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Als sechster Band der ''Geschichte der Empfindlichkeit'', ist ''Der Platz der Gehenkten'' (1989) das letzte Buch, das Hubert Fichte kurz vor seinem Tod im März 1986 druckfertig abgeschlossen hat. In ihm ist der Ich-Erzähler Jäcki das erste Mal seit längerer Zeit ohne seine Begleiterin Irma unterwegs. Während Jäcki nach Marrakesch reist, will Irma mit dem Flugzeug der Linie Royal Air Maroc von Agadir nach Paris und von da aus nach Hamburg weiterreisen. Als Jäcki in Marrakesch in der Zeitung davon liest, dass ebendieses Flugzeug abgestürzt ist, befürchtet er, dass auch Irma dabei ums Leben gekommen ist. Die daraus entstehenden Träume und Albträume durchziehen dabei den gesamten Roman und thematisieren dabei die Erinnerung, das Schreiben und eine Auseinandersetzung mit der soziopolitischen Situation des Romans.
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Als sechster Band der ''Geschichte der Empfindlichkeit'' ist ''Der Platz der Gehenkten'' (1989) das letzte Buch, das Hubert Fichte (1935-1986) kurz vor seinem Tod im März 1986 druckfertig abgeschlossen hat. In ihm ist der Ich-Erzähler Jäcki das erste Mal seit längerer Zeit ohne seine Begleiterin Irma unterwegs. Während Jäcki nach Marrakesch fährt, will Irma mit einem Flugzeug der Linie Royal Air Maroc von Agadir nach Paris und von da aus nach Hamburg reisen. Als Jäcki in Marrakesch in der Zeitung davon liest, dass ebendieses Flugzeug abgestürzt ist, befürchtet er, dass auch Irma dabei ums Leben gekommen sei. Die daraus entstehenden Träume und Albträume durchziehen den gesamten Roman und thematisieren die Erinnerung, das Schreiben und die soziopolitische Situation.
    
==Informationen zu Autor und Werk==
 
==Informationen zu Autor und Werk==
Hubert Fichte wurde am 21. März 1935 in Perleberg geboren. Seinen Vater, der als Jude nach Schweden emigrierte, um vor den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten sicher zu sein, lernt er nicht kennen. Von seiner Mutter Dora mit Hilfe ihrer Großeltern in Lokstedt großgezogen, verbringt Fichte als Kind ein Jahr (1942-1943) Im Waisenhaus der Stadt Schrobenhausen. Bereits in jungen Jahren ist Fichte als Kinderdarsteller aktiv. 1949 lernt der damals vierzehnjährige Fichte den Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn kennen. Ein Jahr danach trifft Fichte auf Leonore Mau. Nach einer Landwirtschaftslehre in Holstein verbringt Fichte ein Jahr in einem Heim für schwererziehbare Kinder in Järna. Schweden. Durch einen Aufenthalt in Frankreich, lernt Fichte den Maler Serge Fioro kennen, mit dem er einige Zeit zusammenlebt. Ab 1962 arbeitet Fichte als freier Schriftsteller und zieht 1963 mit Leonore Mau in eine Wohngemeinschaft nach Othmarschen. Im Jahr 1968 erscheint Fichtes Roman ''Die Palette''. In den folgenden Jahren reisen Fichte und Mau zum Studium der afrobrasilianischen Religionen nach Bahia des Todos os Santos und nach Haiti, um den Vadou zu studieren. Die kommenden Jahrzehnte sind von weiteren ethnologischen Forschungsreisen bestimmt, die Fichte zum Material für seine Bücher werden. Als unheimlich produktiver Autor war Fichte nicht nur der Verfasser von Büchern und Artikeln für Zeitschriften und Zeitungen tätig. Auch als Radioautor in Kooperation mit Peter Michael Ladiges zeichnet er sich für die Texte einer Vielzahl von Hörspielen und Features verantwortlich.
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Hubert Fichte wurde am 21. März 1935 in Perleberg geboren. Seinen Vater, der als Jude nach Schweden emigrierte, um vor den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten sicher zu sein, lernt er nie kennen. Von seiner Mutter Dora mit Hilfe ihrer Großeltern in Lokstedt großgezogen, verbringt Fichte als Kind ein Jahr (1942/43) im Waisenhaus der Stadt Schrobenhausen. Bereits in seiner Jugend ist Fichte als Kinderdarsteller aktiv. 1949 lernt der damals vierzehnjährige den Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn (1894-1959) kennen. Ein Jahr danach trifft er die Fotografin Leonore Mau (1916-2013). Nach einer Landwirtschaftslehre in Holstein verbringt Fichte ein Jahr in einem Heim für schwererziehbare Kinder in Järna, Schweden. Durch einen Aufenthalt in Frankreich, lernt er den Maler Serge Fioro kennen, mit dem er einige Zeit zusammenlebt. Ab 1962 arbeitet er als freier Schriftsteller und zieht 1963 mit Leonore Mau in eine Wohngemeinschaft nach Othmarschen. Im Jahr 1968 erscheint Fichtes Roman ''Die Palette''. In den folgenden Jahren reisen Fichte und Mau zum Studium der afrobrasilianischen Religionen nach Bahia des Todos os Santos und nach Haiti, um den Vadou zu studieren. Die kommenden Jahrzehnte sind von weiteren ethnologischen Forschungsreisen bestimmt, die Fichte zum Material für seine Bücher werden. Als unheimlich produktiver Autor war er nicht nur als Verfasser von Büchern und Artikeln für Zeitschriften und Zeitungen tätig; er zeichnet auch als Radioautor (in Kooperation mit Peter Michael Ladiges) für die Texte einer Vielzahl von Hörspielen und Features verantwortlich.
Hubert Fichte starb am 8. März 1986 an den Folgen einer AIDS-Erkrankung im Alter von 51 Jahren im Hafenkrankenhaus in Hamburg.
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Hubert Fichte starb am 8. März 1986 im Alter von 51 Jahren im Hafenkrankenhaus in Hamburg an den Folgen einer AIDS-Erkrankung.
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==Zur Form des Romans==
 
==Zur Form des Romans==
Das formale Programm des ''Platz der Gehenkten'' wird von Fichte zu Anfang des Romans transparent gemacht und stellt sich folgendermaßen dar:
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Das formale Programm des ''Platz der Gehenkten'' wird von Fichte zu Anfang des Romans transparent gemacht:
    
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
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: Dr. Bahlmann sagte, die Wiederholung sei das poetische Prinzip
 
: Dr. Bahlmann sagte, die Wiederholung sei das poetische Prinzip
 
: der Bibel.
 
: der Bibel.
: Schade, daß er es nicht weiter ausführte  
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: Schade, daß er es nicht weiter ausführte (PG 13).
: (Fichte 1989b, 13).
   
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Der Roman ist in seinem formalen Aufbau somit eine Gegenthese zum "Gesetz der schrumpfenden Glieder" des Korans. Dass sich dieses Anschreiben gegen den Koran auch auf inhaltlicher Ebene wiederfinden lässt, soll nicht Teil dieses Artikels sein, lässt sich aber im gesamten Text belegen.<ref>Nicht nur übersetzt Jäcki den Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe ins Deutsche und montiert einige der übersetzten Suren in den Romantext. Der Koran als Symbol für den aufkommenden religiösen Konservatismus Marokkos macht das Anschreiben gegen den Koran damit auch zu einem Anschreiben und Protest gegen die soziopolitischen Veränderungen Marokkos; vgl. zu den Koran-Übersetzungen: Fichte 1989b, 14, 46, 207 und zum Koran als Symbol für soziopolitische Veränderungen: Fichte 1989b, 66, 217-218. Mit den im Romantext verstreuten Koranübersetzungen setzt sich Böhme 1992 intensiver auseinander. </ref>
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Der Roman ist in seinem formalen Aufbau somit eine Gegenthese zum "Gesetz der schrumpfenden Glieder" des Korans. Dass sich dieses Anschreiben gegen den Koran auch auf inhaltlicher Ebene wiederfinden lässt, soll nicht Teil dieses Artikels sein, lässt sich aber im gesamten Text belegen.<ref>Nicht nur übersetzt Jäcki den Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe ins Deutsche und montiert einige der übersetzten Suren in den Romantext. Der Koran als Symbol für den aufkommenden religiösen Konservatismus Marokkos macht das Anschreiben gegen den Koran damit auch zu einem Anschreiben und Protest gegen die soziopolitischen Veränderungen Marokkos; vgl. zu den Koran-Übersetzungen GP 14, 46, 207, zum Koran als Symbol für soziopolitische Veränderungen GP 66, 217 f. Mit den im Romantext verstreuten Koranübersetzungen setzt sich Hartmut Böhme intensiver auseinander (Böhme 1992). </ref>
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Für Teichert kann ''Der Platz der Gehenkten'' stattdessen als "Höhepunkt jener kompositorischer Prinzipien" (Teichert 1987, 277) gesehen werden, die Fichte in früheren Werken bereits entwickelt und ausprobiert hat. Dass es sich bei diesen Formprinzipien um musikalische und kompositorische Prinzipien handeln könnte, legt Teichert in seinen weiteren Ausführungen zwar nahe, führt aber nicht weiter aus, was er damit meint. Dass ''Der Platz der Gehenkten'' eine ganz eindeutige Form aufweist, ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Die Form des Romans orientiert sich jedoch weniger an den von Teichert nur vage angedeuteten kompositorischen Prinzipien, sondern stärker an der Suren-Struktur des Korans, als dessen formale Antithese sich der Roman versteht.
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Für Teichert kann ''Der Platz der Gehenkten'' als "Höhepunkt jener kompositorischer Prinzipien" (Teichert 1987, 277) gesehen werden, die Fichte in früheren Werken bereits entwickelt und erprobt hat. Dass es sich dabei um musikalische und kompositorische Prinzipien handeln könnte, legt Teichert in seinen weiteren Ausführungen zwar nahe, führt es aber nicht weiter aus. Der ''Der Platz der Gehenkten'' weist zwar eine ganz eindeutige Form auf, orientiert sich jedoch weniger an den von Teichert nur vage angedeuteten kompositorischen Prinzipien, sondern stärker an der Suren-Struktur des Korans, als dessen formale Antithese sich der Roman versteht.
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Dieser Lesart entspricht auch die Anmerkung der Herausgeberin des Romans Gisela Lindemann, wenn sie schreibt, dass der Roman "mit deren zentraler literarischer Manifestation: dem Koran" (Lindemann, in: Fichte 1989b, 21) korrespondiere. Die Übersetzung des Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe wird dabei zum Anlass der narrativen Instanz genommen, nicht nur über das Verhältnis der Bibel und des Korans nachzudenken, sondern auch die formale Struktur des Korans in den Fokus zu rücken. Aus der Einsicht, dass die Texte, aus denen der Koran besteht, von Sure zu Sure kürzer werden, stellt Fichte das Strukturprinzip seines eigenen Romans entgegen, der ebenso aus Texten besteht, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen: "Ich möchte das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13). Verknüpft mit der Frage nach Kürze oder Länge sowohl der Suren als auch der Texte des eigenen Romans steht Fichte aber vor der Frage, wie sich diese Kürze und Länge metrisch bestimmen lasse. Mit einem Verweis auf einem Dr. Bahlmann, erwähnt er zudem, dass "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) sei. Ein Blick in den Roman zeigt, dass dieses hier nur angerissene poetische Prinzip der Wiederholung im Rahmen eines Fünfzeilers einer Traumdarstellung als strukturierendes Element auftaucht. Es wird später mehr dazu zu sagen sein.
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Dieser Lesart entspricht auch die Anmerkung der Herausgeberin des Romans Gisela Lindemann, wenn sie schreibt, dass der Roman "mit deren zentraler literarischer Manifestation: dem Koran" (Lindemann, in: Fichte 1989b, 21) korrespondiere. Die Übersetzung des Koran aus der französischen Pléiade-Ausgabe wird dabei zum Anlass der narrativen Instanz genommen, nicht nur über das Verhältnis der Bibel und des Korans nachzudenken, sondern auch die formale Struktur des Korans in den Fokus zu rücken. Aus der Einsicht, dass die Texte, aus denen der Koran besteht, von Sure zu Sure kürzer werden, stellt Fichte das Strukturprinzip seines eigenen Romans entgegen, der ebenso aus Texten besteht, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen: "Ich möchte das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13). Verknüpft mit der Frage nach Kürze oder Länge sowohl der Suren als auch der Texte des eigenen Romans steht Fichte aber vor der Frage, wie sich diese Kürze und Länge metrisch bestimmen lasse. Mit einem Verweis auf einem Dr. Bahlmann, erwähnt er zudem, dass "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) sei. Ein Blick in den Roman zeigt, dass dieses hier nur angerissene poetische Prinzip der Wiederholung im Rahmen eines Fünfzeilers einer Traumdarstellung als strukturierendes Element auftaucht.
    
== Interpretationen des Romans ==
 
== Interpretationen des Romans ==
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: Niemand wird all die Verweisungen, die Fäden, das Geflecht, die Netze der Pfeile und Adern, der Anspielungen in Fichtes Gesamtwerk jemals beschreiben können (ich verwende hier vorsätzlich den Begriff von Fichtes Dementi der ›Verwendbarkeit‹ des Schreiens der Fischer in Cezimbra). Wie geht man also dann interpretierend mit diesen Texten um? (Weinberg, in: Amann 2021, 137)
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: Niemand wird all die Verweisungen, die Fäden, das Geflecht, die Netze der Pfeile und Adern, der Anspielungen in Fichtes Gesamtwerk jemals beschreiben können (ich verwende hier vorsätzlich den Begriff von Fichtes Dementi der ›Verwendbarkeit‹ des Schreiens der Fischer in Cezimbra). Wie geht man also dann interpretierend mit diesen Texten um? (Weinberg 2021, 137)
 
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Wenn diese These plausibel befunden wird (und das wird sie hier), wie also im Rahmen eines Wikipedia-Artikels mit dem Umstand umgehen, dass Fichtes Roman *Der Platz der Gehenkten* als Teil des roman fleuve der Geschichte der Empfindlichkeit immer schon das Verständnis und die Lektüre jedes weiteren Texts voraussetzt? Die pragmatische und hermeneutisch redliche Lösung kann dabei nur sein, transparent zu kommunizieren, inwieweit sich die Interpretation selbst beschneiden muss, um weiterhin verständlich und lesbar zu bleiben.
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Wenn diese These plausibel befunden wird (und das wird sie hier), wie also im Rahmen eines Wikipedia-Artikels mit dem Umstand umgehen, dass Fichtes Roman ''Der Platz der Gehenkten'' als Teil des roman fleuve der Geschichte der Empfindlichkeit immer schon das Verständnis und die Lektüre jedes weiteren Texts voraussetzt? Die pragmatische und hermeneutisch redliche Lösung kann dabei nur sein, transparent zu kommunizieren, inwieweit sich die Interpretation selbst beschneiden muss, um weiterhin verständlich und lesbar zu bleiben.
    
Es ist daher aber vielleicht nicht verwunderlich, dass es kaum eine Monografie zu spezifischen Werken Hubert Fichtes gibt. Vollkommen abwesend sind zudem literaturwissenschaftliche Analysen, welche die Fichte'schen Texte auf den Traum und spezifische Traumästhetiken hin befragen.
 
Es ist daher aber vielleicht nicht verwunderlich, dass es kaum eine Monografie zu spezifischen Werken Hubert Fichtes gibt. Vollkommen abwesend sind zudem literaturwissenschaftliche Analysen, welche die Fichte'schen Texte auf den Traum und spezifische Traumästhetiken hin befragen.
Die hier verwendete Sekundärliteratur beschäftigt sich daher nicht ausschließlich mit dem *Platz der Gehenkten*, sondern bespricht den Text immer im Kontext des gesamten Werks Hubert Fichtes.
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Die hier verwendete Sekundärliteratur beschäftigt sich daher nicht ausschließlich mit dem ''Platz der Gehenkten'', sondern bespricht den Text immer im Kontext des gesamten Werks Hubert Fichtes.
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So beschäftigt sich das neunte Kapitel der Dissertation Torsten Teicherts (1987) zwar mit ''Der Platz der Gehenkten''. Da die Dissertation jedoch zwei Jahre vor der Veröffentlichung des Romans erschienen ist, basiert seine Analyse nicht auf der Druckausgabe, die als Grundlage für diesen Artikel herangezogen wird, sondern auf dem Typoskript des Romans, das er als Freund Hubert Fichtes bereits vor der Veröffentlichung einsehen konnte. Das stellt vor einige Probleme: einerseits kann Teichert zwar aus dem Text zitieren, tut dies aber der Sache geschuldet ohne Quellen- und Seitenangaben. Gibt sich sein Text mitunter thetisch ohne angeschnittene Gedankengänge weiter zu verfolgen, so ist sich Teichert dennoch sicher, dass das Wagnis über einen noch nicht veröffentlichten Text zu reden "vielleicht schon allein deshalb zum jetzigen Zeitpunkt legitim [ist], weil eine jede Interpretation auch Lust machen sollte aufs Lesen des Besprochenen" (Teichert 1987, 276).
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So beschäftigt sich das neunte Kapitel der Dissertation Torsten Teicherts (1987) zwar mit Der Platz der Gehenkten. Da die Dissertation jedoch zwei Jahre vor der Veröffentlichung des Romans erschienen ist, basiert seine Analyse nicht auf der Druckausgabe, die als Grundlage für diesen Artikel herangezogen wird, sondern auf dem Typoskript des Romans, das er als Freund Hubert Fichtes bereits vor der Veröffentlichung einsehen konnte. Das stellt vor einige Probleme: einerseits kann Teichert zwar aus dem Text zitieren, tut dies aber der Sache geschuldet ohne Quellen- und Seitenangaben. Gibt sich sein Text mitunter thetisch ohne angeschnittene Gedankengänge weiter zu verfolgen, so ist sich Teichert dennoch sicher, dass das Wagnis über einen noch nicht veröffentlichten Text zu reden "vielleicht schon allein deshalb zum jetzigen Zeitpunkt legitim [ist], weil eine jede Interpretation auch Lust machen sollte aufs Lesen des Besprochenen. (Teichert 1987, 276)."
   
Teicherts Interpretation versteht Fichtes ethnopoetisches Schreiben jedoch analog zur Form des Haiku und damit nicht als sinnvolle Beschreibung eines Sachverhalts, sondern als dezidiert anti-deskriptive Momentaufnahme. Teicherts Haiku-Verständnis basiert dabei jedoch auf Barthes Interpretation, die ihrerseits nicht unproblematisch ist. <ref> Wenngleich interessant, kann hier en detail nicht darauf eingegangen werden. Zu einer historischen Analyse der Textform Haiku und wie diese mit dem haikai verknüpft ist, vgl. Shirane 1998, der ausgehend von Bashō für die Sinnhaftigkeit und den hohen Formcharakter des Haiku argumentiert.</ref>
 
Teicherts Interpretation versteht Fichtes ethnopoetisches Schreiben jedoch analog zur Form des Haiku und damit nicht als sinnvolle Beschreibung eines Sachverhalts, sondern als dezidiert anti-deskriptive Momentaufnahme. Teicherts Haiku-Verständnis basiert dabei jedoch auf Barthes Interpretation, die ihrerseits nicht unproblematisch ist. <ref> Wenngleich interessant, kann hier en detail nicht darauf eingegangen werden. Zu einer historischen Analyse der Textform Haiku und wie diese mit dem haikai verknüpft ist, vgl. Shirane 1998, der ausgehend von Bashō für die Sinnhaftigkeit und den hohen Formcharakter des Haiku argumentiert.</ref>
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Hans-Jürgen Heinrichs Studie (1991) andererseits erweckt aufgrund ihres Titels, der ein direktes Zitat aus Fichtes Roman darstellt ("Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch"), im ersten Moment den Eindruck, dass es sich dabei hauptsächlich um die Lektüre des *Platz der Gehenkten* handelt. Allerdings widmet er sich dem Roman tatsächlich nur in einem Kapitel am Ende des Buchs, das größtenteils einen anderen Roman Fichtes, nämlich *Forschungsbericht*, bespricht (der Vollständigkeit halber soll Heinrichs Buch hier trotzdem erwähnt werden).
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Hans-Jürgen Heinrichs Studie (1991) andererseits erweckt aufgrund ihres Titels, der ein direktes Zitat aus Fichtes Roman darstellt ("Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch"), im ersten Moment den Eindruck, dass es sich dabei hauptsächlich um die Lektüre des ''Platz der Gehenkten'' handelt. Allerdings widmet er sich dem Roman tatsächlich nur in einem Kapitel am Ende des Buchs, das größtenteils einen anderen Roman Fichtes, nämlich ''Forschungsbericht'', bespricht (der Vollständigkeit halber soll Heinrichs Buch hier trotzdem erwähnt werden).
    
Bewusst abseits der Fichte-Forschung, die sich wie oben erwähnt vorrangig mit der Frage der Verortung des Fichte'schen Werks in den Kontext der Disziplinen Postcolonial Studies und Queer Studies und dem autobiographischen Gehalt der Fichte‘schen Texte beschäftigt (ein Themenfeld, das sich in zeitgenössischen ethnologischen und kulturanthropologischen Debatten unter dem Stichwort life writing wiederfinden lässt), findet sich Manfred Weinbergs Dissertation (1993), der den Synkretismus des Gesamtwerks Fichtes als den Versuch versteht eine Sprachkonzeption
 
Bewusst abseits der Fichte-Forschung, die sich wie oben erwähnt vorrangig mit der Frage der Verortung des Fichte'schen Werks in den Kontext der Disziplinen Postcolonial Studies und Queer Studies und dem autobiographischen Gehalt der Fichte‘schen Texte beschäftigt (ein Themenfeld, das sich in zeitgenössischen ethnologischen und kulturanthropologischen Debatten unter dem Stichwort life writing wiederfinden lässt), findet sich Manfred Weinbergs Dissertation (1993), der den Synkretismus des Gesamtwerks Fichtes als den Versuch versteht eine Sprachkonzeption
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Der Fokus dieses Artikels soll es nun sein, vor dem Hintergrund der obigen Literatur und mit Rückgriff auf diese, eine Lesart auf den Text zu eröffnen, die sich mit der spezifischen Frage onirischer Darstellungen auseinandersetzt. Zu diesem Zweck lohnt es sich, einen kurzen Blick auf das folgend verwendete theoretische Instrumentarium zu werfen.
 
Der Fokus dieses Artikels soll es nun sein, vor dem Hintergrund der obigen Literatur und mit Rückgriff auf diese, eine Lesart auf den Text zu eröffnen, die sich mit der spezifischen Frage onirischer Darstellungen auseinandersetzt. Zu diesem Zweck lohnt es sich, einen kurzen Blick auf das folgend verwendete theoretische Instrumentarium zu werfen.
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== Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' ==
 
== Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' ==
    
=== Intensitäten des Traumhaften: Markierte Träume ===
 
=== Intensitäten des Traumhaften: Markierte Träume ===
Um die Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten '' klassifizieren zu können, wird auf Stefanie Kreuzers entwickelte Traumtypologie zurückgegriffen, welche Traumdarstellungen nach ihrer Markiertheit sortiert.
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Um die Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' klassifizieren zu können, wird auf Stefanie Kreuzers entwickelte Traumtypologie zurückgegriffen, welche Traumdarstellungen nach ihrer Markiertheit sortiert.
 
Kreuzer arbeitet dabei drei verschiedene Darstellungsarten traumhaften Erzählens heraus, die sie wertfrei als Intensivierungen des traumhaften Erzählens und damit als "Wegfall jeglicher Markierung des Traumzustandes" (Kreuzer 2014, 90) versteht.
 
Kreuzer arbeitet dabei drei verschiedene Darstellungsarten traumhaften Erzählens heraus, die sie wertfrei als Intensivierungen des traumhaften Erzählens und damit als "Wegfall jeglicher Markierung des Traumzustandes" (Kreuzer 2014, 90) versteht.
 
(1) Dabei beschreiben markierte Traumdarstellungen den eindeutigsten Fall traumhaften Erzählens durch die textlich klar kommunizierte Abgrenzbarkeit verschiedener diegetischer Ebenen der Wach- und Traumwelt. Im Rahmen dieses Artikels interessiert nur diese erste Intensität onirischen Erzählens.
 
(1) Dabei beschreiben markierte Traumdarstellungen den eindeutigsten Fall traumhaften Erzählens durch die textlich klar kommunizierte Abgrenzbarkeit verschiedener diegetischer Ebenen der Wach- und Traumwelt. Im Rahmen dieses Artikels interessiert nur diese erste Intensität onirischen Erzählens.
 
(2) Als unsichere Grenzen zwischen Traum- und Wacherleben bezeichnet Kreuzer Traumdarstellungen, bei denen sich keine eindeutigen Grenzen zwischen Traumdarstellung und Wachwirklichkeit ziehen lassen und eine klare Trennung und Hierarchisierung verschiedener diegetischer Ebenen nicht möglich ist. Um Darstellungen als onirische Darstellungen dieser Art klassifizieren zu können, arbeitet Kreuzer weitere Aspekte des Onirischen heraus, die zur Interpretation herangezogen werden können.
 
(2) Als unsichere Grenzen zwischen Traum- und Wacherleben bezeichnet Kreuzer Traumdarstellungen, bei denen sich keine eindeutigen Grenzen zwischen Traumdarstellung und Wachwirklichkeit ziehen lassen und eine klare Trennung und Hierarchisierung verschiedener diegetischer Ebenen nicht möglich ist. Um Darstellungen als onirische Darstellungen dieser Art klassifizieren zu können, arbeitet Kreuzer weitere Aspekte des Onirischen heraus, die zur Interpretation herangezogen werden können.
(3) Der Wegfall jeglicher onirischer Markierung charakterisiert die höchste Intensität des Traumhaften, die Kreuzer als unmarkierte, autonome Traumdarstellungen charakterisiert. Solche Arten der Traumdarstellungen als genuin onirisch zu klassifizieren und von "im eigentlichen Sinne zu verstehenden antimimetischen [...] uneigentlich-parabolischen" [Kreuzer 2014, 91] Interpretationen zu unterscheiden, bedarf es weiterer Merkmale, um die Lesart zu plausibilisieren.  
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(3) Der Wegfall jeglicher onirischer Markierung charakterisiert die höchste Intensität des Traumhaften, die Kreuzer als unmarkierte, autonome Traumdarstellungen charakterisiert. Solche Arten der Traumdarstellungen als genuin onirisch zu klassifizieren und von "im eigentlichen Sinne zu verstehenden antimimetischen [...] uneigentlich-parabolischen" (Kreuzer 2014, 91) Interpretationen zu unterscheiden, bedarf es weiterer Merkmale, um die Lesart zu plausibilisieren.  
    
Jede Intensität traumhaften Erzählens, lässt sich zudem binnendifferenzieren. Da für die weitere Analyse nur markierte Traumdarstellungen betrachtet werden, wird diese Ausdifferenzierung weiter unten vorgenommen.
 
Jede Intensität traumhaften Erzählens, lässt sich zudem binnendifferenzieren. Da für die weitere Analyse nur markierte Traumdarstellungen betrachtet werden, wird diese Ausdifferenzierung weiter unten vorgenommen.
    
=== Markierte Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' ===
 
=== Markierte Traumdarstellungen in ''Der Platz der Gehenkten'' ===
   
Der Roman beginnt mit einer mehrseitigen komplexen Traumdarstellung, die sich erst nachträglich als markierte Traumdarstellung klassifizieren lässt. Der Ich-Erzähler vermischt dabei Tagesreste mit seinen Ängsten, Wünschen und den Erinnerungen an andere vor einigen Tagen geträumte Träume. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, lässt sich die Traumdarstellung in drei thematische Teile gliedern, die für sich unterschiedliche Aspekte des im Traum verhandelten herausarbeiten lassen: (a) ein erster Teil thematisiert die Reisevorbereitungen nach Marakech, auf den mit (b) der Traum einer Passkontrolle am Flughafen folgt. Der dritte Teil (c) ist ein Intertext auf frühere Romane Fichtes, der die werkübergreifende Spezifik des Traums als Teil der Fichte'schen Poetologie in den Fokus rückt.
 
Der Roman beginnt mit einer mehrseitigen komplexen Traumdarstellung, die sich erst nachträglich als markierte Traumdarstellung klassifizieren lässt. Der Ich-Erzähler vermischt dabei Tagesreste mit seinen Ängsten, Wünschen und den Erinnerungen an andere vor einigen Tagen geträumte Träume. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, lässt sich die Traumdarstellung in drei thematische Teile gliedern, die für sich unterschiedliche Aspekte des im Traum verhandelten herausarbeiten lassen: (a) ein erster Teil thematisiert die Reisevorbereitungen nach Marakech, auf den mit (b) der Traum einer Passkontrolle am Flughafen folgt. Der dritte Teil (c) ist ein Intertext auf frühere Romane Fichtes, der die werkübergreifende Spezifik des Traums als Teil der Fichte'schen Poetologie in den Fokus rückt.
 
Die zweite markierte Traumdarstellung, die hier betrachtet werden soll, nimmt einen fünfzeiligen Text in den Fokus, der an mehreren Stellen im Romantext auftaucht und diesen durch die ritualhafte Wiederholung strukturiert. Versteht man den Roman in seiner Form und auch inhaltlich als Gegenbewegung zum Koran, lässt sich der fünfzeilige Text als Gegen-Ritual verstehen, das in sich die Gefahr birgt, das zu reproduzieren, gegen das es anschreibt.
 
Die zweite markierte Traumdarstellung, die hier betrachtet werden soll, nimmt einen fünfzeiligen Text in den Fokus, der an mehreren Stellen im Romantext auftaucht und diesen durch die ritualhafte Wiederholung strukturiert. Versteht man den Roman in seiner Form und auch inhaltlich als Gegenbewegung zum Koran, lässt sich der fünfzeilige Text als Gegen-Ritual verstehen, das in sich die Gefahr birgt, das zu reproduzieren, gegen das es anschreibt.
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Der Roman ‚‘‘Der Platz der Gehenkten‘‘ beginnt mit den Reisevorbereitungen Jäckis und Irmas. Während Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist Jäcki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen.  
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Der Roman ''Der Platz der Gehenkten'' beginnt mit den Reisevorbereitungen Jäckis und Irmas. Während Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist Jäcki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen.  
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Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten Sätze des Romans *Der Platz der Gehenkten* sich auf den ersten Blick wie eine für Fichte typische "Wirklichkeits-Schreibung" (Weinberg 1993, 126) lesen. Eine genauere Betrachtung des dritten Satzes "Ich hatte Irma zum Schlafwagen gebracht und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach Fez" (Fichte 1989b, 9). führt jedoch eine Inkongruenz in das Geschehen ein. Weinberg macht diese Inkongruenz daran fest, dass einerseits die Reisevorbereitungen mit anderen Zielen wiederholt werden und andererseits, dass die narrative Instanz Irma zum Schlafwagen des Busses bringt, obwohl "Busse dergleichen gewöhnlich nicht besitzen" (Weinberg 1993, 126).  
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Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten Sätze des Romans ''Der Platz der Gehenkten'' sich auf den ersten Blick wie eine für Fichte typische "Wirklichkeits-Schreibung" (Weinberg 1993, 126) lesen. Eine genauere Betrachtung des dritten Satzes "Ich hatte Irma zum Schlafwagen gebracht und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach Fez" (Fichte 1989b, 9). führt jedoch eine Inkongruenz in das Geschehen ein. Weinberg macht diese Inkongruenz daran fest, dass einerseits die Reisevorbereitungen mit anderen Zielen wiederholt werden und andererseits, dass die narrative Instanz Irma zum Schlafwagen des Busses bringt, obwohl "Busse dergleichen gewöhnlich nicht besitzen" (Weinberg 1993, 126).  
    
Die Traumdarstellung stoße Weinberg zufolge daher einen dreiteiligen reflexiven Prozess an, der den Lesenden über die Relation zwischen Traum und Wirklichkeit nachdenken lasse. So lese man in einem ersten Schritt Sätze über Irma, die eine scheinbar wirkliche Situation einer Reisevorbereitung beschreiben. Das Irritationsmoment des Schlafwagens im Nachtbus lasse die Situation als Traumdarstellung erscheinen. Man sei reflexiv nun nicht mehr davon überzeugt, dass die Sätze über Irma und die Reisevorbereitungen eine Beschreibung der Wirklichkeit sind, sondern zum Traumgeschehen gehören. Als reflexiven dritten Schritt kehre man nun aber zur Anfangsthese, dass es sich bei den Sätzen um Beschreibungen einer wirklichen Situation handelt, zurück, denke aber nun grundlegend über das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit nach.
 
Die Traumdarstellung stoße Weinberg zufolge daher einen dreiteiligen reflexiven Prozess an, der den Lesenden über die Relation zwischen Traum und Wirklichkeit nachdenken lasse. So lese man in einem ersten Schritt Sätze über Irma, die eine scheinbar wirkliche Situation einer Reisevorbereitung beschreiben. Das Irritationsmoment des Schlafwagens im Nachtbus lasse die Situation als Traumdarstellung erscheinen. Man sei reflexiv nun nicht mehr davon überzeugt, dass die Sätze über Irma und die Reisevorbereitungen eine Beschreibung der Wirklichkeit sind, sondern zum Traumgeschehen gehören. Als reflexiven dritten Schritt kehre man nun aber zur Anfangsthese, dass es sich bei den Sätzen um Beschreibungen einer wirklichen Situation handelt, zurück, denke aber nun grundlegend über das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit nach.
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Ist man jedoch nicht davon überzeugt, dass die von Weinberg beschriebene Irritation schon eindeutig für die Traumhaftigkeit des geschilderten Geschehens steht, so lässt sich dennoch einige Zeilen später mit dem Satz "Es folgen trübe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum, Ungereimtheiten, Schnitte." (Fichte 1989b, 9) die vorangegangenen Ereignisse als überraschende Traumauflösungen im Sinne Stephanie Kreuzers verstehen (vgl. Kreuzer 2014, 225). Für Kreuzer lassen sich markierte Traumdarstellungen – um die es sich hier durch die Thematisierung des Traums handelt – in Erzählungen in zwei Kategorien unterteilen: (1) Erzählungen, in denen Traumdarstellungen von vorneherein diegetisch von der Wachwelt unterschieden sind. Die Voraussetzung für diese Art der Traumdarstellung setzt eine klare und bereits vorangegangenes Etablierung der Wachwelt und Wissen über diese voraus. (2) Eine zweite Kategorie fasst Traumdarstellungen, die erst retrospektiv als solche zu erkennen sind. Für Kreuzer sind Texte, die diese Traumdarstellungen enthalten "rezeptionsästhetisch immer mit einer Umdeutung der Diegese oder auch einer überraschenden Traum(auf)lösung verbunden" (Kreuzer 2014, 225). Die Schilderungen Fichtes in *Der Platz der Gehenkten*, die sich erst als tatsächliche Schilderung der Ereignisse lesen lassen, können demnach als solche überraschende Traum(auf)lösung verstanden werden, die durchaus in Relation zur Wachwelt steht, da sie Tagesreste der Wachwirklichkeit verarbeitet.
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Ist man jedoch nicht davon überzeugt, dass die von Weinberg beschriebene Irritation schon eindeutig für die Traumhaftigkeit des geschilderten Geschehens steht, so lässt sich dennoch einige Zeilen später mit dem Satz "Es folgen trübe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum, Ungereimtheiten, Schnitte." (Fichte 1989b, 9) die vorangegangenen Ereignisse als überraschende Traumauflösungen im Sinne Stephanie Kreuzers verstehen (vgl. Kreuzer 2014, 225). Für Kreuzer lassen sich markierte Traumdarstellungen – um die es sich hier durch die Thematisierung des Traums handelt – in Erzählungen in zwei Kategorien unterteilen: (1) Erzählungen, in denen Traumdarstellungen von vorneherein diegetisch von der Wachwelt unterschieden sind. Die Voraussetzung für diese Art der Traumdarstellung setzt eine klare und bereits vorangegangenes Etablierung der Wachwelt und Wissen über diese voraus. (2) Eine zweite Kategorie fasst Traumdarstellungen, die erst retrospektiv als solche zu erkennen sind. Für Kreuzer sind Texte, die diese Traumdarstellungen enthalten "rezeptionsästhetisch immer mit einer Umdeutung der Diegese oder auch einer überraschenden Traum(auf)lösung verbunden" (Kreuzer 2014, 225). Die Schilderungen Fichtes in ''Der Platz der Gehenkten'', die sich erst als tatsächliche Schilderung der Ereignisse lesen lassen, können demnach als solche überraschende Traum(auf)lösung verstanden werden, die durchaus in Relation zur Wachwelt steht, da sie Tagesreste der Wachwirklichkeit verarbeitet.
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Für Torsten Teichert, der zwar nicht an der Traumhaftigkeit der Schilderungen zweifelt, aber diese nicht in den Fokus seiner Betrachtungen rückt, trifft der Romananfang vielmehr eine poetologische Aussage über Bauplan des gesamten Romans. So beginne der Text zwar mit der Schilderung eines Traums, in die ein weiterer Traum verschachtelt wird. Wichtig ist für Teichert dabei nicht das Spezifikum der onirischen Darstellung, sondern welche Wirkung die verschachtelte Traumdarstellung hat: "Völlige Identitätsverwirrung" (Teichert 1987, 304). Auch ob es sich bei der Traumdarstellung um eine geträumte Erinnerung oder einen erinnerten Traum handelt, will Teichert nicht festlegen. Es gilt für ihn jedoch, dass die Identität des Ichs dadurch, dass der Roman mit einem Traum beginnt, "[s]chon auf der ersten Seite [...] infrage gestellt" (Teichert 1987, 304) wird. Es soll hier contra Teichert jedoch dafür argumentiert werden, dass die Identität der narrativen Instanz nicht infrage gestellt wird, sondern ein selbstreflexives Moment in den Text einführt und die Relation verschiedener Träume aufeinander thematisiert. Weitaus näher an dieser Überlegung der Selbstreflexivität des Textes ist Teichert, wenn er sich fragt
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Für Torsten Teichert, der zwar nicht an der Traumhaftigkeit der Schilderungen zweifelt, aber diese nicht in den Fokus seiner Betrachtungen rückt, trifft der Romananfang vielmehr eine poetologische Aussage über Bauplan des gesamten Romans. So beginne der Text zwar mit der Schilderung eines Traums, in die ein weiterer Traum verschachtelt wird. Wichtig ist für Teichert dabei nicht das Spezifikum der onirischen Darstellung, sondern welche Wirkung die verschachtelte Traumdarstellung hat: "Völlige Identitätsverwirrung" (Teichert 1987, 304). Auch ob es sich bei der Traumdarstellung um eine geträumte Erinnerung oder einen erinnerten Traum handelt, will Teichert nicht festlegen. Es gilt für ihn jedoch, dass die Identität des Ichs dadurch, dass der Roman mit einem Traum beginnt, "schon auf der ersten Seite [...] infrage gestellt" (Teichert 1987, 304) wird. Es soll hier contra Teichert jedoch dafür argumentiert werden, dass die Identität der narrativen Instanz nicht infrage gestellt wird, sondern ein selbstreflexives Moment in den Text einführt und die Relation verschiedener Träume aufeinander thematisiert. Weitaus näher an dieser Überlegung der Selbstreflexivität des Textes ist Teichert, wenn er sich fragt
    
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Es kann jedoch gezeigt werden, dass die Schreibsituation in *Der Platz der Gehenkten* keine der absoluten Identitätsverwirrung ist, sondern die komplexe Vermischung tagespolitischer Themen, Erinnerungen und Ängste der narrativen Instanz. Dazu weiter unten mehr.
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Es kann jedoch gezeigt werden, dass die Schreibsituation in ''Der Platz der Gehenkten'' keine der absoluten Identitätsverwirrung ist, sondern die komplexe Vermischung tagespolitischer Themen, Erinnerungen und Ängste der narrativen Instanz. Dazu weiter unten mehr.
    
==== Flughafentraum vom vertauschten Pass ====
 
==== Flughafentraum vom vertauschten Pass ====
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Eine genauere Betrachtung der zitierten Textstelle zeigt, dass sich hier im Rahmen der Erzählung des Traumgeschehens zwei Träume ineinanderschieben. So wird das Traumgeschehen der Passkontrolle am Flughafen mit einem anderen Traum, in dem das träumende Ich mit Uwe in einer Pension war, im Modus der Erinnerung verknüpft. In diesem anderen Traum in der Pension vertauscht ein Rezeptionist die Pässe Uwes und des Erzählers; ein Umstand, der sich nun auf den Traum der Passkontrolle im Flughafen auswirkt. Einer onirischen Logik, die formale und inhaltliche Brüche im Handlungsgeschehen zulässt und mit der man Ungereimtheiten – wie den vertauschten Pass – mit Rekurs auf eine allgemeine Traumlogik erklären könnte, wird im Traum eine rationalistische Erklärung entgegengehalten, die den Umstand mit Rekurs auf das Geschehen eines anderen Traums zu erklären versucht.
 
Eine genauere Betrachtung der zitierten Textstelle zeigt, dass sich hier im Rahmen der Erzählung des Traumgeschehens zwei Träume ineinanderschieben. So wird das Traumgeschehen der Passkontrolle am Flughafen mit einem anderen Traum, in dem das träumende Ich mit Uwe in einer Pension war, im Modus der Erinnerung verknüpft. In diesem anderen Traum in der Pension vertauscht ein Rezeptionist die Pässe Uwes und des Erzählers; ein Umstand, der sich nun auf den Traum der Passkontrolle im Flughafen auswirkt. Einer onirischen Logik, die formale und inhaltliche Brüche im Handlungsgeschehen zulässt und mit der man Ungereimtheiten – wie den vertauschten Pass – mit Rekurs auf eine allgemeine Traumlogik erklären könnte, wird im Traum eine rationalistische Erklärung entgegengehalten, die den Umstand mit Rekurs auf das Geschehen eines anderen Traums zu erklären versucht.
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Teicherts Interpretation, dass sich im Traumgeschehen eine "[v]öllige Identitätsverwirrung" in deren Rahmen die "Identität des Ichs infrage gestellt" wird, von der oben schon die Rede war, muss daher widersprochen werden. So argumentiert Teichert weiterhin dafür, dass der Schreibvorgang des Romans allgemein als Erinnerungsvorgang verstanden werden kann, der in sich das Risiko birgt "sich doppelt zu sehen als der, der schreibt, und der, der aus der Vergangenheit mit den Wörtern hochgeholt wird" (Teichert 1987, 306). Dieser Rückgriff auf Vergangenes als Reservoir für das Erzählen (den man durchaus als allgemeine Spezifik des Erzählens verstehen kann, vgl. Weber 1998, 24: "Erzählen gilt immer Nichtaktuellem.") offenbart für Teichert jedoch ein "doppeltes Wagnis" (Teichert 1987, 306), da das gegenwärtig schreibende Ich dadurch "von der Identität aus alter Erinnerung und von der Wirklichkeit, die mit dem Gedächtnis zur Sprache gebracht werden soll" (Teichert 1987, 306) attackiert wird. Der Schreibvorgang als Erinnerungsvorgang ist damit nicht nur ein Prozess, der das Ich wie bei Wordsworth in ein erinnerndes Ich und ein erinnertes Ich spaltet. Es ist gleichzeitig auch ein gewaltsamer Aufspaltungs- und Verdopplungsvorgang, der Gefahr läuft, das Auseinanderfallen des Verfasser-Subjekts zu riskieren (vgl. Teichert 1987, 306).
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Teicherts Interpretation, dass sich im Traumgeschehen eine "völlige Identitätsverwirrung" in deren Rahmen die "Identität des Ichs infrage gestellt" wird, von der oben schon die Rede war, muss daher widersprochen werden. So argumentiert Teichert weiterhin dafür, dass der Schreibvorgang des Romans allgemein als Erinnerungsvorgang verstanden werden kann, der in sich das Risiko birgt "sich doppelt zu sehen als der, der schreibt, und der, der aus der Vergangenheit mit den Wörtern hochgeholt wird" (Teichert 1987, 306). Dieser Rückgriff auf Vergangenes als Reservoir für das Erzählen (den man durchaus als allgemeine Spezifik des Erzählens verstehen kann, vgl. Weber 1998, 24: "Erzählen gilt immer Nichtaktuellem.") offenbart für Teichert jedoch ein "doppeltes Wagnis" (Teichert 1987, 306), da das gegenwärtig schreibende Ich dadurch "von der Identität aus alter Erinnerung und von der Wirklichkeit, die mit dem Gedächtnis zur Sprache gebracht werden soll" (Teichert 1987, 306) attackiert wird. Der Schreibvorgang als Erinnerungsvorgang ist damit nicht nur ein Prozess, der das Ich wie bei Wordsworth in ein erinnerndes Ich und ein erinnertes Ich spaltet. Es ist gleichzeitig auch ein gewaltsamer Aufspaltungs- und Verdopplungsvorgang, der Gefahr läuft, das Auseinanderfallen des Verfasser-Subjekts zu riskieren (vgl. Teichert 1987, 306).
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Erinnerung versteht Wordsworth in seinem Text *Poem Titel not yet fixed upon by William Wordsworth Addressed to S.T. Coleridge*, das in der Forschung unter dem eingängigeren, aber posthumen Titel *Prelude* bekannt ist, als reflexiven Vorgang, d.h. als eine temporalisierte Selbstbeobachtung oder Selbstspaltung und Selbstverdoppelung. Das Ich spaltet sich in und doppelt sich als erinnerndes Ich und erinnertes Ich, die durch die zeitliche Differenz qualitativ voneinander getrennt sind. Der Erinnerungsvorgang ist damit auch immer eine Vergegenwärtigung des Abstands zum Vergangenen und äußert sich als damit als grundlegende Alteritätserfahrung. Diese wird als "Wunde der Zeit" (Assmann 2018, 101) wahrgenommen, die darauf verweist, dass das tatsächliche Erfahrungsdatum in seiner erinnerten Form nur ein schwacher Abglanz der tatsächlichen Erfahrung ist (vgl. Assmann 2018, 102).
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Erinnerung versteht Wordsworth in seinem Text ''Poem Titel not yet fixed upon by William Wordsworth Addressed to S.T. Coleridge'', das in der Forschung unter dem eingängigeren, aber posthumen Titel ''Prelude'' bekannt ist, als reflexiven Vorgang, d.h. als eine temporalisierte Selbstbeobachtung oder Selbstspaltung und Selbstverdoppelung. Das Ich spaltet sich in und doppelt sich als erinnerndes Ich und erinnertes Ich, die durch die zeitliche Differenz qualitativ voneinander getrennt sind. Der Erinnerungsvorgang ist damit auch immer eine Vergegenwärtigung des Abstands zum Vergangenen und äußert sich als damit als grundlegende Alteritätserfahrung. Diese wird als "Wunde der Zeit" (Assmann 2018, 101) wahrgenommen, die darauf verweist, dass das tatsächliche Erfahrungsdatum in seiner erinnerten Form nur ein schwacher Abglanz der tatsächlichen Erfahrung ist (vgl. Assmann 2018, 102).
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Thematisieren die im *Platz der Gehenkten* vorhandenen Traumdarstellungen zwar durchaus ebendiese Trennung in erinnerndes und erinnertes Ich, so ist die von Teichert behauptete Identitätsverwirrung zu keinem Zeitpunkt offensichtlich, da selbst das träumende Ich weiß, dass es Uwes Pass und damit nicht den eigenen besitzt.  
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Thematisieren die im ''Platz der Gehenkten'' vorhandenen Traumdarstellungen zwar durchaus ebendiese Trennung in erinnerndes und erinnertes Ich, so ist die von Teichert behauptete Identitätsverwirrung zu keinem Zeitpunkt offensichtlich, da selbst das träumende Ich weiß, dass es Uwes Pass und damit nicht den eigenen besitzt.  
 
Die Verwirrung tritt dabei erst ein, wenn sich das, inzwischen erwachte Ich, daran erinnern will, welche der erinnerten Erlebnisse Teil des Traums waren und welche nicht:
 
Die Verwirrung tritt dabei erst ein, wenn sich das, inzwischen erwachte Ich, daran erinnern will, welche der erinnerten Erlebnisse Teil des Traums waren und welche nicht:
    
Vielmehr verweist die Passkontrolle am Flughafen im Flughaften-Traum auf das sich verändernde politische Klima in Marokko hin, das sich in den 70er- und 80er-Jahren einer starken Re-Islamisierung ausgesetzt sah. So versuchte der damalige König Hassan II. die monarchiekritische Linke dadurch zu bekämpfen, dass er die konservativen Kräfte im Land stärkte. Das hatte zur Folge, dass der saudi-arabische Wahhabismus<ref>Die Anhänger des Wahhabismus bezeichnen sich selber als Sunniten oder Salafis, weshalb Wahhabismus und Salafismus häufig synonym verwendet werden</ref>  – eine traditionalistische Strömung innerhalb des Sunnitentums – wieder in Marokko Fuß fassen konnte und sich eine konservative Interpretation des Korans an Schulen und Universitäten etablierte.
 
Vielmehr verweist die Passkontrolle am Flughafen im Flughaften-Traum auf das sich verändernde politische Klima in Marokko hin, das sich in den 70er- und 80er-Jahren einer starken Re-Islamisierung ausgesetzt sah. So versuchte der damalige König Hassan II. die monarchiekritische Linke dadurch zu bekämpfen, dass er die konservativen Kräfte im Land stärkte. Das hatte zur Folge, dass der saudi-arabische Wahhabismus<ref>Die Anhänger des Wahhabismus bezeichnen sich selber als Sunniten oder Salafis, weshalb Wahhabismus und Salafismus häufig synonym verwendet werden</ref>  – eine traditionalistische Strömung innerhalb des Sunnitentums – wieder in Marokko Fuß fassen konnte und sich eine konservative Interpretation des Korans an Schulen und Universitäten etablierte.
Im obigen Traum der Passkontrolle kondensiert sich dabei die neue Skepsis der marokkanischen Behörden vor westlichen Ausländern, die an anderen Stellen im Text in nicht-onirischen Darstellungen weiter ausgeführt wird. Der Koran, gegen den *Der Platz der Gehenkten*, wie bereits erwähnt, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich anschreibt wird im Roman zum Symbol für den Rückfall des Landes in konservativ-traditionalistische Denkmuster.  
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Im obigen Traum der Passkontrolle kondensiert sich dabei die neue Skepsis der marokkanischen Behörden vor westlichen Ausländern, die an anderen Stellen im Text in nicht-onirischen Darstellungen weiter ausgeführt wird. Der Koran, gegen den ''Der Platz der Gehenkten'', wie bereits erwähnt, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich anschreibt wird im Roman zum Symbol für den Rückfall des Landes in konservativ-traditionalistische Denkmuster.  
 
Dass der westliche Einfluss (und sexuelle Liberalismus) durch die Re-etablierung konservativer Koran-Auslegungen jedoch nicht verschwindet, sondern von nun an wieder im Geheimen praktiziert wird, darauf verweist unter anderem folgende Textstelle:
 
Dass der westliche Einfluss (und sexuelle Liberalismus) durch die Re-etablierung konservativer Koran-Auslegungen jedoch nicht verschwindet, sondern von nun an wieder im Geheimen praktiziert wird, darauf verweist unter anderem folgende Textstelle:
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: (Fichte 1989b, 66)
 
: (Fichte 1989b, 66)
 
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Als Ver- und Neubearbeitung von Textresten gestaltet sich die Szene am Flughafen aber ebenfalls als fast wörtliches Zitat eines anderen Romans Fichtes: *Detlevs Imitationen »Grünspan«*. Auf diesen Umstand weist auch Manfred Weinberg hin, wenn er sagt, dass der Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden." sich nicht auf *Der Platz der Gehenkten* sondern auf *Detlevs Imitationen »Grünspan«* bezieht [vgl. Weinberg 1993, 127]. Zum Vergleich sei daher die entsprechende Textstelle aus Detlevs Imitationen »Grünspan« zitiert:
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Als Ver- und Neubearbeitung von Textresten gestaltet sich die Szene am Flughafen aber ebenfalls als fast wörtliches Zitat eines anderen Romans Fichtes: ''Detlevs Imitationen "Grünspan"''. Auf diesen Umstand weist auch Manfred Weinberg hin, wenn er sagt, dass der Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden." sich nicht auf ''Der Platz der Gehenkten'' sondern auf ''Detlevs Imitationen "Grünspan"'' bezieht (Weinberg 1993, 127). Zum Vergleich sei daher die entsprechende Textstelle aus ''Detlevs Imitationen "Grünspan"'' zitiert:
    
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: – von mir oder von Uwe oder Otto? (Fichte 1982, 239-240)
 
: – von mir oder von Uwe oder Otto? (Fichte 1982, 239-240)
 
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Nicht nur findet sich mit dem Flughafentraum ein Intertext auf einen anderen Roman Fichtes, der der den Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden" erst verständlich macht. Auch die Figur des Otto Habermann alias Cartacalo/la taucht in mehrere Texten Fichtes (wie der *Palette* und dem Roman *Alte Welt*) auf und verbindet diese so miteinander. Die Traumdarstellung ist damit nicht nur eine Verarbeitung von Tagesresten und eine Thematisierung soziopolitischer Veränderungen, sondern kann ebenso als Verarbeitung und erneute Thematisierung von Textresten verstanden werden.  
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Nicht nur findet sich mit dem Flughafentraum ein Intertext auf einen anderen Roman Fichtes, der der den Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden" erst verständlich macht. Auch die Figur des Otto Habermann alias Cartacalo/la taucht in mehrere Texten Fichtes (wie der ''Palette'' und dem Roman ''Alte Welt'') auf und verbindet diese so miteinander. Die Traumdarstellung ist damit nicht nur eine Verarbeitung von Tagesresten und eine Thematisierung soziopolitischer Veränderungen, sondern kann ebenso als Verarbeitung und erneute Thematisierung von Textresten verstanden werden.  
 
So thematisiert der letzte Teil der Traumdarstellung den Umstand, dass das Flugzeug, mit dem Irma nach Hamburg fliegen wollte, abstürzt. Jäcki, dessen letze Kommunikation mit Irma ein Brief war, in dem sie ihn von ihrer geplanten Reise, fürchtet nun, dass Irma bei dem Absturz ums Leben gekommen ist. Eine Angst, die als Tagesrest auch Eingang in seine Träume findet:
 
So thematisiert der letzte Teil der Traumdarstellung den Umstand, dass das Flugzeug, mit dem Irma nach Hamburg fliegen wollte, abstürzt. Jäcki, dessen letze Kommunikation mit Irma ein Brief war, in dem sie ihn von ihrer geplanten Reise, fürchtet nun, dass Irma bei dem Absturz ums Leben gekommen ist. Eine Angst, die als Tagesrest auch Eingang in seine Träume findet:
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: Die Stimmen der Sänger vom Turm.
 
: Die Stimmen der Sänger vom Turm.
 
: Gottes Wort.
 
: Gottes Wort.
: Sauer. [Fichte 1989b, 12, 45, 173, 206]
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: Sauer. (GB 12, 45, 173, 206)
 
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Geht man auch hier von Weinbergs These aus, dass Fichtes protokollartige Sätze, eine Wirklichkeitsschreibung sind, so mag es naheliegen auch hier den Sachverhalt folgendermaßen zu rekonstruieren: der Ich-Erzähler befindet sich in Marokko und hört nach dem Erwachen – ein Zustand, der als "Zwischen Traum und Traum" charakterisiert wird – das as-salāt der Muezzine. Dieses Gotteswort ist jedoch sauer, weil es als Ausdruck des etablierten religiöse Fundamentalismus verstanden wird.
 
Geht man auch hier von Weinbergs These aus, dass Fichtes protokollartige Sätze, eine Wirklichkeitsschreibung sind, so mag es naheliegen auch hier den Sachverhalt folgendermaßen zu rekonstruieren: der Ich-Erzähler befindet sich in Marokko und hört nach dem Erwachen – ein Zustand, der als "Zwischen Traum und Traum" charakterisiert wird – das as-salāt der Muezzine. Dieses Gotteswort ist jedoch sauer, weil es als Ausdruck des etablierten religiöse Fundamentalismus verstanden wird.
Will *Der Platz der Gehenkten* auf der formalen Ebene "das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13), so kann auch der sich wiederholende fünfzeilige Text als eine Art Gegen-Ritual zum ritualhaft wiederholten morgendlichen Gebet verstanden werden. Dem Gesang der Muezzine als an den Koran geknüpftes Gebetsritual wird eine säkularisierte Form des Rituals als Teil eines gesamten gegen die wahhabitische Auslegung des Koran gerichteten Textes gegenübergestellt, der sich dabei jedoch derselben Strukturen religiöser Texte bedienen muss. Wenn also "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) ist, dann bedient sich Fichtes Text ebendieses poetischen Prinzips.
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Will ''Der Platz der Gehenkten'' auf der formalen Ebene "das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13), so kann auch der sich wiederholende fünfzeilige Text als eine Art Gegen-Ritual zum ritualhaft wiederholten morgendlichen Gebet verstanden werden. Dem Gesang der Muezzine als an den Koran geknüpftes Gebetsritual wird eine säkularisierte Form des Rituals als Teil eines gesamten gegen die wahhabitische Auslegung des Koran gerichteten Textes gegenübergestellt, der sich dabei jedoch derselben Strukturen religiöser Texte bedienen muss. Wenn also "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) ist, dann bedient sich Fichtes Text ebendieses poetischen Prinzips.
    
==== Das Leben doch ein Traum? Zirkeltraum? ====
 
==== Das Leben doch ein Traum? Zirkeltraum? ====
Die letzte Traumdarstellung, die in sich einen Satz des vorab besprochenen Fünfzeilers wieder aufgreift, thematisiert grundlegend den Vorgang des Schreibens selbst. Einzelne Sätze, die bereits vorher im Text in anderen Kontexten aufgekommen sind, werden hier zu einem neuen Ganzen zusammenmontiert, um allgemein über das Verhältnis von Textproduktion und Zeitlichkeit, Traum und Wirklichkeit nachzudenken:
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Die letzte Traumdarstellung, die in sich einen Satz des vorab besprochenen Fünfzeilers wieder aufgreift, thematisiert grundlegend den Vorgang des Schreibens selbst. Einzelne Sätze, die bereits vorher im Text in anderen Kontexten vorgekommen sind, werden hier zu einem neuen Ganzen zusammenmontiert, um allgemein über das Verhältnis von Textproduktion und Zeitlichkeit, Traum und Wirklichkeit nachzudenken:
    
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== Fazit==
 
== Fazit==
Die hier vorgestellte kurze und notwendigerweise unvollständige Betrachtung nur eines der Werke Hubert Fichtes gibt nicht nur einen ersten Einblick in die spezifische Verwendung onirischer Darstellungen, sondern verweist darüber hinaus auf die in den Text und die analysierten Traumdarstellungen eingeschriebene Intertextualität. Dass es sich dabei lohnt, dem Geflecht der Fichte'schen Texte, dem intertextuellen Fäden- und Wurzelwerk, das möglicherweise die gesamte *Geschichte der Empfindlichkeit* durchwächst, nicht nur ganz allgemein, sondern ebenfalls im Hinblick auf die verwendeten onirischen Ausdrucksmittel zu folgen, dazu soll dieser Artikel einen ersten Anstoß liefern.
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Die hier vorgestellte kurze und notwendigerweise unvollständige Betrachtung nur eines der Werke Hubert Fichtes gibt nicht nur einen ersten Einblick in die spezifische Verwendung onirischer Darstellungen, sondern verweist darüber hinaus auf die in den Text und die analysierten Traumdarstellungen eingeschriebene Intertextualität. Dass es sich dabei lohnt, dem Geflecht der Fichte'schen Texte, dem intertextuellen Fäden- und Wurzelwerk, das möglicherweise die gesamte ''Geschichte der Empfindlichkeit'' durchwächst, nicht nur ganz allgemein, sondern ebenfalls im Hinblick auf die verwendeten onirischen Ausdrucksmittel zu folgen, dazu soll dieser Artikel einen ersten Anstoß liefern.
    
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Alexander Kerber]]</div>
 
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Alexander Kerber]]</div>
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== Literatur ==
 
== Literatur ==
 
=== Ausgaben ===
 
=== Ausgaben ===
* Fichte, Hubert. 1989. Der Platz der Gehenkten. Herausgegeben von Gisela Lindemann und Leonore Mau. Bd. VI. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. (Zitate sind dieser Ausgabe entnommen).
+
* Fichte, Hubert: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Bd. VI: Der Platz der Gehenkten. Hg. von Gisela Lindemann und Leonore Mau. Frankfurt/M.: Fischer 1989; zitiert als PG.
* Fichte, Hubert 2006 Der Platz der Gehenkten. Herausgegeben von Gisela Lindemann und Leonore Mau. Bd. VI. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag
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* Fichte, Hubert: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Bd. VI: Der Platz der Gehenkten. Hg. von Gisela Lindemann und Leonore Mau. Frankfurt/M.: Fischer 2006 [Taschenbuchausgabe].
=== Forschungsliteratur ===
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* Assmann, Aleida. 2018. Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 1. Auflage. C.H. Beck Paperback 6331. München: C.H. Beck.
+
===Weitere Primärliteratur===
* Bandel, Jan-Frederik, Hrsg. 2006. Tage des Lesens: Hubert Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit. Bd. Bd. 42. Rimbaud-Taschenbuch. Aachen: Rimbaud.
+
* Fichte, Hubert: Detlevs Imitationen "Grünspan". Roman. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer 1982.
* Barthes, Roland. 2019. Das Reich der Zeichen. Übersetzt von Michael Bischoff. 21. Auflage. Edition Suhrkamp 1077. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
+
* Fichte, Hubert: Die Palette [1968]. Roman. Frankfurt/M.: Fischer 2. Aufl. 2010.
* Beckermann, Thomas, Hrsg. 1985. Hubert Fichte: Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
+
 
* Böhme, Hartmut. 1992. Hubert Fichte: Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart: Metzler.
+
===Forschungsliteratur===
* Fichte, Hubert. 1982. Detlevs Imitationen Grünspan: Roman. Ungekürzte Ausgabe. Roman Fischer. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
+
* Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 2018.
* Fichte, Hubert. 2010. Die Palette: Roman. 2. Aufl., Ungekürzte Ausg., Neuausg. Bd. 15853. Fischer-Taschenbücher. Frankfurt am Main: Fischer.
+
* Bandel, Jan-Frederik (Hg.): Tage des Lesens. Hubert Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit. Aachen: Rimbaud 2006.
* Heinrichs, Hans-Jürgen. 1991. Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch, oder, Wie sich Poesie, Ethnologie und Politik durchdringen: Hubert Fichte und sein Werk. 1. Ausg. Bielefeld: Pendragon Verlag.
+
* Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Übers. von Michael Bischoff. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2019.
* Kreuzer, Stefanie. 2014. Traum und Erzählen: in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink.
+
* Beckermann, Thomas (Hg): Hubert Fichte. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt/M.: Fischer 1985.
* Shirane, Haruo. 1998. Traces of dreams: landscape, cultural memory, and the poetry of Bashō. Stanford, Calif: Stanford University Press.
+
* Böhme, Hartmut: Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart: Metzler 1992.
* Teichert, Torsten. 1987. Herzschlag aussen: Die poetische Konstruktion des Fremden und des Eigenen im Werk von Hubert Fichte. Originalausgabe. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
+
* Heinrichs, Hans-Jürgen: Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch, oder, Wie sich Poesie, Ethnologie und Politik durchdringen. Hubert Fichte und sein Werk. Bielefeld: Pendragon 1991.
* Weinberg, Manfred. 1993. Akut, Geschichte, Struktur: Hubert Fichtes Suche nach der verlorenen Sprache einer poetischen Welterfahrung. Bielefeld: Aisthesis.
+
* Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
* Weinberg, Manfred. 2021. „»Fäden, Viele Fäden.«: Ungewisse Vermischungen in Dem Roman Eine Glückliche Liebe von Hubert Fichte“. Zeitschrift Für Interkulturelle Germanistik 12 (1): 133–48. https://doi.org/10.14361/zig-2021-120111.
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* Shirane, Haruo: Traces of Dreams. Landscape, Cultural Memory, and the Poetry of Bashō. Stanford: Stanford UP 1998.
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* Teichert, Torsten: Herzschlag aussen. Die poetische Konstruktion des Fremden und des Eigenen im Werk von Hubert Fichte. Frankfurt/M.: Fischer 1987.
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* Weinberg, Manfred: Akut, Geschichte, Struktur. Hubert Fichtes Suche nach der verlorenen Sprache einer poetischen Welterfahrung. Bielefeld: Aisthesis 1993.
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* Weinberg, Manfred: „Fäden, viele Fäden“. Ungewisse Vermischungen in dem Roman ''Eine Glückliche Liebe'' von Hubert Fichte. In: Zeitschrift für Interkulturelle Germanistik 12 (2021), 133–48; https://doi.org/10.14361/zig-2021-120111.
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Kerber, Alexander: "Der Platz des Gehenkten" (Hubert Fichte). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Der_Platz_der_Gehenkten%22_(Hubert_Fichte).
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[[Kategorie:Fichte,_Hubert|Hubert Fichte]]

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