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Das ''Decameron'' ist nur einer von mehreren Texten, in denen Giovanni Boccaccio sich mit dem Phänomen des Traums auseinandersetzt. Wie die meisten europäischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts steht er unter dem Einfluss von Traumbüchern, Traumdeutungen und Traumwissen seiner Zeit (Capozzo 2013, 206). Eingebunden in ein intertextuelles Netzwerk von Traumdiskursen in der italienischen Barock- und Renaissanceliteratur (Scholl 2008, 111) nimmt Boccaccio Bezug auf [["Oneirokritika" (Artemidor von Daldis)|Artemidor]] und Macrobius als antike Referenzmodelle. Insbesondere die Einteilung der Träume nach Macrobius findet nicht nur Eingang in das fiktionale Werk Boccaccios, sondern bildet darüber hinaus die Grundlage für sein Kapitel über den Traumgott („De Somno Herebi filio XVII“) in den ''Genealogie deorum gentilium'', deren erste Version 1360 erscheint. Die enzyklopädische Zusammenstellung griechisch-römischer Götterfiguren fasst unter Berufung auf weitere antike Autoritäten wie Vergil oder Homer die Klassifikation des Macrobius zusammen (Capozzo 2015, 204 f.; Samaké 2020, 49 f.): „somnia sunt multiplicum specierum, ex quibus quinque tantum super Somnio Scipionis ostendit Macrobius“ („Es gibt verschiedene Arten von Träumen, von denen Macrobius allein fünf nur in Bezug auf den Traum des Scipio vorführt“; Boccaccio 1951, 58).<ref>Albert Schirrmeister (2021, 371) weist darauf hin, dass die u.a. von Macrobius verwendeten lateinischen Begriffe die romanischen Sprachen bis heute beeinflussen, dabei aber auch zu Unschärfen und Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Schlaf und Traum geführt haben. </ref>  Die Orientierung am antiken Modell der Systematisierung schlägt sich später auch in der Differenzierung von Traumtypen im ''Decameron'' nieder.
 
Das ''Decameron'' ist nur einer von mehreren Texten, in denen Giovanni Boccaccio sich mit dem Phänomen des Traums auseinandersetzt. Wie die meisten europäischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts steht er unter dem Einfluss von Traumbüchern, Traumdeutungen und Traumwissen seiner Zeit (Capozzo 2013, 206). Eingebunden in ein intertextuelles Netzwerk von Traumdiskursen in der italienischen Barock- und Renaissanceliteratur (Scholl 2008, 111) nimmt Boccaccio Bezug auf [["Oneirokritika" (Artemidor von Daldis)|Artemidor]] und Macrobius als antike Referenzmodelle. Insbesondere die Einteilung der Träume nach Macrobius findet nicht nur Eingang in das fiktionale Werk Boccaccios, sondern bildet darüber hinaus die Grundlage für sein Kapitel über den Traumgott („De Somno Herebi filio XVII“) in den ''Genealogie deorum gentilium'', deren erste Version 1360 erscheint. Die enzyklopädische Zusammenstellung griechisch-römischer Götterfiguren fasst unter Berufung auf weitere antike Autoritäten wie Vergil oder Homer die Klassifikation des Macrobius zusammen (Capozzo 2015, 204 f.; Samaké 2020, 49 f.): „somnia sunt multiplicum specierum, ex quibus quinque tantum super Somnio Scipionis ostendit Macrobius“ („Es gibt verschiedene Arten von Träumen, von denen Macrobius allein fünf nur in Bezug auf den Traum des Scipio vorführt“; Boccaccio 1951, 58).<ref>Albert Schirrmeister (2021, 371) weist darauf hin, dass die u.a. von Macrobius verwendeten lateinischen Begriffe die romanischen Sprachen bis heute beeinflussen, dabei aber auch zu Unschärfen und Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Schlaf und Traum geführt haben. </ref>  Die Orientierung am antiken Modell der Systematisierung schlägt sich später auch in der Differenzierung von Traumtypen im ''Decameron'' nieder.
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Bereits einige Jahre vor der Novellensammlung publiziert Boccaccio zwischen 1342 und 1343 die ''Amorosa visione'', einen auf Dantes ''[["Divina Commedia" (Dante Alighieri)|''Commedia'']]'' reagierenden, ebenfalls in Gesängen und Terzinen verfassten Text. Die im Titel evozierte ''visione'', die ja eine der Traumkategorien nach Macrobius darstellt, verweist auf die Bedeutung des Onirischen für die Handlung: Entbrannt in Liebe zu Fiammetta schläft das lyrische Subjekt ein und durchläuft verschiedene Stationen einer Traumreise (Scholl 2008, 116 f.), die auf das Wirken der Liebe bzw. Amors als Liebesgott zurückgeht und zu Begegnungen mit der Angebeteten führt. In den einleitenden Kapiteln wird die ''visione'' weitere drei Mal benannt (Boccaccio 1939, 119 f.), bevor im ersten Kapitel der eigentlichen Handlung der Übergang zum Schlaf und zum Traumerleben geschildert wird – der Liebende legt sich ins Bett, schläft ein und sieht sich, nun im Traum, in einer verlassenen Landschaft laufen: „Lí mi posai, e ciascun occhio grave/ al sonno diedi [...]/ Cosí dormendo, in su’ liti salati/ mi vidi correr [...] in quelli abbandonati“ („###########“; Boccaccio 1939, 122).  
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Bereits einige Jahre vor der Novellensammlung publiziert Boccaccio zwischen 1342 und 1343 die ''Amorosa visione'', einen auf Dantes ''[["Divina Commedia" (Dante Alighieri)|''Commedia'']]'' reagierenden, ebenfalls in Gesängen und Terzinen verfassten Text. Die im Titel evozierte ''visione'', die ja eine der Traumkategorien nach Macrobius darstellt, verweist auf die Bedeutung des Onirischen für die Handlung: Entbrannt in Liebe zu Fiammetta schläft das lyrische Subjekt ein und durchläuft verschiedene Stationen einer Traumreise (Scholl 2008, 116 f.), die auf das Wirken der Liebe bzw. Amors als Liebesgott zurückgeht und zu Begegnungen mit der Angebeteten führt. In den einleitenden Kapiteln wird die ''visione'' weitere drei Mal benannt (Boccaccio 1939, 119 f.), bevor im ersten Kapitel der eigentlichen Handlung der Übergang zum Schlaf und zum Traumerleben geschildert wird – der Liebende legt sich ins Bett, schläft ein und sieht sich, nun im Traum, in einer verlassenen Landschaft laufen: „Lí mi posai, e ciascun occhio grave/ al sonno diedi [...]/ Cosí dormendo, in su’ liti salati/ mi vidi correr [...] in quelli abbandonati“ („Dort legte ich mich nieder und gab jedes meiner schweren Augen dem Schlaf [...] Während ich so schlief, sah ich mich an salzigen Ufern laufen [...] an diesen verlassenen Ufern“; Boccaccio 1939, 122).  
    
Auch in der 1366 veröffentlichten Erzählung ''Il Corbaccio'' (Die Krähe), einem der späteren Werke Boccaccios, spielen sich weite Teile der Handlung in einem Traum ab. Der von einer vermeintlich unschuldig ins Unglück geratenen Frau getäuschte Protagonist wird in einem Traum über ihren wahren Charakter aufgeklärt. Ganz in mittelalterlicher Tradition ist der Traum von einer göttlichen Instanz bedingt; er entsteht aus der „divina grazia“ (Boccaccio 1982, 107), der Gottesgnade, heraus und dient der Findung einer Wahrheit, die dann in der Wachwelt genutzt werden kann. Die Gestaltung der fantastisch anmutenden Traumlandschaft in ''Il Corbaccio'' weist voraus auf die ,fremde‘ onirische Welt in Francesco Colonnas ''Hypnerotomachia Poliphili'' von 1499 (Scholl 2008, 117 f.). Zeitlich liegt die Entstehung des ''Decameron'' (1349-1353) zwischen der ''Amorosa visione'' einerseits und den ''Genealogie deorum gentilium'' sowie ''Il Corbaccio'' andererseits. Die Traumerzählungen der Novellensammlung sind also zugleich als Rückverweise auf die chronologisch früheren Texte und als Grundlage für Boccaccios spätere Überlegungen zum Traum lesbar.
 
Auch in der 1366 veröffentlichten Erzählung ''Il Corbaccio'' (Die Krähe), einem der späteren Werke Boccaccios, spielen sich weite Teile der Handlung in einem Traum ab. Der von einer vermeintlich unschuldig ins Unglück geratenen Frau getäuschte Protagonist wird in einem Traum über ihren wahren Charakter aufgeklärt. Ganz in mittelalterlicher Tradition ist der Traum von einer göttlichen Instanz bedingt; er entsteht aus der „divina grazia“ (Boccaccio 1982, 107), der Gottesgnade, heraus und dient der Findung einer Wahrheit, die dann in der Wachwelt genutzt werden kann. Die Gestaltung der fantastisch anmutenden Traumlandschaft in ''Il Corbaccio'' weist voraus auf die ,fremde‘ onirische Welt in Francesco Colonnas ''Hypnerotomachia Poliphili'' von 1499 (Scholl 2008, 117 f.). Zeitlich liegt die Entstehung des ''Decameron'' (1349-1353) zwischen der ''Amorosa visione'' einerseits und den ''Genealogie deorum gentilium'' sowie ''Il Corbaccio'' andererseits. Die Traumerzählungen der Novellensammlung sind also zugleich als Rückverweise auf die chronologisch früheren Texte und als Grundlage für Boccaccios spätere Überlegungen zum Traum lesbar.
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Panfilos Überlegungen sind auch als ironischer, metaliterarischer Kommentar Boccaccios lesbar (Capozzo 2013, 209) – insbesondere in der Vorausschau auf die sechste Geschichte des neunten Tages, in der ein von den Figuren lediglich erfundener Traum vorkommt. Auch wenn Boccaccio von einem modernen Traumverständnis weit entfernt ist, wird in Panfilos kleiner Ansprache die Differenz zwischen Wachwelt und Traumwelt sichtbar gemacht. Eine Alterität des onirischen Erlebens wird darin zumindest angedeutet.
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Panfilos Überlegungen sind auch als ironischer, metaliterarischer Kommentar Boccaccios lesbar (Capozzo 2013, 209; Marchesi 2004, 170) – insbesondere in der Vorausschau auf die sechste Geschichte des neunten Tages, in der ein von den Figuren lediglich erfundener Traum vorkommt. Auch wenn Boccaccio von einem modernen Traumverständnis weit entfernt ist, wird in Panfilos kleiner Ansprache die Differenz zwischen Wachwelt und Traumwelt sichtbar gemacht. Eine Alterität des onirischen Erlebens wird darin zumindest angedeutet. Zugleich kommt es in der Rede zu einer Parallelführung von Literatur- und Traumreflexion, die bereits im Werk des Macrobius angelegt ist und von dort aus Boccaccio ebenso wie seine Zeitgenossen beeinflusst (Döring 2020, 159; Marchesi 2004, 176 f.). Auf diese Weise erweist sich die Rede als Ausdruck einer „precisa etica dell'interpretazione“ (Marchesi 2004, 178), wird also zum Entstehungsort einer hermeneutischen Deutungsethik von Traum und Erzählung.
    
In Panfilos Novelle geht es wie zuvor bei Filomena um einen Traum, der sich als wahr erweisen wird. Aus der antiken Literatur übernimmt Boccaccio das Motiv eines Doppeltraums (Balestrero 2009, 31), der zwei Personen gleichzeitig widerfährt. Von Panfilos allgemein gehaltenen Aussagen über den Weissagungscharakter von Träumen findet mit dem Beginn der Erzählung ein Übergang in eine höfisch-adlige Welt statt (Branca 1998, 120): Andreuola, Tochter eines reichen Edelmanns, liebt den moralisch vorbildlichen, aber ärmeren Gabriotto, den sie auf Grund des Standesunterschieds nur heimlich heiraten kann. Gestört wird das zum Alltag gewordene Idyll der verborgenen Liebesbeziehung (Cingolani 2003, 76) durch einen Alptraum Andreuolas, in dem Gabriotto von einem namenlosen schwarzen Etwas angefallen und verschleppt wird:  
 
In Panfilos Novelle geht es wie zuvor bei Filomena um einen Traum, der sich als wahr erweisen wird. Aus der antiken Literatur übernimmt Boccaccio das Motiv eines Doppeltraums (Balestrero 2009, 31), der zwei Personen gleichzeitig widerfährt. Von Panfilos allgemein gehaltenen Aussagen über den Weissagungscharakter von Träumen findet mit dem Beginn der Erzählung ein Übergang in eine höfisch-adlige Welt statt (Branca 1998, 120): Andreuola, Tochter eines reichen Edelmanns, liebt den moralisch vorbildlichen, aber ärmeren Gabriotto, den sie auf Grund des Standesunterschieds nur heimlich heiraten kann. Gestört wird das zum Alltag gewordene Idyll der verborgenen Liebesbeziehung (Cingolani 2003, 76) durch einen Alptraum Andreuolas, in dem Gabriotto von einem namenlosen schwarzen Etwas angefallen und verschleppt wird:  
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Auch hier wird von der Erzählinstanz die Situierung der Ereignisse in einer Traumwelt dadurch noch einmal hervorgehoben, dass Andreuola jeweils nur ''glaubt'', das Entsprechende zu erleben. Anders als Lisabetta erhält sie im Traum keine sprachlich vermittelte Botschaft; stattdessen wird in dem, was ihr visuell begegnet, eine Bedrohung für Gabriottos Leben manifest, die sie verängstigt aufwachen lässt. In der Unförmigkeit erhält das schwarze Etwas einen beinahe übernatürlichen Charakter und entsprechend verfügt es über eine „maravigliosa forza“. Das Adjektiv eröffnet an dieser Stelle einen Diskurs des Fantastisch-Wunderbaren (Canovas 1996, 561). Eine konkrete Handlungsanweisung erhält Andreuola nicht, interpretiert den Traum aber als Warnung und möchte ein nächstes Treffen mit Gabriotto vermeiden. Als es dennoch dazu kommt und sie von ihrem Traum berichtet, sieht der Geliebte darin keine Warnung. Er beruft sich auf eine andere verbreitete mittelalterliche Theorie der Traumentstehung, nämlich auf den Einfluss zuvor konsumierter Speisen: „Gabriotto udendo questo se ne rise e disse che grande sciocchezza era porre ne’ sogni alucna fede, per ciò che o per soperchio di cibo o per mancamento di quello avvenieno“ (D 381; „Gabriotto aber lachte über ihre Rede und sagte, Träumen irgendwelchen Glauben beizumessen, sei eine große Torheit, denn sie entständen aus Übermaß oder aus Mangel an Speise“, Dd 373). Erst danach offenbart er, dass auch er einen bedrohlichen Traum hatte. In direkter Rede fasst er den Inhalt zusammen. Es taucht ebenfalls ein schwarzes Ungeheuer auf („una veltra nera come carbone, affamata e spaventevole molto nell’apparenza“, D 382; „ein kohlschwarzer Windhund von gierigem und furchtbarem Aussehen“, Dd 374). Aus der unförmigen Kreatur, die Andreuola sieht, ist hier also die konkrete Figur eines Windhundes geworden. Insgesamt wird das, was bei Andreuola unspezifisch und unklar bleibt, bei Gabriotto zu einer sehr viel detaillierteren Traumszene, die auch einen ausgeschmückten Schauplatz enthält (Cingolani 2003, 76–79). Sein Traum ist eine Art ent-allegorisierte Variante dessen, was Andreuola im Schlaf geschieht. Gabriotto erkennt allerdings keine Parallelen zum Traum seiner Geliebten. Stattdessen weist er sie an, dem Inhalt von Träumen keinen Glauben zu schenken (D 382). Dass seine Interpretation die falsche ist, wird aus der unmittelbaren Konsequenz ersichtlich: Noch während des Treffens fällt Gabriotto plötzlich tot auf der Wiese nieder. Nur eine der beiden Personen hat das Traumgeschehen korrekt gedeutet. Trotzdem zeigt die Doppelung des Traumerlebens in der Gegensätzlichkeit beider Auslegungen innerhalb von Boccaccios Traumdiskurs an der Schwelle vom Mittelalter zur frühen Neuzeit auf, dass unterschiedliche Ansätze der Traumdeutung nebeneinander existieren (Münchberg/Strohmaier 2020, 276).
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Auch hier wird von der Erzählinstanz die Situierung der Ereignisse in einer Traumwelt dadurch noch einmal hervorgehoben, dass Andreuola jeweils nur ''glaubt'', das Entsprechende zu erleben. Anders als Lisabetta erhält sie im Traum keine sprachlich vermittelte Botschaft; stattdessen wird in dem, was ihr visuell begegnet, eine Bedrohung für Gabriottos Leben manifest, die sie verängstigt aufwachen lässt. In der Unförmigkeit erhält das schwarze Etwas einen beinahe übernatürlichen Charakter und entsprechend verfügt es über eine „maravigliosa forza“. Das Adjektiv eröffnet an dieser Stelle einen Diskurs des Fantastisch-Wunderbaren (Canovas 1996, 561). Eine konkrete Handlungsanweisung erhält Andreuola nicht, interpretiert den Traum aber als Warnung und möchte ein nächstes Treffen mit Gabriotto vermeiden. Als es dennoch dazu kommt und sie von ihrem Traum berichtet, sieht der Geliebte darin keine Warnung. Er beruft sich auf eine andere verbreitete mittelalterliche Theorie der Traumentstehung, nämlich auf den Einfluss zuvor konsumierter Speisen: „Gabriotto udendo questo se ne rise e disse che grande sciocchezza era porre ne’ sogni alucna fede, per ciò che o per soperchio di cibo o per mancamento di quello avvenieno“ (D 381; „Gabriotto aber lachte über ihre Rede und sagte, Träumen irgendwelchen Glauben beizumessen, sei eine große Torheit, denn sie entständen aus Übermaß oder aus Mangel an Speise“, Dd 373). Erst danach offenbart er, dass auch er einen bedrohlichen Traum hatte. In direkter Rede fasst er den Inhalt zusammen. Während er noch dabei ist, ein Reh zu zähmen, das sich als ''cavriuola'' auf Andruola reimt und der Geliebten damit eine allegorische Gestalt verleiht (Döring 2020, 156), taucht ebenfalls ein schwarzes Ungeheuer auf („una veltra nera come carbone, affamata e spaventevole molto nell’apparenza“, D 382; „ein kohlschwarzer Windhund von gierigem und furchtbarem Aussehen“, Dd 374). Aus der unförmigen Kreatur, die Andreuola sieht, ist hier also die konkrete Figur eines Windhundes geworden. Insgesamt wird das, was bei Andreuola unspezifisch und unklar bleibt, bei Gabriotto zu einer sehr viel detaillierteren Traumszene, die auch einen ausgeschmückten Schauplatz enthält (Cingolani 2003, 76–79). Sein Traum ist eine Art ent-allegorisierte Variante dessen, was Andreuola im Schlaf geschieht. Gabriotto erkennt allerdings keine Parallelen zum Traum seiner Geliebten. Stattdessen weist er sie an, dem Inhalt von Träumen keinen Glauben zu schenken (D 382). Dass seine Interpretation die falsche ist, wird aus der unmittelbaren Konsequenz ersichtlich: Noch während des Treffens fällt Gabriotto plötzlich tot auf der Wiese nieder. Nur eine der beiden Personen hat das Traumgeschehen korrekt gedeutet. Trotzdem zeigt die Doppelung des Traumerlebens in der Gegensätzlichkeit beider Auslegungen innerhalb von Boccaccios Traumdiskurs an der Schwelle vom Mittelalter zur frühen Neuzeit auf, dass unterschiedliche Ansätze der Traumdeutung nebeneinander existieren (Münchberg/Strohmaier 2020, 276). Mit Gabriottos Tod ist die Novelle noch nicht zu Ende: Andreuola entfernt den Leichnam des Geliebten und wird des Mordes verdächtigt. Der Podestà, der Gemeindeadministrator, will Andreuola bestechen und gegen sexuelle Leistungen freilassen; sie bleibt allerdings standhaft und erlangt ihre Freiheit wieder. Indem die Novelle eine Traum- und eine Gerichtsepisode miteinander verbindet, lotet sie zwei unterschiedliche Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns aus (Döring 2020, 154 f.).
    
====IX,6: Ein fingierter Traum als Handlungsstrategie====
 
====IX,6: Ein fingierter Traum als Handlungsstrategie====
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===Forschungsliteratur===
 
===Forschungsliteratur===
 
* Balestrero, Monica: L’immaginario del sogno nel ''Decameron''. Rom: ARACNE 2009.
 
* Balestrero, Monica: L’immaginario del sogno nel ''Decameron''. Rom: ARACNE 2009.
* Barry, Jones: Dreams and Ideology. Dec. IV,6 ["Il Decamerone"]. In: Studi sul Boccaccio 10 (1977/78), 149-161.
   
* Blanc, Pierre: Vision d’amour et lumières du rêve: ''Decameron'', IV,5; IV,6; IX,7. In: Arzanà 4 (1997), 89–113.  
 
* Blanc, Pierre: Vision d’amour et lumières du rêve: ''Decameron'', IV,5; IV,6; IX,7. In: Arzanà 4 (1997), 89–113.  
 
* Branca, Vittore: Boccaccio medievale e nuovi studi sul ''Decameron''. Florenz: Sansoni 1998.
 
* Branca, Vittore: Boccaccio medievale e nuovi studi sul ''Decameron''. Florenz: Sansoni 1998.
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* Canovas, Frédéric: Forme et fonction de l’énoncé onirique dans le texte médiéval. L’exemple du ''Décaméron''. In: Neophilologus 80 (1996), 555–568.
 
* Canovas, Frédéric: Forme et fonction de l’énoncé onirique dans le texte médiéval. L’exemple du ''Décaméron''. In: Neophilologus 80 (1996), 555–568.
 
* Capozzo, Valerio: „Delle verità dimostrate da’ sogni“: Boccaccio e l’oniromanzia medievale. In: Francesco Ciabattoni u.a. (Hg.): Boccaccio 1313–2013. Ravenna: Longo Editore 2015, 203–211.
 
* Capozzo, Valerio: „Delle verità dimostrate da’ sogni“: Boccaccio e l’oniromanzia medievale. In: Francesco Ciabattoni u.a. (Hg.): Boccaccio 1313–2013. Ravenna: Longo Editore 2015, 203–211.
* Carrai, Stefano: Il sogno di Gabriotto ("Decameron", IV,6). In: Gennaro Barbarisi (ed.), Studi vari di lingua e letteratura italiana in onore di Giuseppe Velli. Milano 2000, 179-185.
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* Carrai, Stefano: Il sogno di Gabriotto (''Decameron'', IV,6). In: Gennaro Barbarisi (Hg.): Studi vari di lingua e letteratura italiana in onore di Giuseppe Velli. Mailand: Cisalpino 2000, 179–185.
 
* Cingolani, Gabriele: „Una cosa oscura e terribile“. Boccaccio, ''Decameron'', IV, 6. In: Ders./Marco Riccini (Hg.): Sogno e racconto. Archetipi e funzioni. Florenz: Felice Le Monnier 2003, 70–83.
 
* Cingolani, Gabriele: „Una cosa oscura e terribile“. Boccaccio, ''Decameron'', IV, 6. In: Ders./Marco Riccini (Hg.): Sogno e racconto. Archetipi e funzioni. Florenz: Felice Le Monnier 2003, 70–83.
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* Döring, Pia Claudia: Praktiken des Rechts in Boccaccios ''Decameron''. Die novellistische Analyse juristischer Erkenntniswege. Berlin: Schmidt 2020.
 
* Emmelius, Caroline: Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin: de Gruyter 2010 (Frühe Neuzeit 139).
 
* Emmelius, Caroline: Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin: de Gruyter 2010 (Frühe Neuzeit 139).
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* Jones, Barry: Dreams and Ideology. Dec. IV,6 [''Il Decamerone'']. In: Studi sul Boccaccio 10 (1977/78), 149–161.
 
* Keskiaho, Jesse: Dreams and Visions in the Early Middle Ages. The Reception and Use of Patristic Ideas, 400–900. Cambridge: Cambridge UP 2015.
 
* Keskiaho, Jesse: Dreams and Visions in the Early Middle Ages. The Reception and Use of Patristic Ideas, 400–900. Cambridge: Cambridge UP 2015.
 
* Küpper, Joachim: Affichierte ,Exemplarität‘, tatsächliche A-Systematik. Boccaccios ''Decameron'' und die Episteme der Renaissance. In: Klaus W. Hempfer (Hg.): Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Stuttgart: Steiner 1993, 47–93.  
 
* Küpper, Joachim: Affichierte ,Exemplarität‘, tatsächliche A-Systematik. Boccaccios ''Decameron'' und die Episteme der Renaissance. In: Klaus W. Hempfer (Hg.): Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Stuttgart: Steiner 1993, 47–93.  
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* Marchesi, Simone: Dire la verità dei sogni: la teoria di Panfilo in ''Decameron'' IV.6. In: Italica 81/2 (2004), 170–183.
 
* Münchberg, Katharina/Strohmaier, Paul: Frühneuzeitliche Traumwelten. Zur Einführung. In: Dies. (Hg.): Träume in der Romania der Frühen Neuzeit. Poetik – Hermeneutik – Prognostik. Frankfurt/M.: Klostermann 2020, 271–289.
 
* Münchberg, Katharina/Strohmaier, Paul: Frühneuzeitliche Traumwelten. Zur Einführung. In: Dies. (Hg.): Träume in der Romania der Frühen Neuzeit. Poetik – Hermeneutik – Prognostik. Frankfurt/M.: Klostermann 2020, 271–289.
 
* Neumeister, Sebastian: Pampineas Botschaft. Geselligkeit im Zeichen der Pandemie. In: Angela Oster/Jan-Henrik Witthaus (Hg.): Pandemie und Literatur. Wien, Berlin: mandelbaum 2021, 13–23.  
 
* Neumeister, Sebastian: Pampineas Botschaft. Geselligkeit im Zeichen der Pandemie. In: Angela Oster/Jan-Henrik Witthaus (Hg.): Pandemie und Literatur. Wien, Berlin: mandelbaum 2021, 13–23.  
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