; Simon 1988, 141f.; Matton 1988, 157, 162-176; Gautier 1988, 9, 13f., 17). Bei Lully ist das Traumgeschehen durch die Rahmenthematik und die Figuren in die Mythologie ĂŒbertragen und bietet damit Raum fĂŒr das Merveilleux. Ferner ist es eine innerhalb der Fiktion und vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Ideen der Zeit plausibel erscheinende und der biensĂ©ance entsprechende Form des LiebesgestĂ€ndnisses einer Göttin. |
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â | Das Terzett, das durch eine halbe Pause vom PrĂ€ludium abgesetzt ist (T. 57), setzt das Schlafmotiv des PrĂ€ludiums ostinat fort (vgl. Wood 1996, 328). GemÀà der Schlafthematik bewegt sich die Harmonik konstant in g-Moll. Die Melodik des Schlafgottes ist von Tonwiederholungen und langen Notenwerten geprĂ€gt, die seine Aufforderung zum Schlafen illustrieren (T. 58-62). Bei der Beschreibung der SĂŒĂe dieser TĂ€tigkeit verengt sich die Melodiebewegung auf kleine und groĂe Sekunden. | + | Das Terzett, das durch eine halbe Pause vom PrĂ€ludium abgesetzt ist (T. 57), setzt das Schlafmotiv des PrĂ€ludiums ostinat fort (vgl. Wood 1996, 328). GemÀà der Schlafthematik bewegt sich die Harmonik konstant in g-Moll. Die Melodik des Schlafgottes ist von Tonwiederholungen und langen Notenwerten geprĂ€gt, die seine Aufforderung zum Schlafen illustrieren (T. 58-62). Bei der Beschreibung der SĂŒĂe dieser TĂ€tigkeit verengt sich die Melodiebewegung auf kleine und groĂe Sekunden. MorphĂ©e beschwört anschlieĂend den Schlaf, die Sinne zu beruhigen und verweist damit auf die historische Ansicht, im Schlaf- und Traumprozess kĂŒhle sich das Gehirn ab und Geist und Sinne verlangsamten sich. Angesichts solcher Hinweise ist davon auszugehen, dass Lully die damaligen Traumvorstellungen bekannt waren und er eine dementsprechend angepasste Darstellung des Traums innerhalb der mythologischen Fiktion versucht. MorphĂ©es Beschwörung ist von der Singstimme seines Vaters abgesetzt durch eine Modulation nach c-Moll (T. 74) und das Wiedererscheinen der punktierten, eine Tonrepetition beinhaltenden Motive, die im Instrumentalvorspiel zu Atys Einschlafrezitativ Verwendung fanden (vgl. III,3, T. 1-10). Tonmalerisch wird bei MorphĂ©es Aufforderung, die Herzen mit einem tiefen Frieden â dem Schlaf und dem Traum â zu beruhigen, die Anzahl der Tonrepetitionen erhöht, sodass es melodisch zu einer Stagnation kommt. Lully moduliert zudem, die âpaix profondeâ illustrierend, zurĂŒck in die Grundtonart (T. 100) und lĂ€sst die Melodie innerhalb von drei Takten um eine Oktave abfallen (T. 100-102). Dass Atys durch das Wirken der Götter in den Schlaf gefunden hat, zeigt die zwei Takte wĂ€hrende Generalpause (T. 113f.). |
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â | + | PhobĂ©tor evoziert nun die Traumwelt â die in der BĂŒhnenkulisse dargestellten, dahinflieĂenden BĂ€che. Musikalisch wird das Onirische ĂŒber den Einsatz der Flöten (T. 105) markiert. Diese fĂŒhren die Motivik aus punktierten Tonrepetitionen fort, wĂ€hrend in der Singstimme neben oftmals ebenmĂ€Ăigen Tonrepetitionen (T. 105 und T. 118-133), die den Schlaf verkörpern, schrittweise absteigende, punktierte Motive erscheinen, die das FlieĂen der BĂ€che illustrieren (T. 108-117). Zudem verlĂ€sst das Continuo erstmals die Viertelmotivik zugunsten einer mit der Gesangsstimme fast stĂ€ndig unisono gefĂŒhrten Melodik. Lully evoziert mittels der Flöten und der Motivik den Schlaf als ruhig-sĂŒĂen Zustand. Zugleich zeigt er ihn mit der Darstellung der BĂ€che als Ort der Illusion. Die Harmonik verharrt stabil in g-Moll. Schlaf als Voraussetzung fĂŒr den Traum ist so entsprechend der damaligen Vorstellungen (vgl. Dandrey 1988, 72f.) auch bei Lully ein Zustand der geistigen InaktivitĂ€t. | |
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â | Die Wiederholung Anfangsphrase âDormons, dormons tousâ durch den Sommeil (T. 121-146), greifen die Söhne leicht polyphon versetzt auf (T. 145f.) und wandeln sie motivisch ab, indem sie Teile derselben (z. B. T. 148-150: MorphĂ©e als Abwandlung der Motivik aus T. 139-142) mit den schon bekannten | + | Die Wiederholung der Anfangsphrase âDormons, dormons tousâ durch den Sommeil (T. 121-146), greifen die Söhne leicht polyphon versetzt auf (T. 145f.) und wandeln sie motivisch ab, indem sie Teile derselben (z. B. T. 148-150: MorphĂ©e als Abwandlung der Motivik aus T. 139-142) mit den schon bekannten Tonrepetitionen (z. B. T. 151 in allen Stimmen) kombinieren. Die Continuostimme verbindet dabei die punktierte (z.B. T. 150f.) mit der gebundenen Viertelmotivik (T. 162). Harmonisch bleibt auch das Terzett stabil in g-Moll. Geschickt baut Lully aber eine harmonische Schlussspannung auf, indem er ĂŒber den Wechsel der Nebenfunktionen und ihrer Dominanten sowie ĂŒber die EinfĂŒgung eines Trugschlusses (T. 172f.) und eines plagalen (also mit der Subdominante gebildeten) Schlusses (T. 174f.) die eigentliche Tonika bis in den Schlusstakt des Terzetts zurĂŒckhĂ€lt.<ref>Die Subdominante c-Moll in T. 156 wird ĂŒber die Dominante auf Zz. 1 erreicht. AnschlieĂend erscheint wieder G-Dur als Zwischendominante, der eine Septime hinzugefĂŒgt wird und die sich wiederum in c-Moll auflöst (T. 158), das diesmal mit Sekundvorhalt erscheint. Wieder erfolgt ein Wechsel zur Zwischendominante, deren Quartvorhalt sich auflöst (T. 148) und sich abermals in die Zwischendominante auflöst. In der Folge wird ein Ă€hnliches Spiel mit der Tonikaparallele und ihrer Zwischendominante verfolgt. Ăber die Tonikaparallele wird die Dominante D-Dur (T. 169) erreicht, die sich nach einem Spannungsaufbau durch einen Trugschluss (T. 172f.) und einen plagalen Schluss (T. 174f.) schlussendlich mit Erreichen der Schlusstakte in die Tonika auflöst (T. 178-180).</ref> Begleitet wird dieser Spannungsbogen von der zunehmenden melodischen AbwĂ€rtsbewegung. Die im Text des Terzetts wiederholte Aufforderung zum Schlafen geht mit einer musikalischen Zusammenfassung der gesamten Arie einher. Hierauf folgt die Wiederholung des PrĂ€ludiums, die einen groĂformalen dreiteiligen ersten Abschnitt der Schlafszene schafft. Die Verwendung von PrĂ€ludien in Zusammenhang mit Traumszenen verbreitet sich in der Nachfolge Lullys, wobei die von Lully gegebene Strukturierung mit eingeschobener Arie einzigartig bleibt (vgl. La Gorce 2010, 205). |
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 | Der Auftritt der guten TrĂ€ume, die tanzend und singend zu den Schlafgöttern hinzutreten, bildet den Mittelteil der Traumszene. Mit der Arie âEscoute, escoute Atysâ berichten die Götter Atys von der Liebe CybĂšles. Ăber einem Continuo aus langen Noten und dem Schlafmotiv hebt MorphĂ©e auf die Glorie ab, die Atys erwartet, wenn er ihre Liebe annimmt. Der Gesang mit seinen punktierten Tonrepetitionen (T. 2ff., T. 10-13) im wiegenden Zweiertakt, den ebenmĂ€Ăigen Tonwiederholungen (T. 5-8, T. 14), der sich stabil in g-Moll bewegenden Harmonik sowie der ĂŒberwiegend schrittweisen Bewegung bezieht sich im Gestus auf den Moment des Einschlafens in Szene III,3 und die Traumdarstellung im PrĂ€ludium ab dem Einsatz der SĂ€nger. Dies erlaubt Lully, der Szenerie eine auĂerordentliche Geschlossenheit und Ruhe zu verleihen, die den Moment des Schlafens einfĂ€ngt. |  | Der Auftritt der guten TrĂ€ume, die tanzend und singend zu den Schlafgöttern hinzutreten, bildet den Mittelteil der Traumszene. Mit der Arie âEscoute, escoute Atysâ berichten die Götter Atys von der Liebe CybĂšles. Ăber einem Continuo aus langen Noten und dem Schlafmotiv hebt MorphĂ©e auf die Glorie ab, die Atys erwartet, wenn er ihre Liebe annimmt. Der Gesang mit seinen punktierten Tonrepetitionen (T. 2ff., T. 10-13) im wiegenden Zweiertakt, den ebenmĂ€Ăigen Tonwiederholungen (T. 5-8, T. 14), der sich stabil in g-Moll bewegenden Harmonik sowie der ĂŒberwiegend schrittweisen Bewegung bezieht sich im Gestus auf den Moment des Einschlafens in Szene III,3 und die Traumdarstellung im PrĂ€ludium ab dem Einsatz der SĂ€nger. Dies erlaubt Lully, der Szenerie eine auĂerordentliche Geschlossenheit und Ruhe zu verleihen, die den Moment des Schlafens einfĂ€ngt. |
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â | Im sich anschlieĂenden Terzett der Schlafgottsöhne (T. 16-25) warnt Lully, dass die Liebe CybĂšles ewige Treue erfordere. Ein erstmaliger Tonartwechsel nach B-Dur (T. 16-20), der spĂ€teren Tonart der songes funestes, deutet auf deren Auftritt im dritten Teil der Szene voraus (vgl. Leopold 2006, 214) und verleiht der Warnung zusammen mit der Zunahme der Besetzung und der homophonen, von Tonrepetitionen geprĂ€gten Deklamation eine bedrohliche EindrĂŒcklichkeit. AuffĂ€llig ist, dass die Unsterblichkeit der Schönheit CybĂšles und damit ihrer Person (T. 16-20) in B-Dur gesetzt ist, wĂ€hrend der zweite Phrasenteil (T. 21-25) in g-Moll ewige Treue und Liebe beinhaltet. Mit der Tonika wird hier der positive Ausgang der Liebe | + | Im sich anschlieĂenden Terzett der Schlafgottsöhne (T. 16-25) warnt Lully, dass die Liebe CybĂšles ewige Treue erfordere. Ein erstmaliger Tonartwechsel nach B-Dur (T. 16-20), der spĂ€teren Tonart der ''songes funestes'', deutet auf deren Auftritt im dritten Teil der Szene voraus (vgl. Leopold 2006, 214) und verleiht der Warnung zusammen mit der Zunahme der Besetzung und der homophonen, von Tonrepetitionen geprĂ€gten Deklamation eine bedrohliche EindrĂŒcklichkeit. AuffĂ€llig ist, dass die Unsterblichkeit der Schönheit CybĂšles und damit ihrer Person (T. 16-20) in B-Dur gesetzt ist, wĂ€hrend der zweite Phrasenteil (T. 21-25) in g-Moll ewige Treue und Liebe beinhaltet. Mit der Tonika wird hier der positive Ausgang der Liebe - vorausgesetzt Atys nimmt sie an - harmonisch verdeutlicht. Im zweiten Teil der Warnung (T. 26-41) singt Phantase solistisch zur Continuobegleitung in g-Moll und bestĂ€rkt die Vorteilhaftigkeit der Liebe zu einer Göttin mit einem neuen, schrittweise aufsteigenden Motiv, das um zwei, satztechnisch korrekt in Gegenrichtung aufgefangene QuartsprĂŒnge abfĂ€llt (T. 26ff.). Die abfallende Bewegung sowie das Erreichen der Tonika auf âattraitsâ, den Reizen der Liebe zu CybĂšle, verdeutlichen musikalisch den Zwang, dem Atys ausgesetzt ist. Lully hebt diesen weiter hervor, indem er ĂŒber wellenartige melodische Bewegung den Spitzenton f auf âpuissanceâ, der Macht CybĂšles ĂŒber die Liebe und ĂŒber Atys, erreicht (dies wird im Folgenden als Liebesmachtmotivik bezeichnet). Nach einer Wiederholung der ersten und der nach oben sequenzierten zweiten Phrase (T. 34-38), wird mit Besingen der nie endenden Liebe ĂŒber die Schlusskadenz mit Quartvorhalt die Grundtonart erreicht (T. 39ff.). So ist die Akzeptanz des Antrags von CybĂšle musikalisch als einzig mögliche Lösung ausgewiesen. |
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â | Hieran schlieĂt sich der instrumental untermalte Tanz der ''songes agrĂ©ables'' an (''EntrĂ©e des songes agrĂ©ables''). Besetzt ist er mit dem fĂŒnfstimmigen Lullyschen Streichersatz, sowie höchstwahrscheinlich colla parte mit den in der | + | Hieran schlieĂt sich der instrumental untermalte Tanz der ''songes agrĂ©ables'' an (''EntrĂ©e des songes agrĂ©ables''). Besetzt ist er mit dem fĂŒnfstimmigen Lullyschen Streichersatz, sowie höchstwahrscheinlich colla parte<ref>Als colla parte wird eine mit den Gesangstimmen identische Instrumentalbegleitung bezeichnet.</ref> mit den in der Regieanweisung (S. 110) genannten, auf der BĂŒhne spielenden Violen und Theorben. Der homophon gesetzte Tanz kombiniert, wie fĂŒr Instrumentalformen der frĂŒhen französischen Oper ĂŒblich (vgl. Anthony 1990, 68), Phantases Motive der Reize der Liebe (T. 1-3) und ihrer Macht (T. 4-6) mit den aus dem PrĂ€ludium bekannten Tonrepetitionen in kleinschrittiger Reihung (T. 6-10). Harmonisch verbleibt dieser wiederholte Teil A des Tanzes (T. 1-10) in g-Moll. Teil B ist zweiteilig. Im Abschnitt a (T. 11-18) verlangsamt sich die Bewegung der Begleitstimmen, wĂ€hrend in der Oberstimme ein bewegter Gestus aus punktierten Tonrepetitionen (T. 11, T. 15f.), Motivabspaltungen des Liebesmachtmotivs (T. 12) sowie schrittweise Achtelbewegungen (T. 13) erscheinen. Harmonisch bewegt sich dieser Abschnitt zur Tonikaparallele (T. 18). Die sechstaktige, identisch wiederholte Phrase des Abschnittes b (T. 18-30) kombiniert die Punktierungen aus Abschnitt a mit der Schlafmotivik aus Tonrepetitionen. Die erste Phrase öffnet sich zur Dominante, wĂ€hrend die zweite in die Tonika mit pikardischer Terz schlieĂt. Auch hier ist die Harmonik, die den Schlaf als Zustand des körperlichen Ruhens darstellt, Ă€uĂerst stabil. Die auf der BĂŒhne agierenden SĂ€nger und Instrumentalisten stellen die Traumbilder dar. Da diese Figuren nicht explizit göttlichen Ursprungs sind, könnten sie auch die ''songes animaux'' verkörpern. |
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â | In der folgenden Arie âGouste en paixâ singt | + | In der folgenden Arie âGouste en paixâ singt PhobĂ©tor in der bereits bekannten Motivik aus punktierten Tonrepetitionen zu der fĂŒr Schlafszenen seit Lully typischen Flöten- und Continuobegleitung in einem ersten Abschnitt A (T. 1-15) vom Frieden und dem GlĂŒck einer göttlichen Liebe, die es wert ist, sich der Kette ewiger Treue zu ergeben. Auch hier wird g-Moll nicht verlassen. Die Göttlichkeit CybĂšles wird mit einer aufsteigenden Melodielinie und dem Spitzenton d auf âdivinitĂ©â in ihrer Bedeutung hervorgehoben (T. 6-8). Nicht nur ist die Tatsache, dass CybĂšle Göttin ist, Anlass fĂŒr das Auftreten der Götter zur Ăberbringung der Liebesbotschaft, es ist zugleich Grund fĂŒr die ZwĂ€nge, denen Atys sich unterworfen sieht. Die melodische Kulmination fĂ€llt somit auch mit der Peripetie der Oper zusammen. Im Anschluss hieran fĂ€llt die Melodie sukzessive um den Tonumfang einer Undezime. Die Phrase endet offen in der Dominante, sodass die Aussage des GlĂŒcks einer göttlichen Liebe nicht bestĂ€tigt wird. Die klangliche Lieblichkeit, erzeugt durch die ab T. 9 fast durchgĂ€ngig in Terzen gesetzten Flöten, erscheint in ihrer Verbildlichung der Worte PhobĂ©tors als ironischer Kommentar auf die von ihm in tiefster Lage und mit absteigender Melodik besungene Schönheit der Ketten der Liebe. An PhobĂ©tors mehrdeutiges Lob einer Liebe, die Unfreiheit bedeutet, schlieĂt sich die schon bekannte Warnung der Schlafgötter (T. 16-25) sowie deren BekrĂ€ftigung durch Phantase (T. 26-41) an. Die Wiederholung des ''EntrĂ©e der songes agrĂ©ables'' beschlieĂt den zweiten Teil der Szene. Mit der Darstellung der guten TrĂ€ume bewegt Lully sich im Bereich der ''songes divins'' und der ''songes animaux''. Seine Traumszene folgt somit den in Medizin, Philosophie und Theologie gelĂ€ufigen Vorstellungen gottgesandter TrĂ€ume und der darin auftretenden Gestalten. |
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â | ===Der Auftritt der ''songes funestes'' â Teil | + | ===Der Auftritt der ''songes funestes'' â dritter Teil der Traumszene=== |
â | Mit dem Auftritt der songes funestes erhĂ€lt ein dĂ€monisches Element Eintritt in die Traumszene. Schlechte TrĂ€ume können einerseits innerhalb der songes corporels bei schlechter körperlicher Verfassung (vgl. Dandrey 1988, 87), andererseits in von DĂ€monen ausgelösten songes divins, wie sie | + | Mit dem Auftritt der ''songes funestes'' erhĂ€lt ein dĂ€monisches Element Eintritt in die Traumszene. Schlechte TrĂ€ume können einerseits innerhalb der ''songes corporels'' bei schlechter körperlicher Verfassung (vgl. Dandrey 1988, 87) auftreten, andererseits in von DĂ€monen ausgelösten ''songes divins'', wie sie auch die Medizin annimmt (vgl. Dandrey 1988, 85f.). Ferner kommen sie in DĂ€monentrĂ€umen vor (vgl. Matton 1988, 157). Sie sind damit im Bereich des Bedrohlichen angesiedelt, in dem böse MĂ€chte als Gegenspieler Gottes oder gesundheitliche Probleme im todesĂ€hnlichen Schlafzustand wirken. |
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â | Ihr Auftritt in der Oper ''Atys'' ist auf allen Ebenen von der vorangehenden Traumszene abgesetzt. Am augenfĂ€lligsten ist die Ablösung aller zuvor aufgetretenen Figuren durch die Personifizierungen der schlechten TrĂ€ume und einen einzigen SĂ€nger. Von nun an steht B-Dur, die Tonart des DĂ€monischen (vgl. Henze-Döhring 1997, 318) | + | Ihr Auftritt in der Oper ''Atys'' ist auf allen Ebenen von der vorangehenden Traumszene abgesetzt. Am augenfĂ€lligsten ist die Ablösung aller zuvor aufgetretenen Figuren durch die Personifizierungen der schlechten TrĂ€ume und einen einzigen SĂ€nger. Von nun an steht B-Dur im Zentrum, die Tonart des DĂ€monischen (vgl. Henze-Döhring 1997, 318). Die Flöten als Symbol der guten TrĂ€ume treten nicht mehr auf; anstelle von Arien erscheint ein Rezitativ (vgl. Duron 1987c, 59). Die tiefe Lage des Rezitativs âGarde-toy dâoffencer un amour glorieuxâ, die Beschleunigung des Rhythmus durch zahlreiche Achteln (z. B. T. 3) und die Verdopplung der Geschwindigkeit bei den Punktierungen (z. B. T. 2) sorgen fĂŒr einen gewandelten musikalischen Charakter. Signifikant verĂ€ndert ist auch die Continuobegleitung, die mit langen Notenwerten die Taktschwerpunkte betont und eine hauptsĂ€chlich harmonische Funktion ĂŒbernimmt. Die Motivik des Gesangs aber bleibt derjenigen der guten TrĂ€ume Ă€hnlich: Tonwiederholungen und Punktierungen, nun jedoch abgewandelt durch stĂ€rkere melodische Bewegung und einen groĂen Tonumfang bilden die zentralen Elemente. Der ''songe funeste'' beginnt seine Warnung vor der Rache CybĂšles mit der zweimaligen Folge von Sext- bzw. Terzsprung abwĂ€rts und schrittweise aufwĂ€rtsgerichteter Bewegung (T. 1-5). Der Spitzenton c (T. 5) sowie eine harmonische Ausweichung nach C-Dur werden erreicht, als er erklĂ€rt, dass CybĂšle fĂŒr ihre Liebe zu einem Sterblichen den Himmel wird verlassen mĂŒssen, und damit die HĂ€rte der Racheandrohungen begrĂŒndet. Auf halbtönige Schritte (T. 5f.) verengt sich in der nĂ€chsten Phrase die melodische Bewegung, als Atys aufgefordert wird, CybĂšles Hoffnung nicht zu vernichten. Die kleinen Intervallschritte deuten bildlich auf die geringe Hoffnung, die fĂŒr sie besteht. Die Motivik kehrt mit den Rachedrohungen zu auf- und absteigenden Skalen zurĂŒck, die mit Tonrepetitionen und Punktierungen durchsetzt sind (T. 7-15). Durch das erneute Erscheinen von C-Dur in T. 10, als der ''songe funeste'' vom eifersĂŒchtigen Herzen spricht, verdeutlicht Lully harmonisch in Bezugnahme auf die vorherige Ausweichung nach C-Dur (T. 5), dass es sich um CybĂšles Herz handelt. Die Arie schlieĂt mit der Drohung, dass Atys sich einer so mĂ€chtigen Liebe nicht widersetzen dĂŒrfe. Die Gesangsstimme schwingt sich dabei schrittweise auf (T. 13) und schlieĂt in der Tonika. Ebenso unausweichlich wie das B-Dur dieses Szenenteils ist auch die Liebe CybĂšles und damit der tragische Opernausgang. |
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â | Die Tanzeinlage, ''EntrĂ©e des songes funestes'', ist homophon im fĂŒnfstimmigen Lullyschen Streichersatz instrumentiert. Durch die in allen Stimmen gleichzeitig gesetzten Akkordwechsel oder -wiederholungen auf Hauptzeiten sowie die repetierten Punktierungen entsteht ein marschartiger, rigider Charakter. Die Melodiestimme im dessus de violon lockert diese rhythmischen Strukturen nicht grundsĂ€tzlich auf. Nach einer einfĂŒhrenden, absteigenden Sechzehntelskala (T. 1) folgt die Melodik einer Grundstruktur aus punktierten, repetierten Vierteln, hĂ€ufig parallel zur Begleitung (z. B. T. 2f.). Dies wird von Fragmenten aus der Sechzehntelkette, die entweder in lange Noten (z. B. T. 5-7) oder in punktierte Vierteln mĂŒnden (ab T. 22) | + | Die Tanzeinlage, ''EntrĂ©e des songes funestes'', ist homophon im fĂŒnfstimmigen Lullyschen Streichersatz instrumentiert. Durch die in allen Stimmen gleichzeitig gesetzten Akkordwechsel oder -wiederholungen auf Hauptzeiten sowie die repetierten Punktierungen entsteht ein marschartiger, rigider Charakter. Die Melodiestimme im dessus de violon lockert diese rhythmischen Strukturen nicht grundsĂ€tzlich auf. Nach einer einfĂŒhrenden, absteigenden Sechzehntelskala (T. 1) folgt die Melodik einer Grundstruktur aus punktierten, repetierten Vierteln, hĂ€ufig parallel zur Begleitung (z. B. T. 2f.). Dies wird von Fragmenten aus der Sechzehntelkette durchsetzt, die entweder in lange Noten (z. B. T. 5-7) oder in punktierte Vierteln mĂŒnden (ab T. 22). Die Melodie ist von marschartigem Charakter, den die zahlreichen SprĂŒnge (z. B. der Sextsprung T. 11) und die im Vergleich zu den guten TrĂ€umen bewegte melodische Bewegung kaum aufzulockern vermögen. Die Tonart ist fest in B-Dur verankert. Beide Teile (T. 1-15, T. 16-31) verwenden dieselbe Motivik. Lully zeichnet hier das DĂ€monische nach, das die ''songes divins'' bedrohlicher Art kennzeichnet. |
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â | Der ''ChĆur des songes funestes'' radikalisiert die Motivik der EntrĂ©e, indem ein vierstimmiger Chor homophon und homorhythmisch in fast ausschlieĂlicher Viertelbewegung (vgl. Duron 1987c, 61) die Rache CybĂšles bei Untreue des Atys syllabisch deklamierend beschwört. Der harmonische Rhythmus ist auf vorwiegend taktweise Bewegung verlangsamt (T. 1-3, T. 5f., 12ff., 16-20, 22-28), wobei die Grundtonart nicht verlassen wird. Die akkordische Bewegung wird von fast ausschlieĂlich schrittweisen melodischen Linien begleitet, deren einförmige Viertelbewegung nur an den Phrasenenden durch Punktierungen und abschlieĂende ganze Noten (T. 4f., 9, 14, 15, 16, 18, 22, 24, 27f.) aufgebrochen wird. Lully erstrebt eine Chorrezitation nach Vorbild der griechischen Tragödie: Das Wort steht im Vordergrund. Der nicht am Sprechduktus orientierte, sondern auf gleichmĂ€Ăige Bewegung gerichtete Rhythmus erzeugt einen marschartigen, drohenden Charakter. Dieser vollendet sich mit der zweimal (T. 17-22, 23-28) gesungenen Todeswarnung, deren zweiten Teil âTremble, tremble, crains un affreux trĂ©pasâ (âZittere, zittere, fĂŒrchte einen schrecklichen | + | Der ''ChĆur des songes funestes'' radikalisiert die Motivik der EntrĂ©e, indem ein vierstimmiger Chor homophon und homorhythmisch in fast ausschlieĂlicher Viertelbewegung (vgl. Duron 1987c, 61) die Rache CybĂšles bei Untreue des Atys syllabisch deklamierend beschwört. Der harmonische Rhythmus ist auf vorwiegend taktweise Bewegung verlangsamt (T. 1-3, T. 5f., 12ff., 16-20, 22-28), wobei die Grundtonart nicht verlassen wird. Die akkordische Bewegung wird von fast ausschlieĂlich schrittweisen melodischen Linien begleitet, deren einförmige Viertelbewegung nur an den Phrasenenden durch Punktierungen und abschlieĂende ganze Noten (T. 4f., 9, 14, 15, 16, 18, 22, 24, 27f.) aufgebrochen wird. Lully erstrebt eine Chorrezitation nach Vorbild der griechischen Tragödie: Das Wort steht im Vordergrund. Der nicht am Sprechduktus orientierte, sondern auf gleichmĂ€Ăige Bewegung gerichtete Rhythmus erzeugt einen marschartigen, drohenden Charakter. Dieser vollendet sich mit der zweimal (T. 17-22, 23-28) gesungenen Todeswarnung, deren zweiten Teil âTremble, tremble, crains un affreux trĂ©pasâ (âZittere, zittere, fĂŒrchte einen schrecklichen Todâ, T. 25-28) den Tod explizit benennt. Das Deklamationstempo verlangsamt sich auf Halbe und Ganze, die Melodik stagniert, wĂ€hrend sich eine authentische Kadenz vollzieht â möglicherweise ein musikalischer Hinweis darauf, dass diese Drohung sich bewahrheiten wird. In diesem dritten Szenenteil geht es weniger um die Darstellung eines Traumgeschehens entsprechend der damaligen Vorstellungen, sondern um die dramaturgische Rechtfertigung und AnkĂŒndigung des weiteren Handlungsverlaufs. |
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â | Die abschlieĂende ''DeuxiĂšme EntrĂ©e des songes funestes'', ebenfalls fĂŒr fĂŒnfstimmigen Streichersatz, ist von gĂ€nzlich anderem Charakter. Schon im ersten Teil (T. 1-10) sorgt die bewegte und sprunghafte Melodie der dessus de violon mit den tĂ€nzerischen Achtelrhythmen im Dreiertakt fĂŒr Tanzstimmung innerhalb der weiterhin beibehaltenen Tonart B-Dur. Zahlreiche Vorhalte (T. 7ff.) erhöhen die harmonische Spannung. In allen Stimmen bleiben punktierte Tonrepetitionen prĂ€sent, die durch die auf sie folgenden Pausen aber (T. 4, 5, 8, 9) ihren marschhaft-drohenden Gestus verlieren. Mit einer Kadenz nach F-Dur öffnet sich der erste Teil zur Dominante. Der zweite (T. 12-25) fĂŒhrt in den ersten beiden Takten die Motivik des ersten fort, weicht dann aber unvermittelt auf den Gestus des vorangehenden Chores aus | + | Die abschlieĂende ''DeuxiĂšme EntrĂ©e des songes funestes'', ebenfalls fĂŒr fĂŒnfstimmigen Streichersatz, ist von gĂ€nzlich anderem Charakter. Schon im ersten Teil (T. 1-10) sorgt die bewegte und sprunghafte Melodie der dessus de violon mit den tĂ€nzerischen Achtelrhythmen im Dreiertakt fĂŒr Tanzstimmung innerhalb der weiterhin beibehaltenen Tonart B-Dur. Zahlreiche Vorhalte<ref>Ein Vorhalt ist eine harmoniefremde, dissonierende Note auf einer schweren Taktzeit, die sich durch einen Sekundschritt in einen harmonieeigenen Ton auflöst.</ref> (T. 7ff.) erhöhen die harmonische Spannung. In allen Stimmen bleiben punktierte Tonrepetitionen prĂ€sent, die durch die auf sie folgenden Pausen aber (T. 4, 5, 8, 9) ihren marschhaft-drohenden Gestus verlieren. Mit einer Kadenz nach F-Dur öffnet sich der erste Teil zur Dominante. Der zweite (T. 12-25) fĂŒhrt in den ersten beiden Takten die Motivik des ersten fort, weicht dann aber unvermittelt auf den Gestus des vorangehenden Chores aus. Wirkt die homophon vorgetragene Viertelpunktierung mit zwei Sechzehnteln am Anfang jedes Taktes (T. 14-18) noch verspielt, so wird mit den ĂŒberwiegend repetierten Viertelen auf die Deklamation des Chores und seine Todeswarnung angespielt. Auch die Harmonik erscheint hier analog zum Chor auf taktweise Bewegung verlangsamt. Mit absteigenden, von Achteln durchsetzten Skalen im Tonumfang einer Septime schlieĂt der zweite Teil (T. 19-25). Die Begleitstimmen sind aus derselben Motivik gewonnen, sodass am Ende ein tĂ€nzerischer Charakter vorherrscht. Die AbwĂ€rtsbewegung der Skalen aber vermag nicht ĂŒber die DĂŒsterkeit von Atysâ Zukunft hinwegzutĂ€uschen. Mit dieser fast verspielten Darstellung der schlechten TrĂ€ume illustriert Lully die Gestalten derselben als dĂ€monische Wesen. Der Ăberschwang des Tanzes erinnert an das Dionysische, wobei im Zentrum des StĂŒckes, einem warnenden Fingerzeig gleich, auf die Todesandrohung verwiesen wird. Insbesondere hierdurch wird die dramaturgische Funktion dieses Szenenteils in Erinnerung gerufen. Die Szene endet mit dem Verschwinden der Szenerie und ihrer Figuren, als Atys verschreckt aus seinem Traum erwacht. |
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 | + | [[Datei:Lully_Atys.png|thumb|center|640x350px|Szenenbild mit den <em>songes funestes</em> bei einer AuffĂŒhrung des Ensembles <em>Les Arts Florissants</em> aus dem Jahr 2014 am ThĂ©Ăątre de Caen in Caen, Frankreich.]] | |
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 | ===Lullys Traumdarstellung=== |  | ===Lullys Traumdarstellung=== |
â | Lullys Traumszene zeichnet sich durch ihre klare Struktur, ihre Anlehnung an die Traumvorstellungen des 17. Jahrhunderts â derjenigen des ''songe divin'' und der dĂ€monischen TrĂ€ume â und ihre dramaturgische Funktion aus. GemÀà dem mythologischen Thema wĂ€hlt Lully einen songe divin. Den Traumvorstellungen seiner Zeit entsprechend erscheint hierin die Botschaft der Göttin CybĂšle vermittelt durch allegorische Figuren. Die szenische Darstellung des Traumgeschehens und das Erschrecken Atys beim Erwachen sind fĂŒr das Theater typische Darstellungen des Traumes (vgl. Forestier 1988, 16f.). Als göttlicher Traum ist er ein nach den damaligen Vorstellungen in Medizin, Theologie und Volksglauben real mögliches PhĂ€nomen. Durch seine Einbettung in eine mythologische Fiktion und die dadurch erfolgende Abgrenzung vom Sakralen | + | Lullys Traumszene zeichnet sich durch ihre klare Struktur, ihre Anlehnung an die Traumvorstellungen des 17. Jahrhunderts â derjenigen des ''songe divin'' und der dĂ€monischen TrĂ€ume â und ihre dramaturgische Funktion aus. GemÀà dem mythologischen Thema wĂ€hlt Lully einen ''songe divin''. Den Traumvorstellungen seiner Zeit entsprechend erscheint hierin die Botschaft der Göttin CybĂšle vermittelt durch allegorische Figuren. Die szenische Darstellung des Traumgeschehens und das Erschrecken Atys' beim Erwachen sind fĂŒr das Theater typische Darstellungen des Traumes (vgl. Forestier 1988, 16f.). Als göttlicher Traum ist er ein nach den damaligen Vorstellungen in Medizin, Theologie und Volksglauben real mögliches PhĂ€nomen. Durch seine Einbettung in eine mythologische Fiktion und die dadurch erfolgende Abgrenzung vom Sakralen wird seine zukunftsvorhersagende Komponente aus theologischer Sicht akzeptabel. Aus der Perspektive der Philosophie am Ende des 17. Jahrhunderts aber ist die handlungsvorausnehmende Komponente dieses göttlichen Traums nicht mehr zeitgemÀà (vgl. Simon 1988, 141f.). Es ist eben diese Komponente, die den Traum des Atys als geschickten Kunstgriff ausweist: Lully bindet den Traum eng in die dramaturgische Gestaltung seiner Oper ein, indem er hierin das nach der biensĂ©ance unmögliche LiebesgestĂ€ndnis einer Göttin an einen Sterblichen darstellt und damit zugleich den Handlungsausgang begrĂŒndet und vorbereitet. In seiner zukunftsvorhersagenden Funktion zeugt der Traum von einem konservativen TraumverstĂ€ndnis, da insbesondere in der Philosophie von MĂ©nĂ©strier (vgl. Gautier 1988, 10) und Descartes (vgl. Simon 1988, 141f.) Ende des 17. Jahrhunderts die visionĂ€re Kraft von TrĂ€umen hinterfragt wird. Die Zukunftsweisung ist also weniger eine zeitgemĂ€Ăe Traumvorstellung als ein zentrales dramaturgisches Mittel. Somit besteht bei Lully eine enge Koppelung der musikdramatischen Traumdarstellung mit den medizinischen, philosophischen, theologischen und allgemeinen Traumvorstellungen des 17. Jahrhunderts. Ob seine Nachfolger in Oper und Instrumentalmusik die Gestaltung ihrer Traumdarstellungen an zeitgenössischem Gedankengut orientierten, bleibt noch zu erforschen. Erkenntnisse hierĂŒber wĂŒrden Aufschluss darĂŒber geben, ob die Rezeption von Lullys Traumszene sich ausschlieĂlich auf die kompositorische Gestaltung bezogen, oder ob auch ihr konzeptioneller und ideengeschichtlicher Hintergrund an die jeweilige Gegenwart angepasst wurde. Ein solcher Zusammenhang wĂŒrde einen engen Bezug zwischen den gelehrten Denktraditionen und der Kunst belegen können â eine InterdisziplinaritĂ€t von ungeahnter ModernitĂ€t. |
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 | ==Einordnung== |  | ==Einordnung== |
â | Die Traumszene aus Lullys ''Atys'' avanciert zu einem eigenen Szenentypus in der französischen Oper | + | Die Traumszene aus Lullys ''Atys'' avanciert zu einem eigenen Szenentypus in der französischen Oper (Ă€hnlich den Sturm- oder Wahnsinnsszenen) und wird ĂŒber die Grenzen des Musiktheaters hinweg in weltlicher und sakraler Musik der Ă©poque classique rezipiert (vgl. Stenzl 1991, 16f.). Diese rege Rezeption ist möglicherweise eine Folge des groĂen Erfolges dieser Oper, die sich in zahlreichen WiederauffĂŒhrungen und vielfachen Parodien bis Mitte des 18. Jahrhunderts zeigt (vgl. Rubellin 2005, 141f.). |
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 | + | Lullys Traumszene kennt aber auch VorlĂ€ufer. Nach dem Vorbild von Schlaf- und Nachtbildern petrarkistischer Gedichte und ihrer Vertonung bei Komponisten wie Claudio Monteverdi und Orlando di Lasso, erscheinen in der frĂŒhen italienischen Oper des 17. Jahrhunderts, wie etwa bei Monteverdi, Einschlaflieder (vgl. Stenzl 1991, 16). Konkret bezieht Lully sich auf Luigi Rossos ''Orfeo'' (1647), indem er dessen Soprantrio âDormite begli occhiâ in der ''comĂ©die ballet Les amants magnifiques'' nachahmt.<ref>Lully verwendet dieselbe Szene fĂŒr ''Les FĂȘtes de lâAmour et de Bacchus'' (1672) (vgl. Wood 1997, 327).</ref> Zudem ergĂ€nzt Lully die Pariser AuffĂŒhrung des ''Ercole amante'' 1662 von Francesco Cavalli um ein Divertissement (''Le Sommeil et les songes''), das eine Traumszene ist und erstmals den Schlaf und die TrĂ€ume szenisch sichtbar macht (vgl. Stenzl 1991, 17f.). | |
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â | Lullys | + | Traumszenen in der Tradition Lullys sind in der französischen und italienischen Oper vielfach rezipiert worden, so bei Henry Desmartes, Marain Marais, AndrĂ© Destouches, Jean-Baptiste Matho, Jean-Philippe Rameau oder Georg Friedrich HĂ€ndel. Sie haben auch Eingang in die Instrumentalmusik bis hin zu François Couperin und Johann Sebastian Bach gefunden (vgl. Wood 1996, 330-334 u. Stenzl 1991, 18 u. 21). Hierin zeigt sich die auĂerordentliche Bedeutung von Lullys Oper und insbesondere der darin enthaltenen Traumszene. Bei der Rezeption steht vor allem die Ăbernahme der musikalischen Gestaltung im Vordergrund â es bilden sich aus der kompositorischen Umsetzung der Traumszene in ''Atys'' Topoi der Traumdarstellung â auch indem Lully selbst ''sommeil''-Szenen nach Vorbild seiner Oper ''Atys'' in ''Isis'' (1677), ''PersĂ©e'' (1682), ''PhaĂ«ton'' (1683), ''Roland'' (1685), und ''Armide'' (1686) einsetzt (vgl. Wood 1996, 330-334). Traumszenen als jenseitiges Motiv, als Ansprache einer Göttin zur Ăberzeugung einer Person, werden in der französischen Oper Lullys und seiner Nachfolger populĂ€r (vgl. Wood 1996, 252f.). Die Ăberschreitung des real Möglichen und der Konventionen wird so mit dem Medium Traum markiert. Lullys Traumszene wird zu einem Meilenstein der musikalischen Traumdarstellung und nimmt damit eine zukunftsweisende Rolle in der Musikgeschichte ein. |
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â | + | <div style="text-align: right;">[[Autoren|Christine Roth]]</div> | |
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 | ==Literatur== |  | ==Literatur== |
 | ===Ausgaben=== |  | ===Ausgaben=== |
â | * Atys | + | * Atys. TragĂ©die en cinq actes avec prologue, livret de Philippe Quinault, partition gĂ©nĂ©rale. BibliothĂšque Municipale de Paris. BibliothĂšque municipale Versailles, Manuscript musical 100. |
â | * Atys | + | * Atys: Tragedie en musique. OrnĂ©e d'entrĂ©es de ballet, de machines, & de changements de theatre. RepresentĂ©e devant Sa MajestĂ© Ă Saint Germain en Laye, le dixiĂ©me jour de janvier 1676. Paris: Ballard 1776; [http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5448680n online]. |
â | * Atys | + | * Atys. TragĂ©die mise en musique. Paris: Ballard 2. Aufl. 1720; [http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb11134854_00003.html online]. |
 | * Atys. Tragédie mise en musique. Paris: Baussen 2. Aufl. 1709. |  | * Atys. Tragédie mise en musique. Paris: Baussen 2. Aufl. 1709. |
â | * Atys. TragĂ©die mise en musique. Facsimile of the first edition [1689]. Hg. von Elma | + | * Atys. TragĂ©die mise en musique. Facsimile of the first edition [1689]. Hg. von Elma Sanders. The TragĂ©dies lyriques in Facsimile. Bd. 4. New York: Broude 1998. |
â | * Atys. Hg. von Nicolas Sceaux. o.O. 2010-2012; | + | Â |
 | + | Verwendete Ausgabe: | |
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 | + | * Atys. Hg. von Nicolas Sceaux. o.O. 2010-2012; [http://nicolas.sceaux.free.fr/lully/LWV53Atys-urtext.pdf online] (zitiert mit der Sigle A; alle Ăbersetzungen daraus von Verf.). | |
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 | ===Forschungsliteratur=== |  | ===Forschungsliteratur=== |
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 | * Anthony, James R.: The Musical Structure of Lullyâs Operatic Airs. In: JerĂŽme de La Gorce/Herbert Schneider (Hg.): Jean-Baptiste Lully. Actes du colloque Saint-Germain-en-Laye â Heidelberg 1987. Laaber: Laaber 1990, 65-76. |  | * Anthony, James R.: The Musical Structure of Lullyâs Operatic Airs. In: JerĂŽme de La Gorce/Herbert Schneider (Hg.): Jean-Baptiste Lully. Actes du colloque Saint-Germain-en-Laye â Heidelberg 1987. Laaber: Laaber 1990, 65-76. |
 | * Dandrey, Patrick: La médecine du songe au XVIIe siÚcle. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 67-101. |  | * Dandrey, Patrick: La médecine du songe au XVIIe siÚcle. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 67-101. |
â | * Duron, Jean: Argument. In: Lâavant-scĂšne opĂ©ra 94 (1987a), 28 | + | * Duron, Jean: Argument. In: Lâavant-scĂšne opĂ©ra 94 (1987a), 28 f. |
â | * Duron, Jean: Atys, | + | * Duron, Jean: Atys, opĂ©ra du Roi. In: Lâavant-scĂšne opĂ©ra 94 (1987b), 20 f. |
 | * Duron, Jean: Introduction. Atys â tragĂ©die lyrique. In: Lâavant-scĂšne opĂ©ra 94 (1987c), 32-80. |  | * Duron, Jean: Introduction. Atys â tragĂ©die lyrique. In: Lâavant-scĂšne opĂ©ra 94 (1987c), 32-80. |
 | * Forestier, Georges: Le rĂȘve littĂ©raire du baroque au classicisme. RĂ©flexes typologiques et enjeux esthĂ©tiques. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 213-235. |  | * Forestier, Georges: Le rĂȘve littĂ©raire du baroque au classicisme. RĂ©flexes typologiques et enjeux esthĂ©tiques. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 213-235. |
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 | * Rubellin, Françoise: StratĂ©gies parodiques Ă la foire et aux italiens. Le dĂ©nouement dâAtys de Lully et Quinault. In: Delia Gambelli/Letizia Norci Cagiano (Hg.): Le thĂ©Ăątre en musique et son double (1600â1762). Actes du Colloque âLâAcadĂ©mie de musique, Lully, lâopĂ©ra et la parodie de lâopĂ©raâ, Rome,4-5 fĂ©vrier 2000. Paris: Champion 2005, 141-190. |  | * Rubellin, Françoise: StratĂ©gies parodiques Ă la foire et aux italiens. Le dĂ©nouement dâAtys de Lully et Quinault. In: Delia Gambelli/Letizia Norci Cagiano (Hg.): Le thĂ©Ăątre en musique et son double (1600â1762). Actes du Colloque âLâAcadĂ©mie de musique, Lully, lâopĂ©ra et la parodie de lâopĂ©raâ, Rome,4-5 fĂ©vrier 2000. Paris: Champion 2005, 141-190. |
 | * Simon, Gerard: Descartes, le rĂȘve et la philosophie au XVII siĂšcle. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 133-151. |  | * Simon, Gerard: Descartes, le rĂȘve et la philosophie au XVII siĂšcle. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 133-151. |
â | * Stenzl, JĂŒrg: Traum und Musik. In: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.): Musik und Traum. MĂŒnchen: Ed. Text + Kritik 1991, 8-102(Musik-Konzepte 74). | + | * Stenzl, JĂŒrg: Traum und Musik. In: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.): Musik und Traum. MĂŒnchen: Ed. Text + Kritik 1991, 8-102 (Musik-Konzepte 74). |
â | * Wood, Caroline: Orchestra and | + | * Wood, Caroline: Orchestra and Spectacle in the âtragĂ©die en musiqueâ 1673-1715. Oracle, âsommeilâ et âtempĂȘteâ. In: Proceedings of the Royal Music Association 108 (1981/2), 25-46. |
 | * Wood, Caroline: Music and Drama in the âtragĂ©die en musiqueâ, 1673-1715. Jean-Baptiste Lully and his sucessors. New York, London: Garland 1996. |  | * Wood, Caroline: Music and Drama in the âtragĂ©die en musiqueâ, 1673-1715. Jean-Baptiste Lully and his sucessors. New York, London: Garland 1996. |
 | * Zywietz, Micheal: Der Tanz in den Divertissements der TragĂ©dies en musique. In: Thomas Seedorf (Hg.): Barockes Musiktheater in Geschichte und Gegenwart. Bericht ĂŒber die Symposien der internationalen HĂ€ndel-Akademie Karlsruhe 2005 bis 2007. Laaber: Laaber 2010, 211-220 (Veröffentlichungen der Internationalen HĂ€ndel-Akademie Karlsruhe 9). |  | * Zywietz, Micheal: Der Tanz in den Divertissements der TragĂ©dies en musique. In: Thomas Seedorf (Hg.): Barockes Musiktheater in Geschichte und Gegenwart. Bericht ĂŒber die Symposien der internationalen HĂ€ndel-Akademie Karlsruhe 2005 bis 2007. Laaber: Laaber 2010, 211-220 (Veröffentlichungen der Internationalen HĂ€ndel-Akademie Karlsruhe 9). |
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 | * Art.: Jean-Baptiste Lully. In: Grove Music Online: http://www.oxfordmusiconline.com/ (Nur fĂŒr Subskribenten zugĂ€nglich!) |  | * Art.: Jean-Baptiste Lully. In: Grove Music Online: http://www.oxfordmusiconline.com/ (Nur fĂŒr Subskribenten zugĂ€nglich!) |
 | * Rosow, Lois: Atys. In: Grove Music Online: http://www.oxfordmusiconline.com/ (Nur fĂŒr Subskribenten zugĂ€nglich!) |  | * Rosow, Lois: Atys. In: Grove Music Online: http://www.oxfordmusiconline.com/ (Nur fĂŒr Subskribenten zugĂ€nglich!) |
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 | + | AuffĂŒhrungen: | |
 | + | * Video der AuffĂŒhrung an der OpĂ©ra comique, Paris, 1987; Regie: William Christie, Dirigent: Jean-Marie VillĂ©gier (ca. 3 Stunden, 5 Minuten; Traumszene ca. ab 1:25); [https://www.youtube.com/watch?v=QZjJeb6MPtU online]. | |
 | + | *Querschnitt durch eine AuffĂŒhrung an der OpĂ©ra comique, Paris 2011; Regie: William Christie, Dirigent: Jean-Marie VillĂ©gier (ca. 3 Minuten): [https://www.youtube.com/watch?v=wPlnz_b8lwQ Französisch], [https://www.youtube.com/watch?v=kpfsl0s5WUg Englisch]. | |
 | + | * Auftritt von Le Sommeil, AuffĂŒhrung des Ensembles ''Les Arts Florissants'', ThĂ©Ăątre de Caen, 2014 (ca. 3 Minuten): [https://www.youtube.com/watch?v=ElwvwcXmzj4 online]. | |
 | + | * Songes agréables et funestes, Regie: Iakovos Pappas, Dirigent: Vassilis Anastasiou, Mégaron Athen, 2010 (ca. 5 Minuten): [https://www.youtube.com/watch?v=ACHiKQU7vZs online]. | |
 | + | * Songes funestes, Opéra comique, Paris 2011 (ca. 4 Minuten): [https://www.youtube.com/watch?v=snmW-1f6Pmc online]. | |
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â | Roth, Christine: "Atys" (Jean-Baptiste Lully). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2017; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php | + | Roth, Christine: "Atys" (Jean-Baptiste Lully). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2017; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Atys%22_(Jean-Baptiste_Lully) . |
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Aktuelle Version vom 11. Dezember 2018, 19:57 Uhr
Die 1676 entstandene tragĂ©die lyrique Atys des französischen Komponisten Jean-Baptiste Lully (1632â1687) beinhaltet als erste französische Oper eine Traumszene. Diese wurde wegweisend fĂŒr die Traumdarstellung in Oper und Instrumentalmusik.
Komponist
Jean-Baptiste Lully wird am 29. November 1632 in Florenz geboren. 1646 tritt er in Paris seine TĂ€tigkeit als garçon de chambre bei Anne-Marie-Louise dâOrlĂ©ans an. Lully vervollstĂ€ndigt in dieser Zeit seine musikalische Ausbildung als Cembalist, Violinist und Komponist. 1651 wird er maĂźtre Ă danser du roi am Hof Ludwigs XIV, 1653 folgt die Ernennung zum compositeur de la musique instrumentale. 1661 erhĂ€lt er die höchste Stellung als surintendant de la musique de chambre du roi. Nach intensiver Zusammenarbeit mit MoliĂšre, die zur Entstehung zahlreicher comĂ©dies-ballets fĂŒhrt, erwirbt Lully 1669 das Opernprivileg und schafft mit seinen tragĂ©dies lyriques den wegweisenden Typus der französischen Oper. Zu seinen bekanntesten Werken zĂ€hlen ThĂ©sĂ©e, Atys und Armide. Lully stirbt am 22. MĂ€rz 1687 in Paris (vgl. Art. Lully).
Entstehung und AuffĂŒhrungsgeschichte
Die Entstehung der Oper Atys steht in Zusammenhang mit der Guerre de Hollande. Diese dehnt sich 1675 auf Seeschlachten von Frankreich gegen Holland und Spanien aus. Ludwig XIV, der selbst an der Front kĂ€mpft, kehrt von Juli 1675 bis MĂ€rz 1676 an seinen Hof zurĂŒck, bevor er im FrĂŒhjahr 1676 die KampfestĂ€tigkeit fortsetzt. In der Zeit seines Aufenthaltes in Paris wĂ€hlt er Atys als Opernsujet aus und wohnt der UrauffĂŒhrung am 10. Januar 1676 am Hof in Saint-Germain-en-Laye bei (vgl. Duron 1987b, 20). Lully und Philippe Quinault erwĂ€hnen im Prolog die bevorstehende RĂŒckkehr des Königs an die Front, sodass Duron annimmt, die Oper diene einzig der königlichen Unterhaltung (vgl. Duron 1987b, 20). Auf sentimentaler Ebene aber bezieht sie sich auf die Situation des Königs: Die Zeit der UrauffĂŒhrung des Atys fĂ€llt in eine Periode, in der Ludwig XIV keine Liebschaften unterhĂ€lt und in der er sich möglicherweise mit Atys Vorliebe fĂŒr âunbeteiligte Herzenâ identifiziert (vgl. Duron 1987b, 21).
Die UrauffĂŒhrung des Atys ist so erfolgreich gewesen, dass die Oper 1677, 1678 und 1682 in Saint-Germaine-en-Laye und 1753 am Hof in Fontainebleau wiederaufgenommen wird. Der Ăffentlichkeit wird das Werk im April 1676 an der Pariser Oper mit groĂem Erfolg prĂ€sentiert und erlebt sieben Wiederaufnahmen zwischen 1689 und 1747 (vgl. Rosow). Internationale AuffĂŒhrungen in Amsterdam, Marseille, Lyon, Rouen, BrĂŒssel, Metz, Lille und Den Haag folgen in den Jahren 1687â1749. Atys ist bis heute im Opernrepertoire, wobei insbesondere die historisch informierte WiderauffĂŒhrung unter der Regie von William Christie von 1987 hervorzuheben ist (vgl. Rosow).
Opernhandlung und Traumszene
Die Oper Atys handelt von der tragischen Liebe der Göttin CybĂšle zu Atys. Im ersten Akt bereitet Atys mit Hilfe der Phrygier die Ankunft der Göttin vor, wĂ€hrend Sangaride, die eigentlich Atys liebt, erstmals auf ihren kĂŒnftigen Ehemann CĂ©lĂ©nus, König der Phrygier, treffen soll. Atys und CĂ©lĂ©nus geraten im zweiten Akt in Konflikt, weil beide das Amt des Hohepriesters fĂŒr CybĂšle ĂŒbernehmen wollen. CybĂšle, die Atys liebt, erwĂ€hlt diesen zum Hohepriester, kann ihm jedoch ihre Liebe aus GrĂŒnden der biensĂ©ance â der gesellschaftlich-sittlichen Normen â nicht gestehen. Kurz nachdem Atys sich fĂŒr Sangaride entschieden hat, sendet CybĂšle ihm im dritten Akt einen Traum. Darin erfĂ€hrt er von ihrer Liebe und der ihm drohenden Rache, sollte er sie zurĂŒckweisen. Als Sangaride fleht, CĂ©lĂ©nus nicht heiraten zu mĂŒssen, erkennt CybĂšle beider Liebe. Atys bittet CĂ©lĂ©nus im vierten Akt kraft seines Amtes als Hohepriester, die Hochzeit mit Sangaride auszusetzen. Im fĂŒnften Akt erkennen CĂ©lĂ©nus und CybĂšle, dass sie hintergangen wurden: Die angekĂŒndigte Rache setzt ein, als CybĂšle Atys mit Wahnsinn belegt, dieser daraufhin Sangaride tötet und auch sich selbst, nachdem er seine Tat erkennt hat. ZurĂŒck bleibt CybĂšle, die Atys in eine Pinie verwandelt, als sie einsieht, dass sie auch sich gestraft hat (vgl. Duron 1987a, 28f.).
Die als Divertissement gestaltete Traumszene steht kurz vor dem Ende des dritten Aktes. Die Traumszene wird dramaturgisch vorbereitet, indem CybĂšle bereits in Akt II, 3 im GesprĂ€ch mit ihrer Vertrauten MĂ©lisse darauf hinweist: âfay venir le Sommeil; que lui-mĂȘme en ce jour,/ Prenne soin icy de conduire/ Les songes qui luy font la Cour;/ Atys ne sçait point mon amour,/ Par un moyen nouveau je prentens lâen instruireâ (A 10; âLass den Schlaf kommen;/ dass dieser selbst sich heute der Aufgabe annehme/ die TrĂ€ume zu leiten, die ihm [Atys] den Hof machen;/ Atys weiĂ nichts von meiner Liebe;/ durch ein neues Mittel, habe ich vor, ihn davon in Kenntnis zu setzenâ). Als Atys einschlĂ€ft (Akt III,3-4), verwandelt sich das BĂŒhnenbild von einem Palast in eine Grotte, umgeben von Mohn und BĂ€chen. Dies ist die Kulisse, vor der die Gottheiten des Schlafes erscheinen, gefolgt von den personifizierten guten und schlechten TrĂ€umen. Die Götter ĂŒberbringen Atys die Kunde von CybĂšles Liebe. Die guten TrĂ€ume bestĂ€rken ihn darin, die Liebe CybĂšles anzunehmen, wĂ€hrend die schlechten die von den Schlafgottheiten zuvor ausgesprochene Warnung vor ihrer Rache bei ZurĂŒckweisung bestĂ€rken (vgl. Henze-Döhring 1997, 316). Solche Personifizierungen von Gottheiten und TrĂ€umen im Musiktheater werden zu einem Topos von Traumszenen. Verbildlicht sind die TrĂ€ume als auf der BĂŒhne agierende Instrumentalisten und TĂ€nzer, wodurch eine Einheit von Musik und bildlicher Darstellung erzeugt wird (vgl. Henze-Döhring 1997, 317) und eine klare Abgrenzung des Traumes zur fiktionalen RealitĂ€t entsteht. Die Traumszene erhĂ€lt eine dramaturgische SchlĂŒsselrolle, da sich die Prophezeiungen der songes funestes auf der Handlungsebene bewahrheiten (vgl. Henze-Döhring 1997, 316).
Die Traumszene
Aufbau
Die Traumszene aus der Oper Atys ist in der vierten Szene des dritten Aktes als Divertissement angesiedelt. Damit hat das Divertissement die Position einer mittigen Symmetrieachse, die zugleich das emotionale Zentrum der Handlung â das LiebesgestĂ€ndnis CybĂšles â enthĂ€lt (vgl. Leopold 2006, 214). Dem Divertissement ist mit der dritten Szene eine Einschlafphase vorangestellt (III,3), in der Atys sich fĂŒr Sangaride entscheidet (vgl. Henze-Döhring 1997, 315). Die eigentliche Traumszene (III,4) beginnt mit einem ausgedehnten, vollbesetzen, instrumentalen PrĂ€ludium in g-Moll, auf das der Auftritt der guten und schlieĂlich derjenige der schlechten TrĂ€ume folgt. Die Traumzene ist so dreiteilig, wobei das PrĂ€ludium, mit den Arien der Schlafgottheiten, nach denen es wiederholt wird, den ersten musikalischen Teil in g-Moll bildet. Den zweiten Teil konstituieren weitere Arien der Schlafgötter sowie die Tanz- und Musikeinlagen der guten TrĂ€ume, ebenfalls in g-Moll. Die deutlichste ZĂ€sur bildet der harmonische Wechsel nach B-Dur, der mit Auftreten der schlechten TrĂ€ume einhergeht und den Beginn des dritten Teiles markiert (vgl. Wood 1981, 36).
Instrumentation
Weder aus Lullys Manuskripten (Lully o.J.), aus spĂ€teren Nachdrucken (Lully 1689, 1709, 1720, 1998), noch aus der hier verwendeten modernen Ausgabe geht die exakte Instrumentation der Oper hervor. Diese ist aber von groĂer Bedeutung, da die Instrumentation von Traumszenen nach Vorbild Lullys zu einem Topos wird. Lullys 150-köpfiges Opernorchester hat neben den beiden fĂŒnfstimmigen Streichergruppen, dem grand choeur und dem solistisch besetzten petit choeur, eine Continuogruppe aus zwei Cembalisten, sechs Theorben, Lauten und Violen und ein bis zwei basses de violon umfasst. Weitere 21 Musiker haben jeweils mehrere Holzblasinstrumente gespielt: Flöten, Oboen und Fagotte (vgl. La Gorce 1987, 85). Aus der Partitur des Atys geht hervor, dass eine Continuogruppe spielt. Der fĂŒnfstimmige Satz entspricht der SchlĂŒsselung nach dem fĂŒr Lully typischen Streichersatz. Der Einsatz von Flöten ist in der Partitur kenntlich gemacht, ebenso wie derjenige von zwei Violen, zwei Theorben, Flöten, einem zwölfstimmigen Chor der songes funestes, zuzĂŒglich je acht tanzender guter und schlechter TrĂ€ume (vgl. A, 110ff.).
PrĂ€ludium und Terzett der Schlafgötter â erster Teil der Traumszene
Das PrĂ€ludium, das das Divertissement einleitet, ist ein handlungsfreies Element, das als traumfreie Phase des Tiefschlafs interpretiert werden kann, wĂ€hrend die Gesangs-, Tanz- und Choreinlagen Teil des Onirischen sind (vgl. Alexandre 1987, 101). Das PrĂ€ludium ist mit Flöten instrumentiert, die zu einem Topos der Traumszenen werden (vgl. La Gorce 2010, 205). Harmonisch zeichnet es sich durch eine dem Schlaf gemĂ€Ăe Statik aus: g-Moll wird trotz BerĂŒhrung des doppeldominantischen Bereiches (z. B. T. 8; alle Taktangaben beziehen sich auf die Ausgabe A) und des Einsatzes von Zwischendominanten (T. 15ff.) und Vorhaltbildungen (z. B. T. 48: Quartvorhalt) nicht in Frage gestellt.
Einen wiegenliedhaften Gestus schaffen die stets prĂ€senten zweigebundenen Viertel, die sich ĂŒberwiegend schrittweise bewegen (vgl. La Gorce 2010, 205) und dialogartig zwischen Streichern und Flöten alterieren (z. B. T. 1-6: Streicher, T. 6-10: Flöten). Diese Motivik wird zum Topos in Schlafszenen (vgl. Wood 1996, 328). Das PrĂ€ludium setzt sich aus diesem Material fort, wobei die Begleitfigur aus ganzer Note mit Nachschlag, die erstmals in den tiefen Streichern zu den zweigebundenen Vierteln erschienen war (T. 1-3), zunehmend prominent wird (T. 45-48 und ab T. 54). Sie trĂ€gt zur Beruhigung der rhythmisch-melodischen Bewegung gemÀà dem Einschlafen bei. Aufgrund der dramaturgisch geschickten Gestaltung des PrĂ€ludiums, die aus dem prĂ€zisen Einsatz der monotonen, sich trotz der stetigen Viertelbewegung beruhigenden Motivik und der alterierenden Klangfarben resultiert, gelingt Lully eine musikalisch ökonomische aber wirkungsvolle HinfĂŒhrung zum Traumgeschehen.
Dieses setzt nahtlos mit dem Terzett âDormons, dormons tousâ des Schlafgottes Le Sommeil und seiner Söhne MorphĂ©e, PhobĂ©tor und Phantase ein. Dass das Traumgeschehen Schlafgötter beinhaltet und dass der Traum eine Botschaft CybĂšles ist, verortet es in den Bereich der songes divins. Deren Existenz wird im 17. Jahrhundert in Natur- und Geisteswissenschaften, Theologie, Mystik und Volksglauben aufgrund der AutoritĂ€t der Bibel anerkannt (vgl. Dandrey 1988, 85ff.; Simon 1988, 141f.; Matton 1988, 157, 162-176; Gautier 1988, 9, 13f., 17). Bei Lully ist das Traumgeschehen durch die Rahmenthematik und die Figuren in die Mythologie ĂŒbertragen und bietet damit Raum fĂŒr das Merveilleux. Ferner ist es eine innerhalb der Fiktion und vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Ideen der Zeit plausibel erscheinende und der biensĂ©ance entsprechende Form des LiebesgestĂ€ndnisses einer Göttin.
Das Terzett, das durch eine halbe Pause vom PrĂ€ludium abgesetzt ist (T. 57), setzt das Schlafmotiv des PrĂ€ludiums ostinat fort (vgl. Wood 1996, 328). GemÀà der Schlafthematik bewegt sich die Harmonik konstant in g-Moll. Die Melodik des Schlafgottes ist von Tonwiederholungen und langen Notenwerten geprĂ€gt, die seine Aufforderung zum Schlafen illustrieren (T. 58-62). Bei der Beschreibung der SĂŒĂe dieser TĂ€tigkeit verengt sich die Melodiebewegung auf kleine und groĂe Sekunden. MorphĂ©e beschwört anschlieĂend den Schlaf, die Sinne zu beruhigen und verweist damit auf die historische Ansicht, im Schlaf- und Traumprozess kĂŒhle sich das Gehirn ab und Geist und Sinne verlangsamten sich. Angesichts solcher Hinweise ist davon auszugehen, dass Lully die damaligen Traumvorstellungen bekannt waren und er eine dementsprechend angepasste Darstellung des Traums innerhalb der mythologischen Fiktion versucht. MorphĂ©es Beschwörung ist von der Singstimme seines Vaters abgesetzt durch eine Modulation nach c-Moll (T. 74) und das Wiedererscheinen der punktierten, eine Tonrepetition beinhaltenden Motive, die im Instrumentalvorspiel zu Atys Einschlafrezitativ Verwendung fanden (vgl. III,3, T. 1-10). Tonmalerisch wird bei MorphĂ©es Aufforderung, die Herzen mit einem tiefen Frieden â dem Schlaf und dem Traum â zu beruhigen, die Anzahl der Tonrepetitionen erhöht, sodass es melodisch zu einer Stagnation kommt. Lully moduliert zudem, die âpaix profondeâ illustrierend, zurĂŒck in die Grundtonart (T. 100) und lĂ€sst die Melodie innerhalb von drei Takten um eine Oktave abfallen (T. 100-102). Dass Atys durch das Wirken der Götter in den Schlaf gefunden hat, zeigt die zwei Takte wĂ€hrende Generalpause (T. 113f.).
PhobĂ©tor evoziert nun die Traumwelt â die in der BĂŒhnenkulisse dargestellten, dahinflieĂenden BĂ€che. Musikalisch wird das Onirische ĂŒber den Einsatz der Flöten (T. 105) markiert. Diese fĂŒhren die Motivik aus punktierten Tonrepetitionen fort, wĂ€hrend in der Singstimme neben oftmals ebenmĂ€Ăigen Tonrepetitionen (T. 105 und T. 118-133), die den Schlaf verkörpern, schrittweise absteigende, punktierte Motive erscheinen, die das FlieĂen der BĂ€che illustrieren (T. 108-117). Zudem verlĂ€sst das Continuo erstmals die Viertelmotivik zugunsten einer mit der Gesangsstimme fast stĂ€ndig unisono gefĂŒhrten Melodik. Lully evoziert mittels der Flöten und der Motivik den Schlaf als ruhig-sĂŒĂen Zustand. Zugleich zeigt er ihn mit der Darstellung der BĂ€che als Ort der Illusion. Die Harmonik verharrt stabil in g-Moll. Schlaf als Voraussetzung fĂŒr den Traum ist so entsprechend der damaligen Vorstellungen (vgl. Dandrey 1988, 72f.) auch bei Lully ein Zustand der geistigen InaktivitĂ€t.
Die Wiederholung der Anfangsphrase âDormons, dormons tousâ durch den Sommeil (T. 121-146), greifen die Söhne leicht polyphon versetzt auf (T. 145f.) und wandeln sie motivisch ab, indem sie Teile derselben (z. B. T. 148-150: MorphĂ©e als Abwandlung der Motivik aus T. 139-142) mit den schon bekannten Tonrepetitionen (z. B. T. 151 in allen Stimmen) kombinieren. Die Continuostimme verbindet dabei die punktierte (z.B. T. 150f.) mit der gebundenen Viertelmotivik (T. 162). Harmonisch bleibt auch das Terzett stabil in g-Moll. Geschickt baut Lully aber eine harmonische Schlussspannung auf, indem er ĂŒber den Wechsel der Nebenfunktionen und ihrer Dominanten sowie ĂŒber die EinfĂŒgung eines Trugschlusses (T. 172f.) und eines plagalen (also mit der Subdominante gebildeten) Schlusses (T. 174f.) die eigentliche Tonika bis in den Schlusstakt des Terzetts zurĂŒckhĂ€lt.[1] Begleitet wird dieser Spannungsbogen von der zunehmenden melodischen AbwĂ€rtsbewegung. Die im Text des Terzetts wiederholte Aufforderung zum Schlafen geht mit einer musikalischen Zusammenfassung der gesamten Arie einher. Hierauf folgt die Wiederholung des PrĂ€ludiums, die einen groĂformalen dreiteiligen ersten Abschnitt der Schlafszene schafft. Die Verwendung von PrĂ€ludien in Zusammenhang mit Traumszenen verbreitet sich in der Nachfolge Lullys, wobei die von Lully gegebene Strukturierung mit eingeschobener Arie einzigartig bleibt (vgl. La Gorce 2010, 205).
Die guten TrĂ€ume â zweiter Teil der Traumszene
Der Auftritt der guten TrĂ€ume, die tanzend und singend zu den Schlafgöttern hinzutreten, bildet den Mittelteil der Traumszene. Mit der Arie âEscoute, escoute Atysâ berichten die Götter Atys von der Liebe CybĂšles. Ăber einem Continuo aus langen Noten und dem Schlafmotiv hebt MorphĂ©e auf die Glorie ab, die Atys erwartet, wenn er ihre Liebe annimmt. Der Gesang mit seinen punktierten Tonrepetitionen (T. 2ff., T. 10-13) im wiegenden Zweiertakt, den ebenmĂ€Ăigen Tonwiederholungen (T. 5-8, T. 14), der sich stabil in g-Moll bewegenden Harmonik sowie der ĂŒberwiegend schrittweisen Bewegung bezieht sich im Gestus auf den Moment des Einschlafens in Szene III,3 und die Traumdarstellung im PrĂ€ludium ab dem Einsatz der SĂ€nger. Dies erlaubt Lully, der Szenerie eine auĂerordentliche Geschlossenheit und Ruhe zu verleihen, die den Moment des Schlafens einfĂ€ngt.
Im sich anschlieĂenden Terzett der Schlafgottsöhne (T. 16-25) warnt Lully, dass die Liebe CybĂšles ewige Treue erfordere. Ein erstmaliger Tonartwechsel nach B-Dur (T. 16-20), der spĂ€teren Tonart der songes funestes, deutet auf deren Auftritt im dritten Teil der Szene voraus (vgl. Leopold 2006, 214) und verleiht der Warnung zusammen mit der Zunahme der Besetzung und der homophonen, von Tonrepetitionen geprĂ€gten Deklamation eine bedrohliche EindrĂŒcklichkeit. AuffĂ€llig ist, dass die Unsterblichkeit der Schönheit CybĂšles und damit ihrer Person (T. 16-20) in B-Dur gesetzt ist, wĂ€hrend der zweite Phrasenteil (T. 21-25) in g-Moll ewige Treue und Liebe beinhaltet. Mit der Tonika wird hier der positive Ausgang der Liebe - vorausgesetzt Atys nimmt sie an - harmonisch verdeutlicht. Im zweiten Teil der Warnung (T. 26-41) singt Phantase solistisch zur Continuobegleitung in g-Moll und bestĂ€rkt die Vorteilhaftigkeit der Liebe zu einer Göttin mit einem neuen, schrittweise aufsteigenden Motiv, das um zwei, satztechnisch korrekt in Gegenrichtung aufgefangene QuartsprĂŒnge abfĂ€llt (T. 26ff.). Die abfallende Bewegung sowie das Erreichen der Tonika auf âattraitsâ, den Reizen der Liebe zu CybĂšle, verdeutlichen musikalisch den Zwang, dem Atys ausgesetzt ist. Lully hebt diesen weiter hervor, indem er ĂŒber wellenartige melodische Bewegung den Spitzenton f auf âpuissanceâ, der Macht CybĂšles ĂŒber die Liebe und ĂŒber Atys, erreicht (dies wird im Folgenden als Liebesmachtmotivik bezeichnet). Nach einer Wiederholung der ersten und der nach oben sequenzierten zweiten Phrase (T. 34-38), wird mit Besingen der nie endenden Liebe ĂŒber die Schlusskadenz mit Quartvorhalt die Grundtonart erreicht (T. 39ff.). So ist die Akzeptanz des Antrags von CybĂšle musikalisch als einzig mögliche Lösung ausgewiesen.
Hieran schlieĂt sich der instrumental untermalte Tanz der songes agrĂ©ables an (EntrĂ©e des songes agrĂ©ables). Besetzt ist er mit dem fĂŒnfstimmigen Lullyschen Streichersatz, sowie höchstwahrscheinlich colla parte[2] mit den in der Regieanweisung (S. 110) genannten, auf der BĂŒhne spielenden Violen und Theorben. Der homophon gesetzte Tanz kombiniert, wie fĂŒr Instrumentalformen der frĂŒhen französischen Oper ĂŒblich (vgl. Anthony 1990, 68), Phantases Motive der Reize der Liebe (T. 1-3) und ihrer Macht (T. 4-6) mit den aus dem PrĂ€ludium bekannten Tonrepetitionen in kleinschrittiger Reihung (T. 6-10). Harmonisch verbleibt dieser wiederholte Teil A des Tanzes (T. 1-10) in g-Moll. Teil B ist zweiteilig. Im Abschnitt a (T. 11-18) verlangsamt sich die Bewegung der Begleitstimmen, wĂ€hrend in der Oberstimme ein bewegter Gestus aus punktierten Tonrepetitionen (T. 11, T. 15f.), Motivabspaltungen des Liebesmachtmotivs (T. 12) sowie schrittweise Achtelbewegungen (T. 13) erscheinen. Harmonisch bewegt sich dieser Abschnitt zur Tonikaparallele (T. 18). Die sechstaktige, identisch wiederholte Phrase des Abschnittes b (T. 18-30) kombiniert die Punktierungen aus Abschnitt a mit der Schlafmotivik aus Tonrepetitionen. Die erste Phrase öffnet sich zur Dominante, wĂ€hrend die zweite in die Tonika mit pikardischer Terz schlieĂt. Auch hier ist die Harmonik, die den Schlaf als Zustand des körperlichen Ruhens darstellt, Ă€uĂerst stabil. Die auf der BĂŒhne agierenden SĂ€nger und Instrumentalisten stellen die Traumbilder dar. Da diese Figuren nicht explizit göttlichen Ursprungs sind, könnten sie auch die songes animaux verkörpern.
In der folgenden Arie âGouste en paixâ singt PhobĂ©tor in der bereits bekannten Motivik aus punktierten Tonrepetitionen zu der fĂŒr Schlafszenen seit Lully typischen Flöten- und Continuobegleitung in einem ersten Abschnitt A (T. 1-15) vom Frieden und dem GlĂŒck einer göttlichen Liebe, die es wert ist, sich der Kette ewiger Treue zu ergeben. Auch hier wird g-Moll nicht verlassen. Die Göttlichkeit CybĂšles wird mit einer aufsteigenden Melodielinie und dem Spitzenton d auf âdivinitĂ©â in ihrer Bedeutung hervorgehoben (T. 6-8). Nicht nur ist die Tatsache, dass CybĂšle Göttin ist, Anlass fĂŒr das Auftreten der Götter zur Ăberbringung der Liebesbotschaft, es ist zugleich Grund fĂŒr die ZwĂ€nge, denen Atys sich unterworfen sieht. Die melodische Kulmination fĂ€llt somit auch mit der Peripetie der Oper zusammen. Im Anschluss hieran fĂ€llt die Melodie sukzessive um den Tonumfang einer Undezime. Die Phrase endet offen in der Dominante, sodass die Aussage des GlĂŒcks einer göttlichen Liebe nicht bestĂ€tigt wird. Die klangliche Lieblichkeit, erzeugt durch die ab T. 9 fast durchgĂ€ngig in Terzen gesetzten Flöten, erscheint in ihrer Verbildlichung der Worte PhobĂ©tors als ironischer Kommentar auf die von ihm in tiefster Lage und mit absteigender Melodik besungene Schönheit der Ketten der Liebe. An PhobĂ©tors mehrdeutiges Lob einer Liebe, die Unfreiheit bedeutet, schlieĂt sich die schon bekannte Warnung der Schlafgötter (T. 16-25) sowie deren BekrĂ€ftigung durch Phantase (T. 26-41) an. Die Wiederholung des EntrĂ©e der songes agrĂ©ables beschlieĂt den zweiten Teil der Szene. Mit der Darstellung der guten TrĂ€ume bewegt Lully sich im Bereich der songes divins und der songes animaux. Seine Traumszene folgt somit den in Medizin, Philosophie und Theologie gelĂ€ufigen Vorstellungen gottgesandter TrĂ€ume und der darin auftretenden Gestalten.
Der Auftritt der songes funestes â dritter Teil der Traumszene
Mit dem Auftritt der songes funestes erhÀlt ein dÀmonisches Element Eintritt in die Traumszene. Schlechte TrÀume können einerseits innerhalb der songes corporels bei schlechter körperlicher Verfassung (vgl. Dandrey 1988, 87) auftreten, andererseits in von DÀmonen ausgelösten songes divins, wie sie auch die Medizin annimmt (vgl. Dandrey 1988, 85f.). Ferner kommen sie in DÀmonentrÀumen vor (vgl. Matton 1988, 157). Sie sind damit im Bereich des Bedrohlichen angesiedelt, in dem böse MÀchte als Gegenspieler Gottes oder gesundheitliche Probleme im todesÀhnlichen Schlafzustand wirken.
Ihr Auftritt in der Oper Atys ist auf allen Ebenen von der vorangehenden Traumszene abgesetzt. Am augenfĂ€lligsten ist die Ablösung aller zuvor aufgetretenen Figuren durch die Personifizierungen der schlechten TrĂ€ume und einen einzigen SĂ€nger. Von nun an steht B-Dur im Zentrum, die Tonart des DĂ€monischen (vgl. Henze-Döhring 1997, 318). Die Flöten als Symbol der guten TrĂ€ume treten nicht mehr auf; anstelle von Arien erscheint ein Rezitativ (vgl. Duron 1987c, 59). Die tiefe Lage des Rezitativs âGarde-toy dâoffencer un amour glorieuxâ, die Beschleunigung des Rhythmus durch zahlreiche Achteln (z. B. T. 3) und die Verdopplung der Geschwindigkeit bei den Punktierungen (z. B. T. 2) sorgen fĂŒr einen gewandelten musikalischen Charakter. Signifikant verĂ€ndert ist auch die Continuobegleitung, die mit langen Notenwerten die Taktschwerpunkte betont und eine hauptsĂ€chlich harmonische Funktion ĂŒbernimmt. Die Motivik des Gesangs aber bleibt derjenigen der guten TrĂ€ume Ă€hnlich: Tonwiederholungen und Punktierungen, nun jedoch abgewandelt durch stĂ€rkere melodische Bewegung und einen groĂen Tonumfang bilden die zentralen Elemente. Der songe funeste beginnt seine Warnung vor der Rache CybĂšles mit der zweimaligen Folge von Sext- bzw. Terzsprung abwĂ€rts und schrittweise aufwĂ€rtsgerichteter Bewegung (T. 1-5). Der Spitzenton c (T. 5) sowie eine harmonische Ausweichung nach C-Dur werden erreicht, als er erklĂ€rt, dass CybĂšle fĂŒr ihre Liebe zu einem Sterblichen den Himmel wird verlassen mĂŒssen, und damit die HĂ€rte der Racheandrohungen begrĂŒndet. Auf halbtönige Schritte (T. 5f.) verengt sich in der nĂ€chsten Phrase die melodische Bewegung, als Atys aufgefordert wird, CybĂšles Hoffnung nicht zu vernichten. Die kleinen Intervallschritte deuten bildlich auf die geringe Hoffnung, die fĂŒr sie besteht. Die Motivik kehrt mit den Rachedrohungen zu auf- und absteigenden Skalen zurĂŒck, die mit Tonrepetitionen und Punktierungen durchsetzt sind (T. 7-15). Durch das erneute Erscheinen von C-Dur in T. 10, als der songe funeste vom eifersĂŒchtigen Herzen spricht, verdeutlicht Lully harmonisch in Bezugnahme auf die vorherige Ausweichung nach C-Dur (T. 5), dass es sich um CybĂšles Herz handelt. Die Arie schlieĂt mit der Drohung, dass Atys sich einer so mĂ€chtigen Liebe nicht widersetzen dĂŒrfe. Die Gesangsstimme schwingt sich dabei schrittweise auf (T. 13) und schlieĂt in der Tonika. Ebenso unausweichlich wie das B-Dur dieses Szenenteils ist auch die Liebe CybĂšles und damit der tragische Opernausgang.
Die Tanzeinlage, EntrĂ©e des songes funestes, ist homophon im fĂŒnfstimmigen Lullyschen Streichersatz instrumentiert. Durch die in allen Stimmen gleichzeitig gesetzten Akkordwechsel oder -wiederholungen auf Hauptzeiten sowie die repetierten Punktierungen entsteht ein marschartiger, rigider Charakter. Die Melodiestimme im dessus de violon lockert diese rhythmischen Strukturen nicht grundsĂ€tzlich auf. Nach einer einfĂŒhrenden, absteigenden Sechzehntelskala (T. 1) folgt die Melodik einer Grundstruktur aus punktierten, repetierten Vierteln, hĂ€ufig parallel zur Begleitung (z. B. T. 2f.). Dies wird von Fragmenten aus der Sechzehntelkette durchsetzt, die entweder in lange Noten (z. B. T. 5-7) oder in punktierte Vierteln mĂŒnden (ab T. 22). Die Melodie ist von marschartigem Charakter, den die zahlreichen SprĂŒnge (z. B. der Sextsprung T. 11) und die im Vergleich zu den guten TrĂ€umen bewegte melodische Bewegung kaum aufzulockern vermögen. Die Tonart ist fest in B-Dur verankert. Beide Teile (T. 1-15, T. 16-31) verwenden dieselbe Motivik. Lully zeichnet hier das DĂ€monische nach, das die songes divins bedrohlicher Art kennzeichnet.
Der ChĆur des songes funestes radikalisiert die Motivik der EntrĂ©e, indem ein vierstimmiger Chor homophon und homorhythmisch in fast ausschlieĂlicher Viertelbewegung (vgl. Duron 1987c, 61) die Rache CybĂšles bei Untreue des Atys syllabisch deklamierend beschwört. Der harmonische Rhythmus ist auf vorwiegend taktweise Bewegung verlangsamt (T. 1-3, T. 5f., 12ff., 16-20, 22-28), wobei die Grundtonart nicht verlassen wird. Die akkordische Bewegung wird von fast ausschlieĂlich schrittweisen melodischen Linien begleitet, deren einförmige Viertelbewegung nur an den Phrasenenden durch Punktierungen und abschlieĂende ganze Noten (T. 4f., 9, 14, 15, 16, 18, 22, 24, 27f.) aufgebrochen wird. Lully erstrebt eine Chorrezitation nach Vorbild der griechischen Tragödie: Das Wort steht im Vordergrund. Der nicht am Sprechduktus orientierte, sondern auf gleichmĂ€Ăige Bewegung gerichtete Rhythmus erzeugt einen marschartigen, drohenden Charakter. Dieser vollendet sich mit der zweimal (T. 17-22, 23-28) gesungenen Todeswarnung, deren zweiten Teil âTremble, tremble, crains un affreux trĂ©pasâ (âZittere, zittere, fĂŒrchte einen schrecklichen Todâ, T. 25-28) den Tod explizit benennt. Das Deklamationstempo verlangsamt sich auf Halbe und Ganze, die Melodik stagniert, wĂ€hrend sich eine authentische Kadenz vollzieht â möglicherweise ein musikalischer Hinweis darauf, dass diese Drohung sich bewahrheiten wird. In diesem dritten Szenenteil geht es weniger um die Darstellung eines Traumgeschehens entsprechend der damaligen Vorstellungen, sondern um die dramaturgische Rechtfertigung und AnkĂŒndigung des weiteren Handlungsverlaufs.
Die abschlieĂende DeuxiĂšme EntrĂ©e des songes funestes, ebenfalls fĂŒr fĂŒnfstimmigen Streichersatz, ist von gĂ€nzlich anderem Charakter. Schon im ersten Teil (T. 1-10) sorgt die bewegte und sprunghafte Melodie der dessus de violon mit den tĂ€nzerischen Achtelrhythmen im Dreiertakt fĂŒr Tanzstimmung innerhalb der weiterhin beibehaltenen Tonart B-Dur. Zahlreiche Vorhalte[3] (T. 7ff.) erhöhen die harmonische Spannung. In allen Stimmen bleiben punktierte Tonrepetitionen prĂ€sent, die durch die auf sie folgenden Pausen aber (T. 4, 5, 8, 9) ihren marschhaft-drohenden Gestus verlieren. Mit einer Kadenz nach F-Dur öffnet sich der erste Teil zur Dominante. Der zweite (T. 12-25) fĂŒhrt in den ersten beiden Takten die Motivik des ersten fort, weicht dann aber unvermittelt auf den Gestus des vorangehenden Chores aus. Wirkt die homophon vorgetragene Viertelpunktierung mit zwei Sechzehnteln am Anfang jedes Taktes (T. 14-18) noch verspielt, so wird mit den ĂŒberwiegend repetierten Viertelen auf die Deklamation des Chores und seine Todeswarnung angespielt. Auch die Harmonik erscheint hier analog zum Chor auf taktweise Bewegung verlangsamt. Mit absteigenden, von Achteln durchsetzten Skalen im Tonumfang einer Septime schlieĂt der zweite Teil (T. 19-25). Die Begleitstimmen sind aus derselben Motivik gewonnen, sodass am Ende ein tĂ€nzerischer Charakter vorherrscht. Die AbwĂ€rtsbewegung der Skalen aber vermag nicht ĂŒber die DĂŒsterkeit von Atysâ Zukunft hinwegzutĂ€uschen. Mit dieser fast verspielten Darstellung der schlechten TrĂ€ume illustriert Lully die Gestalten derselben als dĂ€monische Wesen. Der Ăberschwang des Tanzes erinnert an das Dionysische, wobei im Zentrum des StĂŒckes, einem warnenden Fingerzeig gleich, auf die Todesandrohung verwiesen wird. Insbesondere hierdurch wird die dramaturgische Funktion dieses Szenenteils in Erinnerung gerufen. Die Szene endet mit dem Verschwinden der Szenerie und ihrer Figuren, als Atys verschreckt aus seinem Traum erwacht.
Lullys Traumdarstellung
Lullys Traumszene zeichnet sich durch ihre klare Struktur, ihre Anlehnung an die Traumvorstellungen des 17. Jahrhunderts â derjenigen des songe divin und der dĂ€monischen TrĂ€ume â und ihre dramaturgische Funktion aus. GemÀà dem mythologischen Thema wĂ€hlt Lully einen songe divin. Den Traumvorstellungen seiner Zeit entsprechend erscheint hierin die Botschaft der Göttin CybĂšle vermittelt durch allegorische Figuren. Die szenische Darstellung des Traumgeschehens und das Erschrecken Atys' beim Erwachen sind fĂŒr das Theater typische Darstellungen des Traumes (vgl. Forestier 1988, 16f.). Als göttlicher Traum ist er ein nach den damaligen Vorstellungen in Medizin, Theologie und Volksglauben real mögliches PhĂ€nomen. Durch seine Einbettung in eine mythologische Fiktion und die dadurch erfolgende Abgrenzung vom Sakralen wird seine zukunftsvorhersagende Komponente aus theologischer Sicht akzeptabel. Aus der Perspektive der Philosophie am Ende des 17. Jahrhunderts aber ist die handlungsvorausnehmende Komponente dieses göttlichen Traums nicht mehr zeitgemÀà (vgl. Simon 1988, 141f.). Es ist eben diese Komponente, die den Traum des Atys als geschickten Kunstgriff ausweist: Lully bindet den Traum eng in die dramaturgische Gestaltung seiner Oper ein, indem er hierin das nach der biensĂ©ance unmögliche LiebesgestĂ€ndnis einer Göttin an einen Sterblichen darstellt und damit zugleich den Handlungsausgang begrĂŒndet und vorbereitet. In seiner zukunftsvorhersagenden Funktion zeugt der Traum von einem konservativen TraumverstĂ€ndnis, da insbesondere in der Philosophie von MĂ©nĂ©strier (vgl. Gautier 1988, 10) und Descartes (vgl. Simon 1988, 141f.) Ende des 17. Jahrhunderts die visionĂ€re Kraft von TrĂ€umen hinterfragt wird. Die Zukunftsweisung ist also weniger eine zeitgemĂ€Ăe Traumvorstellung als ein zentrales dramaturgisches Mittel. Somit besteht bei Lully eine enge Koppelung der musikdramatischen Traumdarstellung mit den medizinischen, philosophischen, theologischen und allgemeinen Traumvorstellungen des 17. Jahrhunderts. Ob seine Nachfolger in Oper und Instrumentalmusik die Gestaltung ihrer Traumdarstellungen an zeitgenössischem Gedankengut orientierten, bleibt noch zu erforschen. Erkenntnisse hierĂŒber wĂŒrden Aufschluss darĂŒber geben, ob die Rezeption von Lullys Traumszene sich ausschlieĂlich auf die kompositorische Gestaltung bezogen, oder ob auch ihr konzeptioneller und ideengeschichtlicher Hintergrund an die jeweilige Gegenwart angepasst wurde. Ein solcher Zusammenhang wĂŒrde einen engen Bezug zwischen den gelehrten Denktraditionen und der Kunst belegen können â eine InterdisziplinaritĂ€t von ungeahnter ModernitĂ€t.
Einordnung
Die Traumszene aus Lullys Atys avanciert zu einem eigenen Szenentypus in der französischen Oper (Ă€hnlich den Sturm- oder Wahnsinnsszenen) und wird ĂŒber die Grenzen des Musiktheaters hinweg in weltlicher und sakraler Musik der Ă©poque classique rezipiert (vgl. Stenzl 1991, 16f.). Diese rege Rezeption ist möglicherweise eine Folge des groĂen Erfolges dieser Oper, die sich in zahlreichen WiederauffĂŒhrungen und vielfachen Parodien bis Mitte des 18. Jahrhunderts zeigt (vgl. Rubellin 2005, 141f.).
Lullys Traumszene kennt aber auch VorlĂ€ufer. Nach dem Vorbild von Schlaf- und Nachtbildern petrarkistischer Gedichte und ihrer Vertonung bei Komponisten wie Claudio Monteverdi und Orlando di Lasso, erscheinen in der frĂŒhen italienischen Oper des 17. Jahrhunderts, wie etwa bei Monteverdi, Einschlaflieder (vgl. Stenzl 1991, 16). Konkret bezieht Lully sich auf Luigi Rossos Orfeo (1647), indem er dessen Soprantrio âDormite begli occhiâ in der comĂ©die ballet Les amants magnifiques nachahmt.[4] Zudem ergĂ€nzt Lully die Pariser AuffĂŒhrung des Ercole amante 1662 von Francesco Cavalli um ein Divertissement (Le Sommeil et les songes), das eine Traumszene ist und erstmals den Schlaf und die TrĂ€ume szenisch sichtbar macht (vgl. Stenzl 1991, 17f.).
Traumszenen in der Tradition Lullys sind in der französischen und italienischen Oper vielfach rezipiert worden, so bei Henry Desmartes, Marain Marais, AndrĂ© Destouches, Jean-Baptiste Matho, Jean-Philippe Rameau oder Georg Friedrich HĂ€ndel. Sie haben auch Eingang in die Instrumentalmusik bis hin zu François Couperin und Johann Sebastian Bach gefunden (vgl. Wood 1996, 330-334 u. Stenzl 1991, 18 u. 21). Hierin zeigt sich die auĂerordentliche Bedeutung von Lullys Oper und insbesondere der darin enthaltenen Traumszene. Bei der Rezeption steht vor allem die Ăbernahme der musikalischen Gestaltung im Vordergrund â es bilden sich aus der kompositorischen Umsetzung der Traumszene in Atys Topoi der Traumdarstellung â auch indem Lully selbst sommeil-Szenen nach Vorbild seiner Oper Atys in Isis (1677), PersĂ©e (1682), PhaĂ«ton (1683), Roland (1685), und Armide (1686) einsetzt (vgl. Wood 1996, 330-334). Traumszenen als jenseitiges Motiv, als Ansprache einer Göttin zur Ăberzeugung einer Person, werden in der französischen Oper Lullys und seiner Nachfolger populĂ€r (vgl. Wood 1996, 252f.). Die Ăberschreitung des real Möglichen und der Konventionen wird so mit dem Medium Traum markiert. Lullys Traumszene wird zu einem Meilenstein der musikalischen Traumdarstellung und nimmt damit eine zukunftsweisende Rolle in der Musikgeschichte ein.
Literatur
Ausgaben
- Atys. Tragédie en cinq actes avec prologue, livret de Philippe Quinault, partition générale. BibliothÚque Municipale de Paris. BibliothÚque municipale Versailles, Manuscript musical 100.
- Atys: Tragedie en musique. Ornée d'entrées de ballet, de machines, & de changements de theatre. Representée devant Sa Majesté à Saint Germain en Laye, le dixiéme jour de janvier 1676. Paris: Ballard 1776; online.
- Atys. Tragédie mise en musique. Paris: Ballard 2. Aufl. 1720; online.
- Atys. Tragédie mise en musique. Paris: Baussen 2. Aufl. 1709.
- Atys. Tragédie mise en musique. Facsimile of the first edition [1689]. Hg. von Elma Sanders. The Tragédies lyriques in Facsimile. Bd. 4. New York: Broude 1998.
Verwendete Ausgabe:
- Atys. Hg. von Nicolas Sceaux. o.O. 2010-2012; online (zitiert mit der Sigle A; alle Ăbersetzungen daraus von Verf.).
Forschungsliteratur
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- Forestier, Georges: Le rĂȘve littĂ©raire du baroque au classicisme. RĂ©flexes typologiques et enjeux esthĂ©tiques. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 213-235.
- Gautier, Jean-Luc: RĂȘver en France au XVIIe siĂšcle. Une introduction. In: Revue des Sciences humaines 211 (1988), 7-24.
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- Stenzl, JĂŒrg: Traum und Musik. In: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.): Musik und Traum. MĂŒnchen: Ed. Text + Kritik 1991, 8-102 (Musik-Konzepte 74).
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- Zywietz, Micheal: Der Tanz in den Divertissements der TragĂ©dies en musique. In: Thomas Seedorf (Hg.): Barockes Musiktheater in Geschichte und Gegenwart. Bericht ĂŒber die Symposien der internationalen HĂ€ndel-Akademie Karlsruhe 2005 bis 2007. Laaber: Laaber 2010, 211-220 (Veröffentlichungen der Internationalen HĂ€ndel-Akademie Karlsruhe 9).
Weblinks
- Art.: Jean-Baptiste Lully. In: Grove Music Online: http://www.oxfordmusiconline.com/ (Nur fĂŒr Subskribenten zugĂ€nglich!)
- Rosow, Lois: Atys. In: Grove Music Online: http://www.oxfordmusiconline.com/ (Nur fĂŒr Subskribenten zugĂ€nglich!)
AuffĂŒhrungen:
- Video der AuffĂŒhrung an der OpĂ©ra comique, Paris, 1987; Regie: William Christie, Dirigent: Jean-Marie VillĂ©gier (ca. 3 Stunden, 5 Minuten; Traumszene ca. ab 1:25); online.
- Querschnitt durch eine AuffĂŒhrung an der OpĂ©ra comique, Paris 2011; Regie: William Christie, Dirigent: Jean-Marie VillĂ©gier (ca. 3 Minuten): Französisch, Englisch.
- Auftritt von Le Sommeil, AuffĂŒhrung des Ensembles Les Arts Florissants, ThĂ©Ăątre de Caen, 2014 (ca. 3 Minuten): online.
- Songes agréables et funestes, Regie: Iakovos Pappas, Dirigent: Vassilis Anastasiou, Mégaron Athen, 2010 (ca. 5 Minuten): online.
- Songes funestes, Opéra comique, Paris 2011 (ca. 4 Minuten): online.
Anmerkungen
- â Die Subdominante c-Moll in T. 156 wird ĂŒber die Dominante auf Zz. 1 erreicht. AnschlieĂend erscheint wieder G-Dur als Zwischendominante, der eine Septime hinzugefĂŒgt wird und die sich wiederum in c-Moll auflöst (T. 158), das diesmal mit Sekundvorhalt erscheint. Wieder erfolgt ein Wechsel zur Zwischendominante, deren Quartvorhalt sich auflöst (T. 148) und sich abermals in die Zwischendominante auflöst. In der Folge wird ein Ă€hnliches Spiel mit der Tonikaparallele und ihrer Zwischendominante verfolgt. Ăber die Tonikaparallele wird die Dominante D-Dur (T. 169) erreicht, die sich nach einem Spannungsaufbau durch einen Trugschluss (T. 172f.) und einen plagalen Schluss (T. 174f.) schlussendlich mit Erreichen der Schlusstakte in die Tonika auflöst (T. 178-180).
- â Als colla parte wird eine mit den Gesangstimmen identische Instrumentalbegleitung bezeichnet.
- â Ein Vorhalt ist eine harmoniefremde, dissonierende Note auf einer schweren Taktzeit, die sich durch einen Sekundschritt in einen harmonieeigenen Ton auflöst.
- â Lully verwendet dieselbe Szene fĂŒr Les FĂȘtes de lâAmour et de Bacchus (1672) (vgl. Wood 1997, 327).
Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel: Roth, Christine: "Atys" (Jean-Baptiste Lully). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2017; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Atys%22_(Jean-Baptiste_Lully) . |