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Als sechster Band der ''Geschichte der Empfindlichkeit'', ist ''Der Platz der Gehenkten'' (1989) das letzte Buch, das Hubert Fichte kurz vor seinem Tod im März 1986 druckfertig abgeschlossen hat. In ihm ist der Ich-Erzähler Jäcki das erste Mal seit längerer Zeit ohne seine Begleiterin Irma unterwegs. Während Jäcki nach Marrakesch reist, will Irma mit dem Flugzeug der Linie Royal Air Maroc von Agadir nach Paris und von da aus nach Hamburg weiterreisen. Als Jäcki in Marrakesch in der Zeitung davon liest, dass ebendieses Flugzeug abgestürzt ist, befürchtet er, dass auch Irma dabei ums Leben gekommen ist. Die daraus entstehenden Träume und Albträume durchziehen dabei den gesamten Roman und thematisieren dabei die Erinnerung, das Schreiben und eine Auseinandersetzung mit der soziopolitischen Situation des Romans.
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Als sechster Band der ''Geschichte der Empfindlichkeit'' ist ''Der Platz der Gehenkten'' (1989) das letzte Buch, das Hubert Fichte (1935-1986) kurz vor seinem Tod im März 1986 druckfertig abgeschlossen hat. In ihm ist der Ich-Erzähler Jäcki das erste Mal seit längerer Zeit ohne seine Begleiterin Irma unterwegs. Während Jäcki nach Marrakesch fährt, will Irma mit einem Flugzeug der Linie Royal Air Maroc von Agadir nach Paris und von da aus nach Hamburg reisen. Als Jäcki in Marrakesch in der Zeitung davon liest, dass ebendieses Flugzeug abgestürzt ist, befürchtet er, dass auch Irma dabei ums Leben gekommen sei. Die daraus entstehenden Träume und Albträume durchziehen den gesamten Roman und thematisieren die Erinnerung, das Schreiben und die soziopolitische Situation des Romans.
    
==Informationen zu Autor und Werk==
 
==Informationen zu Autor und Werk==
Hubert Fichte wurde am 21. März 1935 in Perleberg geboren. Seinen Vater, der als Jude nach Schweden emigrierte, um vor den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten sicher zu sein, lernt er nicht kennen. Von seiner Mutter Dora mit Hilfe ihrer Großeltern in Lokstedt großgezogen, verbringt Fichte als Kind ein Jahr (1942-1943) Im Waisenhaus der Stadt Schrobenhausen. Bereits in jungen Jahren ist Fichte als Kinderdarsteller aktiv. 1949 lernt der damals vierzehnjährige Fichte den Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn kennen. Ein Jahr danach trifft Fichte auf Leonore Mau. Nach einer Landwirtschaftslehre in Holstein verbringt Fichte ein Jahr in einem Heim für schwererziehbare Kinder in Järna. Schweden. Durch einen Aufenthalt in Frankreich, lernt Fichte den Maler Serge Fioro kennen, mit dem er einige Zeit zusammenlebt. Ab 1962 arbeitet Fichte als freier Schriftsteller und zieht 1963 mit Leonore Mau in eine Wohngemeinschaft nach Othmarschen. Im Jahr 1968 erscheint Fichtes Roman ''Die Palette''. In den folgenden Jahren reisen Fichte und Mau zum Studium der afrobrasilianischen Religionen nach Bahia des Todos os Santos und nach Haiti, um den Vadou zu studieren. Die kommenden Jahrzehnte sind von weiteren ethnologischen Forschungsreisen bestimmt, die Fichte zum Material für seine Bücher werden. Als unheimlich produktiver Autor war Fichte nicht nur der Verfasser von Büchern und Artikeln für Zeitschriften und Zeitungen tätig. Auch als Radioautor in Kooperation mit Peter Michael Ladiges zeichnet er sich für die Texte einer Vielzahl von Hörspielen und Features verantwortlich.
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Hubert Fichte wurde am 21. März 1935 in Perleberg geboren. Seinen Vater, der als Jude nach Schweden emigrierte, um vor den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten sicher zu sein, lernt er nie kennen. Von seiner Mutter Dora mit Hilfe ihrer Großeltern in Lokstedt großgezogen, verbringt Fichte als Kind ein Jahr (1942/43) im Waisenhaus der Stadt Schrobenhausen. Bereits in seiner Jugend ist Fichte als Kinderdarsteller aktiv. 1949 lernt der damals vierzehnjährige den Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn (1894-1959) kennen. Ein Jahr danach trifft er die Fotografin Leonore Mau (1916-2013). Nach einer Landwirtschaftslehre in Holstein verbringt Fichte ein Jahr in einem Heim für schwererziehbare Kinder in Järna, Schweden. Durch einen Aufenthalt in Frankreich, lernt er den Maler Serge Fioro kennen, mit dem er einige Zeit zusammenlebt. Ab 1962 arbeitet er als freier Schriftsteller und zieht 1963 mit Leonore Mau in eine Wohngemeinschaft nach Othmarschen. Im Jahr 1968 erscheint Fichtes Roman ''Die Palette''. In den folgenden Jahren reisen Fichte und Mau zum Studium der afrobrasilianischen Religionen nach Bahia des Todos os Santos und nach Haiti, um den Vadou zu studieren. Die kommenden Jahrzehnte sind von weiteren ethnologischen Forschungsreisen bestimmt, die Fichte zum Material für seine Bücher werden. Als unheimlich produktiver Autor war er nicht nur als Verfasser von Büchern und Artikeln für Zeitschriften und Zeitungen tätig; er zeichnet auch als Radioautor (in Kooperation mit Peter Michael Ladiges) für die Texte einer Vielzahl von Hörspielen und Features verantwortlich.
Hubert Fichte starb am 8. März 1986 an den Folgen einer AIDS-Erkrankung im Alter von 51 Jahren im Hafenkrankenhaus in Hamburg.
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Hubert Fichte starb am 8. März 1986 im Alter von 51 Jahren im Hafenkrankenhaus in Hamburg an den Folgen einer AIDS-Erkrankung.
    
==Zur Form des Romans==
 
==Zur Form des Romans==
Das formale Programm des ''Platz der Gehenkten'' wird von Fichte zu Anfang des Romans transparent gemacht und stellt sich folgendermaßen dar:
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Das formale Programm des ''Platz der Gehenkten'' wird von Fichte zu Anfang des Romans transparent gemacht:
    
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
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: Dr. Bahlmann sagte, die Wiederholung sei das poetische Prinzip
 
: Dr. Bahlmann sagte, die Wiederholung sei das poetische Prinzip
 
: der Bibel.
 
: der Bibel.
: Schade, daß er es nicht weiter ausführte  
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: Schade, daß er es nicht weiter ausführte (PG 13).
: (Fichte 1989b, 13).
   
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Der Roman ist in seinem formalen Aufbau somit eine Gegenthese zum "Gesetz der schrumpfenden Glieder" des Korans. Dass sich dieses Anschreiben gegen den Koran auch auf inhaltlicher Ebene wiederfinden lässt, soll nicht Teil dieses Artikels sein, lässt sich aber im gesamten Text belegen.<ref>Nicht nur übersetzt Jäcki den Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe ins Deutsche und montiert einige der übersetzten Suren in den Romantext. Der Koran als Symbol für den aufkommenden religiösen Konservatismus Marokkos macht das Anschreiben gegen den Koran damit auch zu einem Anschreiben und Protest gegen die soziopolitischen Veränderungen Marokkos; vgl. zu den Koran-Übersetzungen: Fichte 1989b, 14, 46, 207 und zum Koran als Symbol für soziopolitische Veränderungen: Fichte 1989b, 66, 217-218. Mit den im Romantext verstreuten Koranübersetzungen setzt sich Böhme 1992 intensiver auseinander. </ref>
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Der Roman ist in seinem formalen Aufbau somit eine Gegenthese zum "Gesetz der schrumpfenden Glieder" des Korans. Dass sich dieses Anschreiben gegen den Koran auch auf inhaltlicher Ebene wiederfinden lässt, soll nicht Teil dieses Artikels sein, lässt sich aber im gesamten Text belegen.<ref>Nicht nur übersetzt Jäcki den Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe ins Deutsche und montiert einige der übersetzten Suren in den Romantext. Der Koran als Symbol für den aufkommenden religiösen Konservatismus Marokkos macht das Anschreiben gegen den Koran damit auch zu einem Anschreiben und Protest gegen die soziopolitischen Veränderungen Marokkos; vgl. zu den Koran-Übersetzungen GP 14, 46, 207, zum Koran als Symbol für soziopolitische Veränderungen GP 66, 217 f. Mit den im Romantext verstreuten Koranübersetzungen setzt sich Hartmut Böhme intensiver auseinander (Böhme 1992). </ref>
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Für Teichert kann ''Der Platz der Gehenkten'' stattdessen als "Höhepunkt jener kompositorischer Prinzipien" (Teichert 1987, 277) gesehen werden, die Fichte in früheren Werken bereits entwickelt und ausprobiert hat. Dass es sich bei diesen Formprinzipien um musikalische und kompositorische Prinzipien handeln könnte, legt Teichert in seinen weiteren Ausführungen zwar nahe, führt aber nicht weiter aus, was er damit meint. Dass ''Der Platz der Gehenkten'' eine ganz eindeutige Form aufweist, ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Die Form des Romans orientiert sich jedoch weniger an den von Teichert nur vage angedeuteten kompositorischen Prinzipien, sondern stärker an der Suren-Struktur des Korans, als dessen formale Antithese sich der Roman versteht.
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Für Teichert kann ''Der Platz der Gehenkten'' als "Höhepunkt jener kompositorischer Prinzipien" (Teichert 1987, 277) gesehen werden, die Fichte in früheren Werken bereits entwickelt und erprobt hat. Dass es sich dabei um musikalische und kompositorische Prinzipien handeln könnte, legt Teichert in seinen weiteren Ausführungen zwar nahe, führt es aber nicht weiter aus. Der ''Der Platz der Gehenkten'' weist zwar eine ganz eindeutige Form auf, orientiert sich jedoch weniger an den von Teichert nur vage angedeuteten kompositorischen Prinzipien, sondern stärker an der Suren-Struktur des Korans, als dessen formale Antithese sich der Roman versteht.
    
Dieser Lesart entspricht auch die Anmerkung der Herausgeberin des Romans Gisela Lindemann, wenn sie schreibt, dass der Roman "mit deren zentraler literarischer Manifestation: dem Koran" (Lindemann, in: Fichte 1989b, 21) korrespondiere. Die Übersetzung des Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe wird dabei zum Anlass der narrativen Instanz genommen, nicht nur über das Verhältnis der Bibel und des Korans nachzudenken, sondern auch die formale Struktur des Korans in den Fokus zu rücken. Aus der Einsicht, dass die Texte, aus denen der Koran besteht, von Sure zu Sure kürzer werden, stellt Fichte das Strukturprinzip seines eigenen Romans entgegen, der ebenso aus Texten besteht, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen: "Ich möchte das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13). Verknüpft mit der Frage nach Kürze oder Länge sowohl der Suren als auch der Texte des eigenen Romans steht Fichte aber vor der Frage, wie sich diese Kürze und Länge metrisch bestimmen lasse. Mit einem Verweis auf einem Dr. Bahlmann, erwähnt er zudem, dass "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) sei. Ein Blick in den Roman zeigt, dass dieses hier nur angerissene poetische Prinzip der Wiederholung im Rahmen eines Fünfzeilers einer Traumdarstellung als strukturierendes Element auftaucht. Es wird später mehr dazu zu sagen sein.
 
Dieser Lesart entspricht auch die Anmerkung der Herausgeberin des Romans Gisela Lindemann, wenn sie schreibt, dass der Roman "mit deren zentraler literarischer Manifestation: dem Koran" (Lindemann, in: Fichte 1989b, 21) korrespondiere. Die Übersetzung des Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe wird dabei zum Anlass der narrativen Instanz genommen, nicht nur über das Verhältnis der Bibel und des Korans nachzudenken, sondern auch die formale Struktur des Korans in den Fokus zu rücken. Aus der Einsicht, dass die Texte, aus denen der Koran besteht, von Sure zu Sure kürzer werden, stellt Fichte das Strukturprinzip seines eigenen Romans entgegen, der ebenso aus Texten besteht, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen: "Ich möchte das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13). Verknüpft mit der Frage nach Kürze oder Länge sowohl der Suren als auch der Texte des eigenen Romans steht Fichte aber vor der Frage, wie sich diese Kürze und Länge metrisch bestimmen lasse. Mit einem Verweis auf einem Dr. Bahlmann, erwähnt er zudem, dass "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) sei. Ein Blick in den Roman zeigt, dass dieses hier nur angerissene poetische Prinzip der Wiederholung im Rahmen eines Fünfzeilers einer Traumdarstellung als strukturierendes Element auftaucht. Es wird später mehr dazu zu sagen sein.
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: Niemand wird all die Verweisungen, die Fäden, das Geflecht, die Netze der Pfeile und Adern, der Anspielungen in Fichtes Gesamtwerk jemals beschreiben können (ich verwende hier vorsätzlich den Begriff von Fichtes Dementi der ›Verwendbarkeit‹ des Schreiens der Fischer in Cezimbra). Wie geht man also dann interpretierend mit diesen Texten um? (Weinberg, in: Amann 2021, 137)
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: Niemand wird all die Verweisungen, die Fäden, das Geflecht, die Netze der Pfeile und Adern, der Anspielungen in Fichtes Gesamtwerk jemals beschreiben können (ich verwende hier vorsätzlich den Begriff von Fichtes Dementi der ›Verwendbarkeit‹ des Schreiens der Fischer in Cezimbra). Wie geht man also dann interpretierend mit diesen Texten um? (Weinberg 2021, 137)
 
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Die hier verwendete Sekundärliteratur beschäftigt sich daher nicht ausschließlich mit dem *Platz der Gehenkten*, sondern bespricht den Text immer im Kontext des gesamten Werks Hubert Fichtes.
 
Die hier verwendete Sekundärliteratur beschäftigt sich daher nicht ausschließlich mit dem *Platz der Gehenkten*, sondern bespricht den Text immer im Kontext des gesamten Werks Hubert Fichtes.
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So beschäftigt sich das neunte Kapitel der Dissertation Torsten Teicherts (1987) zwar mit Der Platz der Gehenkten. Da die Dissertation jedoch zwei Jahre vor der Veröffentlichung des Romans erschienen ist, basiert seine Analyse nicht auf der Druckausgabe, die als Grundlage für diesen Artikel herangezogen wird, sondern auf dem Typoskript des Romans, das er als Freund Hubert Fichtes bereits vor der Veröffentlichung einsehen konnte. Das stellt vor einige Probleme: einerseits kann Teichert zwar aus dem Text zitieren, tut dies aber der Sache geschuldet ohne Quellen- und Seitenangaben. Gibt sich sein Text mitunter thetisch ohne angeschnittene Gedankengänge weiter zu verfolgen, so ist sich Teichert dennoch sicher, dass das Wagnis über einen noch nicht veröffentlichten Text zu reden "vielleicht schon allein deshalb zum jetzigen Zeitpunkt legitim [ist], weil eine jede Interpretation auch Lust machen sollte aufs Lesen des Besprochenen. (Teichert 1987, 276)."
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So beschäftigt sich das neunte Kapitel der Dissertation Torsten Teicherts (1987) zwar mit ''Der Platz der Gehenkten''. Da die Dissertation jedoch zwei Jahre vor der Veröffentlichung des Romans erschienen ist, basiert seine Analyse nicht auf der Druckausgabe, die als Grundlage für diesen Artikel herangezogen wird, sondern auf dem Typoskript des Romans, das er als Freund Hubert Fichtes bereits vor der Veröffentlichung einsehen konnte. Das stellt vor einige Probleme: einerseits kann Teichert zwar aus dem Text zitieren, tut dies aber der Sache geschuldet ohne Quellen- und Seitenangaben. Gibt sich sein Text mitunter thetisch ohne angeschnittene Gedankengänge weiter zu verfolgen, so ist sich Teichert dennoch sicher, dass das Wagnis über einen noch nicht veröffentlichten Text zu reden "vielleicht schon allein deshalb zum jetzigen Zeitpunkt legitim [ist], weil eine jede Interpretation auch Lust machen sollte aufs Lesen des Besprochenen" (Teichert 1987, 276).
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Teicherts Interpretation versteht Fichtes ethnopoetisches Schreiben jedoch analog zur Form des Haiku und damit nicht als sinnvolle Beschreibung eines Sachverhalts, sondern als dezidiert anti-deskriptive Momentaufnahme. Teicherts Haiku-Verständnis basiert dabei jedoch auf Barthes Interpretation, die ihrerseits nicht unproblematisch ist. <ref> Wenngleich interessant, kann hier en detail nicht darauf eingegangen werden. Zu einer historischen Analyse der Textform Haiku und wie diese mit dem haikai verknüpft ist, vgl. Shirane 1998, der ausgehend von Bashō für die Sinnhaftigkeit und den hohen Formcharakter des Haiku argumentiert.</ref>
 
Teicherts Interpretation versteht Fichtes ethnopoetisches Schreiben jedoch analog zur Form des Haiku und damit nicht als sinnvolle Beschreibung eines Sachverhalts, sondern als dezidiert anti-deskriptive Momentaufnahme. Teicherts Haiku-Verständnis basiert dabei jedoch auf Barthes Interpretation, die ihrerseits nicht unproblematisch ist. <ref> Wenngleich interessant, kann hier en detail nicht darauf eingegangen werden. Zu einer historischen Analyse der Textform Haiku und wie diese mit dem haikai verknüpft ist, vgl. Shirane 1998, der ausgehend von Bashō für die Sinnhaftigkeit und den hohen Formcharakter des Haiku argumentiert.</ref>
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=== Markierte Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' ===
 
=== Markierte Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' ===
   
Der Roman beginnt mit einer mehrseitigen komplexen Traumdarstellung, die sich erst nachträglich als markierte Traumdarstellung klassifizieren lässt. Der Ich-Erzähler vermischt dabei Tagesreste mit seinen Ängsten, Wünschen und den Erinnerungen an andere vor einigen Tagen geträumte Träume. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, lässt sich die Traumdarstellung in drei thematische Teile gliedern, die für sich unterschiedliche Aspekte des im Traum verhandelten herausarbeiten lassen: (a) ein erster Teil thematisiert die Reisevorbereitungen nach Marakech, auf den mit (b) der Traum einer Passkontrolle am Flughafen folgt. Der dritte Teil (c) ist ein Intertext auf frühere Romane Fichtes, der die werkübergreifende Spezifik des Traums als Teil der Fichte'schen Poetologie in den Fokus rückt.
 
Der Roman beginnt mit einer mehrseitigen komplexen Traumdarstellung, die sich erst nachträglich als markierte Traumdarstellung klassifizieren lässt. Der Ich-Erzähler vermischt dabei Tagesreste mit seinen Ängsten, Wünschen und den Erinnerungen an andere vor einigen Tagen geträumte Träume. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, lässt sich die Traumdarstellung in drei thematische Teile gliedern, die für sich unterschiedliche Aspekte des im Traum verhandelten herausarbeiten lassen: (a) ein erster Teil thematisiert die Reisevorbereitungen nach Marakech, auf den mit (b) der Traum einer Passkontrolle am Flughafen folgt. Der dritte Teil (c) ist ein Intertext auf frühere Romane Fichtes, der die werkübergreifende Spezifik des Traums als Teil der Fichte'schen Poetologie in den Fokus rückt.
 
Die zweite markierte Traumdarstellung, die hier betrachtet werden soll, nimmt einen fünfzeiligen Text in den Fokus, der an mehreren Stellen im Romantext auftaucht und diesen durch die ritualhafte Wiederholung strukturiert. Versteht man den Roman in seiner Form und auch inhaltlich als Gegenbewegung zum Koran, lässt sich der fünfzeilige Text als Gegen-Ritual verstehen, das in sich die Gefahr birgt, das zu reproduzieren, gegen das es anschreibt.
 
Die zweite markierte Traumdarstellung, die hier betrachtet werden soll, nimmt einen fünfzeiligen Text in den Fokus, der an mehreren Stellen im Romantext auftaucht und diesen durch die ritualhafte Wiederholung strukturiert. Versteht man den Roman in seiner Form und auch inhaltlich als Gegenbewegung zum Koran, lässt sich der fünfzeilige Text als Gegen-Ritual verstehen, das in sich die Gefahr birgt, das zu reproduzieren, gegen das es anschreibt.
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Der Roman ‚‘‘Der Platz der Gehenkten‘‘ beginnt mit den Reisevorbereitungen Jäckis und Irmas. Während Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist Jäcki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen.  
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Der Roman ''Der Platz der Gehenkten'' beginnt mit den Reisevorbereitungen Jäckis und Irmas. Während Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist Jäcki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen.  
    
Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten Sätze des Romans *Der Platz der Gehenkten* sich auf den ersten Blick wie eine für Fichte typische "Wirklichkeits-Schreibung" (Weinberg 1993, 126) lesen. Eine genauere Betrachtung des dritten Satzes "Ich hatte Irma zum Schlafwagen gebracht und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach Fez" (Fichte 1989b, 9). führt jedoch eine Inkongruenz in das Geschehen ein. Weinberg macht diese Inkongruenz daran fest, dass einerseits die Reisevorbereitungen mit anderen Zielen wiederholt werden und andererseits, dass die narrative Instanz Irma zum Schlafwagen des Busses bringt, obwohl "Busse dergleichen gewöhnlich nicht besitzen" (Weinberg 1993, 126).  
 
Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten Sätze des Romans *Der Platz der Gehenkten* sich auf den ersten Blick wie eine für Fichte typische "Wirklichkeits-Schreibung" (Weinberg 1993, 126) lesen. Eine genauere Betrachtung des dritten Satzes "Ich hatte Irma zum Schlafwagen gebracht und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach Fez" (Fichte 1989b, 9). führt jedoch eine Inkongruenz in das Geschehen ein. Weinberg macht diese Inkongruenz daran fest, dass einerseits die Reisevorbereitungen mit anderen Zielen wiederholt werden und andererseits, dass die narrative Instanz Irma zum Schlafwagen des Busses bringt, obwohl "Busse dergleichen gewöhnlich nicht besitzen" (Weinberg 1993, 126).  
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Eine genauere Betrachtung der zitierten Textstelle zeigt, dass sich hier im Rahmen der Erzählung des Traumgeschehens zwei Träume ineinanderschieben. So wird das Traumgeschehen der Passkontrolle am Flughafen mit einem anderen Traum, in dem das träumende Ich mit Uwe in einer Pension war, im Modus der Erinnerung verknüpft. In diesem anderen Traum in der Pension vertauscht ein Rezeptionist die Pässe Uwes und des Erzählers; ein Umstand, der sich nun auf den Traum der Passkontrolle im Flughafen auswirkt. Einer onirischen Logik, die formale und inhaltliche Brüche im Handlungsgeschehen zulässt und mit der man Ungereimtheiten – wie den vertauschten Pass – mit Rekurs auf eine allgemeine Traumlogik erklären könnte, wird im Traum eine rationalistische Erklärung entgegengehalten, die den Umstand mit Rekurs auf das Geschehen eines anderen Traums zu erklären versucht.
 
Eine genauere Betrachtung der zitierten Textstelle zeigt, dass sich hier im Rahmen der Erzählung des Traumgeschehens zwei Träume ineinanderschieben. So wird das Traumgeschehen der Passkontrolle am Flughafen mit einem anderen Traum, in dem das träumende Ich mit Uwe in einer Pension war, im Modus der Erinnerung verknüpft. In diesem anderen Traum in der Pension vertauscht ein Rezeptionist die Pässe Uwes und des Erzählers; ein Umstand, der sich nun auf den Traum der Passkontrolle im Flughafen auswirkt. Einer onirischen Logik, die formale und inhaltliche Brüche im Handlungsgeschehen zulässt und mit der man Ungereimtheiten – wie den vertauschten Pass – mit Rekurs auf eine allgemeine Traumlogik erklären könnte, wird im Traum eine rationalistische Erklärung entgegengehalten, die den Umstand mit Rekurs auf das Geschehen eines anderen Traums zu erklären versucht.
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Teicherts Interpretation, dass sich im Traumgeschehen eine "[v]öllige Identitätsverwirrung" in deren Rahmen die "Identität des Ichs infrage gestellt" wird, von der oben schon die Rede war, muss daher widersprochen werden. So argumentiert Teichert weiterhin dafür, dass der Schreibvorgang des Romans allgemein als Erinnerungsvorgang verstanden werden kann, der in sich das Risiko birgt "sich doppelt zu sehen als der, der schreibt, und der, der aus der Vergangenheit mit den Wörtern hochgeholt wird" (Teichert 1987, 306). Dieser Rückgriff auf Vergangenes als Reservoir für das Erzählen (den man durchaus als allgemeine Spezifik des Erzählens verstehen kann, vgl. Weber 1998, 24: "Erzählen gilt immer Nichtaktuellem.") offenbart für Teichert jedoch ein "doppeltes Wagnis" (Teichert 1987, 306), da das gegenwärtig schreibende Ich dadurch "von der Identität aus alter Erinnerung und von der Wirklichkeit, die mit dem Gedächtnis zur Sprache gebracht werden soll" (Teichert 1987, 306) attackiert wird. Der Schreibvorgang als Erinnerungsvorgang ist damit nicht nur ein Prozess, der das Ich wie bei Wordsworth in ein erinnerndes Ich und ein erinnertes Ich spaltet. Es ist gleichzeitig auch ein gewaltsamer Aufspaltungs- und Verdopplungsvorgang, der Gefahr läuft, das Auseinanderfallen des Verfasser-Subjekts zu riskieren (vgl. Teichert 1987, 306).
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Teicherts Interpretation, dass sich im Traumgeschehen eine "völlige Identitätsverwirrung" in deren Rahmen die "Identität des Ichs infrage gestellt" wird, von der oben schon die Rede war, muss daher widersprochen werden. So argumentiert Teichert weiterhin dafür, dass der Schreibvorgang des Romans allgemein als Erinnerungsvorgang verstanden werden kann, der in sich das Risiko birgt "sich doppelt zu sehen als der, der schreibt, und der, der aus der Vergangenheit mit den Wörtern hochgeholt wird" (Teichert 1987, 306). Dieser Rückgriff auf Vergangenes als Reservoir für das Erzählen (den man durchaus als allgemeine Spezifik des Erzählens verstehen kann, vgl. Weber 1998, 24: "Erzählen gilt immer Nichtaktuellem.") offenbart für Teichert jedoch ein "doppeltes Wagnis" (Teichert 1987, 306), da das gegenwärtig schreibende Ich dadurch "von der Identität aus alter Erinnerung und von der Wirklichkeit, die mit dem Gedächtnis zur Sprache gebracht werden soll" (Teichert 1987, 306) attackiert wird. Der Schreibvorgang als Erinnerungsvorgang ist damit nicht nur ein Prozess, der das Ich wie bei Wordsworth in ein erinnerndes Ich und ein erinnertes Ich spaltet. Es ist gleichzeitig auch ein gewaltsamer Aufspaltungs- und Verdopplungsvorgang, der Gefahr läuft, das Auseinanderfallen des Verfasser-Subjekts zu riskieren (vgl. Teichert 1987, 306).
    
Erinnerung versteht Wordsworth in seinem Text *Poem Titel not yet fixed upon by William Wordsworth Addressed to S.T. Coleridge*, das in der Forschung unter dem eingängigeren, aber posthumen Titel *Prelude* bekannt ist, als reflexiven Vorgang, d.h. als eine temporalisierte Selbstbeobachtung oder Selbstspaltung und Selbstverdoppelung. Das Ich spaltet sich in und doppelt sich als erinnerndes Ich und erinnertes Ich, die durch die zeitliche Differenz qualitativ voneinander getrennt sind. Der Erinnerungsvorgang ist damit auch immer eine Vergegenwärtigung des Abstands zum Vergangenen und äußert sich als damit als grundlegende Alteritätserfahrung. Diese wird als "Wunde der Zeit" (Assmann 2018, 101) wahrgenommen, die darauf verweist, dass das tatsächliche Erfahrungsdatum in seiner erinnerten Form nur ein schwacher Abglanz der tatsächlichen Erfahrung ist (vgl. Assmann 2018, 102).
 
Erinnerung versteht Wordsworth in seinem Text *Poem Titel not yet fixed upon by William Wordsworth Addressed to S.T. Coleridge*, das in der Forschung unter dem eingängigeren, aber posthumen Titel *Prelude* bekannt ist, als reflexiven Vorgang, d.h. als eine temporalisierte Selbstbeobachtung oder Selbstspaltung und Selbstverdoppelung. Das Ich spaltet sich in und doppelt sich als erinnerndes Ich und erinnertes Ich, die durch die zeitliche Differenz qualitativ voneinander getrennt sind. Der Erinnerungsvorgang ist damit auch immer eine Vergegenwärtigung des Abstands zum Vergangenen und äußert sich als damit als grundlegende Alteritätserfahrung. Diese wird als "Wunde der Zeit" (Assmann 2018, 101) wahrgenommen, die darauf verweist, dass das tatsächliche Erfahrungsdatum in seiner erinnerten Form nur ein schwacher Abglanz der tatsächlichen Erfahrung ist (vgl. Assmann 2018, 102).
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Damit wird die in den ersten beiden markierten Traumdarstellungen klare Abgrenzbarkeit von Traum und Wachwirklichkeit, zugunsten einer Verwischung der Grenze nivelliert.
 
Damit wird die in den ersten beiden markierten Traumdarstellungen klare Abgrenzbarkeit von Traum und Wachwirklichkeit, zugunsten einer Verwischung der Grenze nivelliert.
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== Fazit==
 
== Fazit==
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* Weinberg, Manfred: Akut, Geschichte, Struktur. Hubert Fichtes Suche nach der verlorenen Sprache einer poetischen Welterfahrung. Bielefeld: Aisthesis 1993.
 
* Weinberg, Manfred: Akut, Geschichte, Struktur. Hubert Fichtes Suche nach der verlorenen Sprache einer poetischen Welterfahrung. Bielefeld: Aisthesis 1993.
 
* Weinberg, Manfred: „Fäden, viele Fäden“. Ungewisse Vermischungen in dem Roman ''Eine Glückliche Liebe'' von Hubert Fichte. In: Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 12 (2021), 133–48; https://doi.org/10.14361/zig-2021-120111.
 
* Weinberg, Manfred: „Fäden, viele Fäden“. Ungewisse Vermischungen in dem Roman ''Eine Glückliche Liebe'' von Hubert Fichte. In: Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 12 (2021), 133–48; https://doi.org/10.14361/zig-2021-120111.
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Zitiervorschlag für diesen Artikel:
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Kerber, Alexander: "Der Platz des Gehenkten" (Hubert Fichte). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Der_Platz_der_Gehenkten%22_(Hubert_Fichte)&action=edit.
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== Anmerkungen ==
 
== Anmerkungen ==
 
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[[Kategorie:20._Jahrhundert]]
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[[Kategorie:Nachkriegszeit]]
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[[Kategorie:Literatur]]
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[[Kategorie:Roman]]
 
[[Kategorie:Roman]]
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[[Kategorie:Deutschland]]
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[[Kategorie:Deutschsprachig]]
 
[[Kategorie:Deutschsprachig]]

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