"Der Platz der Gehenkten" (Hubert Fichte): Unterschied zwischen den Versionen
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â | Fichtes Roman beginnt mit einer mehrseitigen komplexen Traumdarstellung, die sich erst nachtrĂ€glich als markiert klassifizieren lĂ€sst. Der Ich-ErzĂ€hler vermischt dabei Tagesreste mit seinen Ăngsten, WĂŒnschen und den Erinnerungen an andere vor einigen Tagen getrĂ€umte TrĂ€ume. | + | Fichtes Roman beginnt mit einer mehrseitigen komplexen Traumdarstellung, die sich erst nachtrĂ€glich als markiert klassifizieren lĂ€sst. Der Ich-ErzĂ€hler vermischt dabei Tagesreste mit seinen Ăngsten, WĂŒnschen und den Erinnerungen an andere vor einigen Tagen getrĂ€umte TrĂ€ume. Die Traumdarstellung lĂ€sst sich in drei thematische Teile gliedern, fĂŒr die sich unterschiedliche Aspekte des im Traum Verhandelten herausarbeiten lassen: (a) ein erster Teil thematisiert die Reisevorbereitungen nach Marakech, auf den mit (b) der Traum einer Passkontrolle am Flughafen folgt. Der dritte Teil (c) ist ein Intertext zu einem frĂŒheren Romane Fichtes, der die werkĂŒbergreifende Spezifik des Traums als Teil der Fichteschen Poetologie in den Fokus rĂŒckt. |
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 | Der Roman ''Der Platz der Gehenkten'' beginnt mit den Reisevorbereitungen JÀckis und Irmas. WÀhrend Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist JÀcki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen.  |  | Der Roman ''Der Platz der Gehenkten'' beginnt mit den Reisevorbereitungen JÀckis und Irmas. WÀhrend Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist JÀcki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen.  |
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â | Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten SĂ€tze des Romans ''Der Platz der Gehenkten'' sich auf den ersten Blick wie eine fĂŒr Fichte typische "Wirklichkeits-Schreibung" (Weinberg 1993, 126) lesen. Eine genauere Betrachtung des dritten Satzes "Ich hatte Irma zum Schlafwagen gebracht und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach Fez" ( | + | Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten SĂ€tze des Romans ''Der Platz der Gehenkten'' sich auf den ersten Blick wie eine fĂŒr Fichte typische "Wirklichkeits-Schreibung" (Weinberg 1993, 126) lesen. Eine genauere Betrachtung des dritten Satzes "Ich hatte Irma zum Schlafwagen gebracht und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach Fez" (PG 9). fĂŒhrt jedoch Inkongruenzen in das Geschehen ein: zum einen werden die Reisevorbereitungen mit anderen Zielen wiederholt, zum anderen bringt die narrative Instanz Irma zum Schlafwagen des Busses, obwohl "Busse dergleichen gewöhnlich nicht besitzen" (Weinberg 1993, 126).  |
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â | + | Weinberg zufolge stöĂt die Traumdarstellung einen dreiteiligen reflexiven Prozess an, der den Lesenden ĂŒber die Relation zwischen Traum und Wirklichkeit nachdenken lĂ€sst. So lese man in einem ersten Schritt SĂ€tze ĂŒber Irma, die eine scheinbar wirkliche Situation einer Reisevorbereitung beschreiben. Das Irritationsmoment des Schlafwagens im Nachtbus lasse dann die Situation als Traumdarstellung erscheinen. Man sei reflexiv nun nicht mehr davon ĂŒberzeugt, dass die SĂ€tze ĂŒber Irma und die Reisevorbereitungen eine Beschreibung der Wirklichkeit sind, sondern glaube, dass sie zum Traumgeschehen gehören. In einem reflexiven dritten Schritt kehre man zwar zur Anfangsthese zurĂŒck, dass es sich bei den SĂ€tzen um Beschreibungen einer wirklichen Situation handelt, denke aber nun grundlegend ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Traum und Wirklichkeit nach. | |
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â | + | Selbst wenn man jedoch nicht davon ĂŒberzeugt ist, dass die von Weinberg beschriebene Irritation schon eindeutig fĂŒr die Traumhaftigkeit des geschilderten Geschehens spricht, lassen sich einige Zeilen spĂ€ter mit dem Satz "Es folgen trĂŒbe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum, Ungereimtheiten, Schnitte" (PG 9) die vorangegangenen Ereignisse als ĂŒberraschende Traumauflösungen im Sinne Stefanie Kreuzers verstehen (Kreuzer 2014, 225). FĂŒr Kreuzer lassen sich markierte Traumdarstellungen â um die es sich hier durch die Thematisierung des Traums handelt â in zwei Kategorien unterteilen: (1) ErzĂ€hlungen, in denen Traumdarstellungen von vorneherein diegetisch von der Wachwelt unterschieden sind. Die Voraussetzung fĂŒr diese Art der Traumdarstellung setzt eine klare und bereits vorangegangenes Etablierung der Wachwelt und ein Wissen ĂŒber diese voraus. (2) Eine zweite Kategorie fasst Traumdarstellungen, die erst retrospektiv als solche zu erkennen sind. FĂŒr Kreuzer sind solche Texte "rezeptionsĂ€sthetisch immer mit einer Umdeutung der Diegese oder auch einer ĂŒberraschenden Traum(auf)lösung verbunden" (Kreuzer 2014, 225). Die Schilderungen Fichtes in ''Der Platz der Gehenkten'', die sich erst als tatsĂ€chliche Schilderung der Ereignisse lesen lassen, können demnach als eine durch solche ĂŒberraschende Traum(auf)lösung geprĂ€gte Traumdarstellung verstanden werden, die durchaus in Relation zur Wachwelt steht, da sie Tagesreste der Wachwirklichkeit verarbeitet. | |
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â | FĂŒr Torsten Teichert, der zwar nicht an der Traumhaftigkeit der Schilderungen zweifelt, aber diese nicht in den Fokus seiner Betrachtungen rĂŒckt, trifft der Romananfang | + | FĂŒr Torsten Teichert, der zwar nicht an der Traumhaftigkeit der Schilderungen zweifelt, aber diese nicht in den Fokus seiner Betrachtungen rĂŒckt, trifft der Romananfang eine poetologische Aussage ĂŒber Bauplan des gesamten Romans. So beginne der Text zwar mit der Schilderung eines Traums, in die ein weiterer Traum verschachtelt wird. Wichtig ist fĂŒr Teichert dabei aber nicht das Spezifikum der onirischen Darstellung, sondern die Wirkung der verschachtelte Traumdarstellung: "völlige IdentitĂ€tsverwirrung" (Teichert 1987, 304). Ob es sich bei der Traumdarstellung um eine getrĂ€umte Erinnerung oder einen erinnerten Traum handelt, will Teichert nicht festlegen. Es gilt fĂŒr ihn jedoch, dass die IdentitĂ€t des Ichs dadurch, dass der Roman mit einem Traum beginnt, "schon auf der ersten Seite [...] infrage gestellt" (Teichert 1987, 304) wird.  |
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â | + | In diesem Artikel soll gegen Teichert dafĂŒr argumentiert werden, dass nicht die IdentitĂ€t der narrativen Instanz infrage gestellt, sondern ein selbstreflexives Moment in den Text einfĂŒhrt und die Relation verschiedener TrĂ€ume aufeinander thematisiert wird. Weitaus nĂ€her an dieser Ăberlegung zur SelbstreflexivitĂ€t des Textes ist Teichert, wenn er sich fragt: "Redet Fichte hier nur von einem Traum? Nicht in Wahrheit von dem Bauplan des Romans, den wir durchschreiten, indem wir die trĂŒben Stellen und LeerflĂ€chen, die Schnitte und abrupten Wechsel mitlesen?" (Teichert 1987, 304). Es wird gezeigt werden, dass die Schreibsituation in ''Der Platz der Gehenkten'' keine der absoluten IdentitĂ€tsverwirrung ist, sondern eine komplexe Vermischung tagespolitischer Themen, Erinnerungen und Ăngste der narrativen Instanz. | |
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â |  | + | Im weiteren Verlauf der Traumdarstellung verbinden sich mehrere ErzĂ€hlebenen und Erinnerungen. Die narrative Instanz trĂ€umt davon, dass sie in einem CafĂ© im Flughafen sitzt und der Kellner sie nach dem Studentenausweis fragt. Als sich das trĂ€umende Ich weigert, den Ausweis vorzuzeigen, gesellt sich ein Geheimpolizist dazu, der erneut dazu auffordert, sich auszuweisen: |
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 | : Otto Habermann brachte mich mit Richard zum Flugplatz. |  | : Otto Habermann brachte mich mit Richard zum Flugplatz. |
Version vom 3. Juni 2023, 07:12 Uhr
Als sechster Band der Geschichte der Empfindlichkeit ist Der Platz der Gehenkten (1989) das letzte Buch, das Hubert Fichte (1935-1986) kurz vor seinem Tod im MĂ€rz 1986 druckfertig abgeschlossen hat. In ihm ist der Ich-ErzĂ€hler JĂ€cki das erste Mal seit lĂ€ngerer Zeit ohne seine Begleiterin Irma unterwegs. WĂ€hrend JĂ€cki nach Marrakesch fĂ€hrt, will Irma mit einem Flugzeug der Linie Royal Air Maroc von Agadir nach Paris und von da aus nach Hamburg reisen. Als JĂ€cki in Marrakesch in der Zeitung davon liest, dass ebendieses Flugzeug abgestĂŒrzt ist, befĂŒrchtet er, dass auch Irma dabei ums Leben gekommen sei. Die daraus entstehenden TrĂ€ume und AlbtrĂ€ume durchziehen den gesamten Roman und thematisieren die Erinnerung, das Schreiben und die soziopolitische Situation.
Informationen zu Autor und Werk
Hubert Fichte wurde am 21. MĂ€rz 1935 in Perleberg geboren. Seinen Vater, der als Jude nach Schweden emigrierte, um vor den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten sicher zu sein, lernt er nie kennen. Von seiner Mutter Dora mit Hilfe ihrer GroĂeltern in Lokstedt groĂgezogen, verbringt Fichte als Kind ein Jahr (1942/43) im Waisenhaus der Stadt Schrobenhausen. Bereits in seiner Jugend ist Fichte als Kinderdarsteller aktiv. 1949 lernt der damals vierzehnjĂ€hrige den Hamburger Schriftsteller Hans Henny Jahnn (1894-1959) kennen. Ein Jahr danach trifft er die Fotografin Leonore Mau (1916-2013). Nach einer Landwirtschaftslehre in Holstein verbringt Fichte ein Jahr in einem Heim fĂŒr schwererziehbare Kinder in JĂ€rna, Schweden. Durch einen Aufenthalt in Frankreich, lernt er den Maler Serge Fioro kennen, mit dem er einige Zeit zusammenlebt. Ab 1962 arbeitet er als freier Schriftsteller und zieht 1963 mit Leonore Mau in eine Wohngemeinschaft nach Othmarschen. Im Jahr 1968 erscheint Fichtes Roman Die Palette. In den folgenden Jahren reisen Fichte und Mau zum Studium der afrobrasilianischen Religionen nach Bahia des Todos os Santos und nach Haiti, um den Vadou zu studieren. Die kommenden Jahrzehnte sind von weiteren ethnologischen Forschungsreisen bestimmt, die Fichte zum Material fĂŒr seine BĂŒcher werden. Als unheimlich produktiver Autor war er nicht nur als Verfasser von BĂŒchern und Artikeln fĂŒr Zeitschriften und Zeitungen tĂ€tig; er zeichnet auch als Radioautor (in Kooperation mit Peter Michael Ladiges) fĂŒr die Texte einer Vielzahl von Hörspielen und Features verantwortlich.
Hubert Fichte stirbt am 8. MĂ€rz 1986 im Alter von 51 Jahren im Hafenkrankenhaus in Hamburg an den Folgen einer AIDS-Erkrankung.
Zur Form des Romans
Das formale Programm des Platz der Gehenkten wird von Fichte zu Anfang des Romans transparent gemacht:
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Der Roman ist in seinem formalen Aufbau somit eine Gegenthese zum "Gesetz der schrumpfenden Glieder" des Korans. Dass sich dieses Anschreiben gegen den Koran auch auf inhaltlicher Ebene wiederfinden lÀsst, soll nicht Teil dieses Artikels sein, lÀsst sich aber im gesamten Text belegen.[1]
FĂŒr Teichert kann Der Platz der Gehenkten als "Höhepunkt jener kompositorischer Prinzipien" (Teichert 1987, 277) gesehen werden, die Fichte in frĂŒheren Werken bereits entwickelt und erprobt hat. Dass es sich dabei um musikalische und kompositorische Prinzipien handeln könnte, legt er in seinen weiteren AusfĂŒhrungen zwar nahe, fĂŒhrt es aber nicht weiter aus. Der Der Platz der Gehenkten weist zwar eine ganz eindeutige Form auf, orientiert sich jedoch weniger an den von Teichert nur vage angedeuteten kompositorischen Prinzipien, sondern stĂ€rker an der Suren-Struktur des Korans, als dessen formale Antithese sich der Roman versteht.
Dieser Lesart entspricht auch die Anmerkung der Herausgeberin des Romans Gisela Lindemann, wenn sie schreibt, dass der Roman "mit deren [###] zentraler literarischer Manifestation: dem Koran" (PG 21) korrespondiere. Die Ăbersetzung des Koran aus der französischen PlĂ©iade-Ausgabe wird in der oben zitierten Passage von der narrativen Instanz dabei zum Anlass genommen, nicht nur ĂŒber dessen VerhĂ€ltnis zur Bibel nachzudenken, sondern auch die formale Struktur des Korans in den Fokus zu rĂŒcken. Aus der Einsicht, dass die Texte, aus denen der Koran besteht, von Sure zu Sure kĂŒrzer werden, entwickelt Fichte das Strukturprinzip seines eigenen Romans, der aus Texten besteht, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen: "Ich möchte das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (PG 13). Mit einem Verweis auf einem Dr. Bahlmann, erwĂ€hnt er zudem, dass "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) sei. ES wird sich zeigen, dass dieses poetische Prinzip der Wiederholung im Rahmen eines FĂŒnfzeilers sowohl im Roman als auch in einer Traumdarstellung als strukturierendes Element auftaucht.
Traumdarstellungen in Der Platz der Gehenkten
IntensitÀten des Traumhaften: Markierte TrÀume
Um die Traumdarstellungen in Der Platz der Gehenkten klassifizieren zu können, wird auf eine von Stefanie Kreuzer entwickelte Traumtypologie zurĂŒckgegriffen, welche Traumdarstellungen nach ihrer Markiertheit sortiert. Kreuzer arbeitet drei verschiedene Darstellungsarten heraus, die sie wertfrei als Intensivierungen des traumhaften ErzĂ€hlens und damit als "Wegfall jeglicher Markierung des Traumzustandes" (Kreuzer 2014, 90) versteht. (1) Markierte Traumdarstellungen bilden den eindeutigsten Fall traumhaften ErzĂ€hlens, da hier die Abgrenzung verschiedener diegetischer Ebenen der Wach- und Traumwelt textlich klar kommuniziert wird. Im Rahmen dieses Artikels interessiert nur diese erste IntensitĂ€t onirischen ErzĂ€hlens.
(2) Durch "unsichere Grenzen" sind Traumdarstellungen charakterisiert, bei denen sich keine eindeutige UnterschiedungGrenzen zwischen Traumdarstellung und Wachwirklichkeit treffen lÀsst und eine klare Trennung und Hierarchisierung verschiedener diegetischer Ebenen unmöglich ist. Um Texte als Darstellungen dieser Art klassifizieren zu können, arbeitet Kreuzer Merkmale des Onirischen heraus, die zur Interpretation herangezogen werden können.
(3) Der Wegfall jeglicher onirischer Markierung charakterisiert die höchste IntensitÀt des Traumhaften, die Kreuzer als unmarkierte, autonome Traumdarstellungen bezeichnet. Um solche Arten der Traumdarstellungen von einer "im eigentlichen Sinne zu verstehenden antimimetischen Darstellungsweise und einer uneigentlich-parabolischen" Lesart (Kreuzer 2014, 91), bedarf es weiterer Merkmale des Onirischen.
Markierte Traumdarstellungen in Der Platz der Gehenkten
Flughafentraum vom vertauschten Pass
Fichtes Roman beginnt mit einer mehrseitigen komplexen Traumdarstellung, die sich erst nachtrĂ€glich als markiert klassifizieren lĂ€sst. Der Ich-ErzĂ€hler vermischt dabei Tagesreste mit seinen Ăngsten, WĂŒnschen und den Erinnerungen an andere vor einigen Tagen getrĂ€umte TrĂ€ume. Die Traumdarstellung lĂ€sst sich in drei thematische Teile gliedern, fĂŒr die sich unterschiedliche Aspekte des im Traum Verhandelten herausarbeiten lassen: (a) ein erster Teil thematisiert die Reisevorbereitungen nach Marakech, auf den mit (b) der Traum einer Passkontrolle am Flughafen folgt. Der dritte Teil (c) ist ein Intertext zu einem frĂŒheren Romane Fichtes, der die werkĂŒbergreifende Spezifik des Traums als Teil der Fichteschen Poetologie in den Fokus rĂŒckt.
Reisevorbereitungen
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Der Roman Der Platz der Gehenkten beginnt mit den Reisevorbereitungen JĂ€ckis und Irmas. WĂ€hrend Irma den Nachtbus nach Fez nimmt, ist JĂ€cki das erste Mal seit langem allein und bereitet seine Reise nach Marrakesch vor. Dass es sich bei diesen Zeilen um eine Traumdarstellung handelt, ist auf den ersten Blick nicht direkt ersichtlich, da Fichte Dinge beschreibt, die, wenngleich protokollartig, nicht an der Wirklichkeit der dargestellten Sachverhalte zweifeln lassen.
Auch Manfred Weinberg verweist darauf, dass die ersten SĂ€tze des Romans Der Platz der Gehenkten sich auf den ersten Blick wie eine fĂŒr Fichte typische "Wirklichkeits-Schreibung" (Weinberg 1993, 126) lesen. Eine genauere Betrachtung des dritten Satzes "Ich hatte Irma zum Schlafwagen gebracht und bereitete meine Reise nach Meknes vor, nach Rabat, nach Fez" (PG 9). fĂŒhrt jedoch Inkongruenzen in das Geschehen ein: zum einen werden die Reisevorbereitungen mit anderen Zielen wiederholt, zum anderen bringt die narrative Instanz Irma zum Schlafwagen des Busses, obwohl "Busse dergleichen gewöhnlich nicht besitzen" (Weinberg 1993, 126).
Weinberg zufolge stöĂt die Traumdarstellung einen dreiteiligen reflexiven Prozess an, der den Lesenden ĂŒber die Relation zwischen Traum und Wirklichkeit nachdenken lĂ€sst. So lese man in einem ersten Schritt SĂ€tze ĂŒber Irma, die eine scheinbar wirkliche Situation einer Reisevorbereitung beschreiben. Das Irritationsmoment des Schlafwagens im Nachtbus lasse dann die Situation als Traumdarstellung erscheinen. Man sei reflexiv nun nicht mehr davon ĂŒberzeugt, dass die SĂ€tze ĂŒber Irma und die Reisevorbereitungen eine Beschreibung der Wirklichkeit sind, sondern glaube, dass sie zum Traumgeschehen gehören. In einem reflexiven dritten Schritt kehre man zwar zur Anfangsthese zurĂŒck, dass es sich bei den SĂ€tzen um Beschreibungen einer wirklichen Situation handelt, denke aber nun grundlegend ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Traum und Wirklichkeit nach.
Selbst wenn man jedoch nicht davon ĂŒberzeugt ist, dass die von Weinberg beschriebene Irritation schon eindeutig fĂŒr die Traumhaftigkeit des geschilderten Geschehens spricht, lassen sich einige Zeilen spĂ€ter mit dem Satz "Es folgen trĂŒbe Stellen in der Erinnerung an meinen Traum, Ungereimtheiten, Schnitte" (PG 9) die vorangegangenen Ereignisse als ĂŒberraschende Traumauflösungen im Sinne Stefanie Kreuzers verstehen (Kreuzer 2014, 225). FĂŒr Kreuzer lassen sich markierte Traumdarstellungen â um die es sich hier durch die Thematisierung des Traums handelt â in zwei Kategorien unterteilen: (1) ErzĂ€hlungen, in denen Traumdarstellungen von vorneherein diegetisch von der Wachwelt unterschieden sind. Die Voraussetzung fĂŒr diese Art der Traumdarstellung setzt eine klare und bereits vorangegangenes Etablierung der Wachwelt und ein Wissen ĂŒber diese voraus. (2) Eine zweite Kategorie fasst Traumdarstellungen, die erst retrospektiv als solche zu erkennen sind. FĂŒr Kreuzer sind solche Texte "rezeptionsĂ€sthetisch immer mit einer Umdeutung der Diegese oder auch einer ĂŒberraschenden Traum(auf)lösung verbunden" (Kreuzer 2014, 225). Die Schilderungen Fichtes in Der Platz der Gehenkten, die sich erst als tatsĂ€chliche Schilderung der Ereignisse lesen lassen, können demnach als eine durch solche ĂŒberraschende Traum(auf)lösung geprĂ€gte Traumdarstellung verstanden werden, die durchaus in Relation zur Wachwelt steht, da sie Tagesreste der Wachwirklichkeit verarbeitet.
FĂŒr Torsten Teichert, der zwar nicht an der Traumhaftigkeit der Schilderungen zweifelt, aber diese nicht in den Fokus seiner Betrachtungen rĂŒckt, trifft der Romananfang eine poetologische Aussage ĂŒber Bauplan des gesamten Romans. So beginne der Text zwar mit der Schilderung eines Traums, in die ein weiterer Traum verschachtelt wird. Wichtig ist fĂŒr Teichert dabei aber nicht das Spezifikum der onirischen Darstellung, sondern die Wirkung der verschachtelte Traumdarstellung: "völlige IdentitĂ€tsverwirrung" (Teichert 1987, 304). Ob es sich bei der Traumdarstellung um eine getrĂ€umte Erinnerung oder einen erinnerten Traum handelt, will Teichert nicht festlegen. Es gilt fĂŒr ihn jedoch, dass die IdentitĂ€t des Ichs dadurch, dass der Roman mit einem Traum beginnt, "schon auf der ersten Seite [...] infrage gestellt" (Teichert 1987, 304) wird.
In diesem Artikel soll gegen Teichert dafĂŒr argumentiert werden, dass nicht die IdentitĂ€t der narrativen Instanz infrage gestellt, sondern ein selbstreflexives Moment in den Text einfĂŒhrt und die Relation verschiedener TrĂ€ume aufeinander thematisiert wird. Weitaus nĂ€her an dieser Ăberlegung zur SelbstreflexivitĂ€t des Textes ist Teichert, wenn er sich fragt: "Redet Fichte hier nur von einem Traum? Nicht in Wahrheit von dem Bauplan des Romans, den wir durchschreiten, indem wir die trĂŒben Stellen und LeerflĂ€chen, die Schnitte und abrupten Wechsel mitlesen?" (Teichert 1987, 304). Es wird gezeigt werden, dass die Schreibsituation in Der Platz der Gehenkten keine der absoluten IdentitĂ€tsverwirrung ist, sondern eine komplexe Vermischung tagespolitischer Themen, Erinnerungen und Ăngste der narrativen Instanz.
Der vertauschte Pass
Im weiteren Verlauf der Traumdarstellung verbinden sich mehrere ErzÀhlebenen und Erinnerungen. Die narrative Instanz trÀumt davon, dass sie in einem Café im Flughafen sitzt und der Kellner sie nach dem Studentenausweis fragt. Als sich das trÀumende Ich weigert, den Ausweis vorzuzeigen, gesellt sich ein Geheimpolizist dazu, der erneut dazu auffordert, sich auszuweisen:
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Eine genauere Betrachtung der zitierten Textstelle zeigt, dass sich hier im Rahmen der ErzĂ€hlung des Traumgeschehens zwei TrĂ€ume ineinanderschieben. So wird das Traumgeschehen der Passkontrolle am Flughafen mit einem anderen Traum, in dem das trĂ€umende Ich mit Uwe in einer Pension war, im Modus der Erinnerung verknĂŒpft. In diesem anderen Traum in der Pension vertauscht ein Rezeptionist die PĂ€sse Uwes und des ErzĂ€hlers; ein Umstand, der sich nun auf den Traum der Passkontrolle im Flughafen auswirkt. Einer onirischen Logik, die formale und inhaltliche BrĂŒche im Handlungsgeschehen zulĂ€sst und mit der man Ungereimtheiten â wie den vertauschten Pass â mit Rekurs auf eine allgemeine Traumlogik erklĂ€ren könnte, wird im Traum eine rationalistische ErklĂ€rung entgegengehalten, die den Umstand mit Rekurs auf das Geschehen eines anderen Traums zu erklĂ€ren versucht.
Teicherts Interpretation, dass sich im Traumgeschehen eine "völlige IdentitĂ€tsverwirrung" in deren Rahmen die "IdentitĂ€t des Ichs infrage gestellt" wird, von der oben schon die Rede war, muss daher widersprochen werden. So argumentiert Teichert weiterhin dafĂŒr, dass der Schreibvorgang des Romans allgemein als Erinnerungsvorgang verstanden werden kann, der in sich das Risiko birgt "sich doppelt zu sehen als der, der schreibt, und der, der aus der Vergangenheit mit den Wörtern hochgeholt wird" (Teichert 1987, 306). Dieser RĂŒckgriff auf Vergangenes als Reservoir fĂŒr das ErzĂ€hlen (den man durchaus als allgemeine Spezifik des ErzĂ€hlens verstehen kann, vgl. Weber 1998, 24: "ErzĂ€hlen gilt immer Nichtaktuellem.") offenbart fĂŒr Teichert jedoch ein "doppeltes Wagnis" (Teichert 1987, 306), da das gegenwĂ€rtig schreibende Ich dadurch "von der IdentitĂ€t aus alter Erinnerung und von der Wirklichkeit, die mit dem GedĂ€chtnis zur Sprache gebracht werden soll" (Teichert 1987, 306) attackiert wird. Der Schreibvorgang als Erinnerungsvorgang ist damit nicht nur ein Prozess, der das Ich wie bei Wordsworth in ein erinnerndes Ich und ein erinnertes Ich spaltet. Es ist gleichzeitig auch ein gewaltsamer Aufspaltungs- und Verdopplungsvorgang, der Gefahr lĂ€uft, das Auseinanderfallen des Verfasser-Subjekts zu riskieren (vgl. Teichert 1987, 306).
Erinnerung versteht Wordsworth in seinem Text Poem Titel not yet fixed upon by William Wordsworth Addressed to S.T. Coleridge, das in der Forschung unter dem eingĂ€ngigeren, aber posthumen Titel Prelude bekannt ist, als reflexiven Vorgang, d.h. als eine temporalisierte Selbstbeobachtung oder Selbstspaltung und Selbstverdoppelung. Das Ich spaltet sich in und doppelt sich als erinnerndes Ich und erinnertes Ich, die durch die zeitliche Differenz qualitativ voneinander getrennt sind. Der Erinnerungsvorgang ist damit auch immer eine VergegenwĂ€rtigung des Abstands zum Vergangenen und Ă€uĂert sich als damit als grundlegende AlteritĂ€tserfahrung. Diese wird als "Wunde der Zeit" (Assmann 2018, 101) wahrgenommen, die darauf verweist, dass das tatsĂ€chliche Erfahrungsdatum in seiner erinnerten Form nur ein schwacher Abglanz der tatsĂ€chlichen Erfahrung ist (vgl. Assmann 2018, 102).
Thematisieren die im Platz der Gehenkten vorhandenen Traumdarstellungen zwar durchaus ebendiese Trennung in erinnerndes und erinnertes Ich, so ist die von Teichert behauptete IdentitĂ€tsverwirrung zu keinem Zeitpunkt offensichtlich, da selbst das trĂ€umende Ich weiĂ, dass es Uwes Pass und damit nicht den eigenen besitzt. Die Verwirrung tritt dabei erst ein, wenn sich das, inzwischen erwachte Ich, daran erinnern will, welche der erinnerten Erlebnisse Teil des Traums waren und welche nicht:
Vielmehr verweist die Passkontrolle am Flughafen im Flughaften-Traum auf das sich verĂ€ndernde politische Klima in Marokko hin, das sich in den 70er- und 80er-Jahren einer starken Re-Islamisierung ausgesetzt sah. So versuchte der damalige König Hassan II. die monarchiekritische Linke dadurch zu bekĂ€mpfen, dass er die konservativen KrĂ€fte im Land stĂ€rkte. Das hatte zur Folge, dass der saudi-arabische Wahhabismus[2] â eine traditionalistische Strömung innerhalb des Sunnitentums â wieder in Marokko FuĂ fassen konnte und sich eine konservative Interpretation des Korans an Schulen und UniversitĂ€ten etablierte. Im obigen Traum der Passkontrolle kondensiert sich dabei die neue Skepsis der marokkanischen Behörden vor westlichen AuslĂ€ndern, die an anderen Stellen im Text in nicht-onirischen Darstellungen weiter ausgefĂŒhrt wird. Der Koran, gegen den Der Platz der Gehenkten, wie bereits erwĂ€hnt, nicht nur formal, sondern auch inhaltlich anschreibt wird im Roman zum Symbol fĂŒr den RĂŒckfall des Landes in konservativ-traditionalistische Denkmuster. Dass der westliche Einfluss (und sexuelle Liberalismus) durch die Re-etablierung konservativer Koran-Auslegungen jedoch nicht verschwindet, sondern von nun an wieder im Geheimen praktiziert wird, darauf verweist unter anderem folgende Textstelle:
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Intertextuelle BezĂŒge
Als Ver- und Neubearbeitung von Textresten gestaltet sich die Szene am Flughafen aber ebenfalls als fast wörtliches Zitat eines anderen Romans Fichtes: Detlevs Imitationen "GrĂŒnspan". Auf diesen Umstand weist auch Manfred Weinberg hin, wenn er sagt, dass der Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden." sich nicht auf Der Platz der Gehenkten sondern auf Detlevs Imitationen "GrĂŒnspan" bezieht (Weinberg 1993, 127). Zum Vergleich sei daher die entsprechende Textstelle aus Detlevs Imitationen "GrĂŒnspan" zitiert:
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Nicht nur findet sich mit dem Flughafentraum ein Intertext auf einen anderen Roman Fichtes, der der den Satz "Mit diesem Traum sollte der Roman enden" erst verstĂ€ndlich macht. Auch die Figur des Otto Habermann alias Cartacalo/la taucht in mehrere Texten Fichtes (wie der Palette und dem Roman Alte Welt) auf und verbindet diese so miteinander. Die Traumdarstellung ist damit nicht nur eine Verarbeitung von Tagesresten und eine Thematisierung soziopolitischer VerĂ€nderungen, sondern kann ebenso als Verarbeitung und erneute Thematisierung von Textresten verstanden werden. So thematisiert der letzte Teil der Traumdarstellung den Umstand, dass das Flugzeug, mit dem Irma nach Hamburg fliegen wollte, abstĂŒrzt. JĂ€cki, dessen letze Kommunikation mit Irma ein Brief war, in dem sie ihn von ihrer geplanten Reise, fĂŒrchtet nun, dass Irma bei dem Absturz ums Leben gekommen ist. Eine Angst, die als Tagesrest auch Eingang in seine TrĂ€ume findet:
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Ein nur kurzer Einblick in die komplexe mehrseitige Traumdarstellung, die den Roman einleitet, zeigt bereits anschaulich, dass sich in ihr alle die Themen kondensieren, die im folgenden Text der Wachwirklichkeit detaillierter entfaltet werden: die soziopolitische VerÀnderung Marokkos und das damit einhergehende Erstarken konservativ-religiöser KrÀfte, sowie die Angst JÀckis, dass Irma beim Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist.
Aufwachen. Zwischen Traum und Traum
Die zweite markierte Traumdarstellung, die hier betrachtet werden soll, nimmt einen fĂŒnfzeiligen Text in den Fokus, der an mehreren Stellen im Romantext auftaucht und diesen durch die ritualhafte Wiederholung strukturiert. Versteht man den Roman in seiner Form und auch inhaltlich als Gegenbewegung zum Koran, lĂ€sst sich der fĂŒnfzeilige Text als Gegen-Ritual verstehen, das in sich die Gefahr birgt, das zu reproduzieren, gegen das es anschreibt. Ăber den gesamten Romantext verteilt, und diesen durch die Wiederholung strukturierend, findet sich der FĂŒnfzeiler:
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Geht man auch hier von Weinbergs These aus, dass Fichtes protokollartige SĂ€tze, eine Wirklichkeitsschreibung sind, so mag es naheliegen auch hier den Sachverhalt folgendermaĂen zu rekonstruieren: der Ich-ErzĂ€hler befindet sich in Marokko und hört nach dem Erwachen â ein Zustand, der als "Zwischen Traum und Traum" charakterisiert wird â das as-salÄt der Muezzine. Dieses Gotteswort ist jedoch sauer, weil es als Ausdruck des etablierten religiöse Fundamentalismus verstanden wird. Will Der Platz der Gehenkten auf der formalen Ebene "das Gesetz der schrumpfenden Glieder durch das Gesetz der wachsenden Glieder ausgleichen" (Fichte 1989b, 13), so kann auch der sich wiederholende fĂŒnfzeilige Text als eine Art Gegen-Ritual zum ritualhaft wiederholten morgendlichen Gebet verstanden werden. Dem Gesang der Muezzine als an den Koran geknĂŒpftes Gebetsritual wird eine sĂ€kularisierte Form des Rituals als Teil eines gesamten gegen die wahhabitische Auslegung des Koran gerichteten Textes gegenĂŒbergestellt, der sich dabei jedoch derselben Strukturen religiöser Texte bedienen muss. Wenn also "die Wiederholung [...] das poetische Prinzip der Bibel" (Fichte 1989b, 13) ist, dann bedient sich Fichtes Text ebendieses poetischen Prinzips.
Das Leben doch ein Traum? Zirkeltraum?
Eine dritte Traumdarstellung thematisiert den Traum in seinem selbstreflexiven Gehalt und wie dieser im VerhĂ€ltnis zu Wirklichkeit, Zeitlichkeit und dem Schreibprozess an sich steht. Diese letzte Traumdarstellung, die in sich einen Satz des vorab besprochenen FĂŒnfzeilers wieder aufgreift, thematisiert grundlegend den Vorgang des Schreibens selbst. Einzelne SĂ€tze, die bereits vorher im Text in anderen Kontexten vorgekommen sind, werden hier zu einem neuen Ganzen zusammenmontiert, um allgemein ĂŒber das VerhĂ€ltnis von Textproduktion und Zeitlichkeit, Traum und Wirklichkeit nachzudenken:
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So thematisiert bereits die Eingangsfrage, wo und wie das eigene Schreiben nicht nur kulturell, sondern ebenfalls epistemologisch verortet werden kann. Wenn das Leben, wie mit dem Verweis auf Calderon de la Barcas Drama angedeutet, doch nur ein Traum ist, wĂŒrde damit auch das gesamte Schreiben zu einer TraumtĂ€tigkeit? Als grundlegende Frage ob und wie sich Traum und Wachwirklichkeit sich ĂŒberhaupt voneinander abgrenzen lassen, spielt der Zirkeltraum auf die Doppelbödigkeit des Eingangstraums an; und damit als Moment, an dem sich nicht nur Traum und Wirklichkeit, sondern auch Traum und Traum vermischen und nicht mehr trennscharf auseinandergehalten werden können. In der Auseinandersetzung mit der Frage der Zeitlichkeit wĂ€hrend des Aufschreibens und dem damit verbundenen Problem, dass das Schreiben der Erfahrung immer nachgelagert ist (wie auch der Traumbericht oder die Traumdarstellung erst nach dem Traum erfolgen kann)
Auf den Zwischenzustand nicht nur der Verortung wĂ€hrend des Schreibens, sondern auch als dritter Ort zwischen Traum und Wachwirklichkeit verweist die Figur des Zwitters, die hier mit Spiegelmetaphorik verknĂŒpft nicht nur die Verschachtelung des Eingangstraums thematisiert, sondern die SelbstreflexivitĂ€t des Textes an sich.
Im Wunsch zur Fata Morgana zu werden, vollzieht das schreibende Ich dabei einerseits den Versuch als Ich aus dem Text zu verschwinden und nÀhert damit den Text andererseits weiter an den Traum an. So ist der TrÀumende zwar derjenige, der die Traumerfahrung hat, nimmt sich aber nicht unmittelbar, mitunter nur verschwommen, als Autor des Traumes wahr.
Damit wird die in den ersten beiden markierten Traumdarstellungen klare Abgrenzbarkeit von Traum und Wachwirklichkeit, zugunsten einer Verwischung der Grenze nivelliert.
Fazit
Die hier vorgestellte kurze und notwendigerweise unvollstĂ€ndige Betrachtung nur eines der Werke Hubert Fichtes gibt nicht nur einen ersten Einblick in die spezifische Verwendung onirischer Darstellungen, sondern verweist darĂŒber hinaus auf die in den Text und die analysierten Traumdarstellungen eingeschriebene IntertextualitĂ€t. Dass es sich dabei lohnt, dem Geflecht der Fichte'schen Texte, dem intertextuellen FĂ€den- und Wurzelwerk, das möglicherweise die gesamte Geschichte der Empfindlichkeit durchwĂ€chst, nicht nur ganz allgemein, sondern ebenfalls im Hinblick auf die verwendeten onirischen Ausdrucksmittel zu folgen, dazu soll dieser Artikel einen ersten AnstoĂ liefern.
Literatur
Ausgaben
- Fichte, Hubert: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Bd. VI: Der Platz der Gehenkten. Hg. von Gisela Lindemann und Leonore Mau. Frankfurt/M.: Fischer 1989; zitiert als PG.
- Fichte, Hubert: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Bd. VI: Der Platz der Gehenkten. Hg. von Gisela Lindemann und Leonore Mau. Frankfurt/M.: Fischer 2006 [Taschenbuchausgabe].
Weitere PrimÀrliteratur
- Fichte, Hubert: Detlevs Imitationen "GrĂŒnspan". Roman. UngekĂŒrzte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer 1982.
- Fichte, Hubert: Die Palette [1968]. Roman. Frankfurt/M.: Fischer 2. Aufl. 2010.
Forschungsliteratur
- Assmann, Aleida: ErinnerungsrĂ€ume. Formen und Wandlungen des kulturellen GedĂ€chtnisses. MĂŒnchen: Beck 2018.
- Bandel, Jan-Frederik (Hg.): Tage des Lesens. Hubert Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit. Aachen: Rimbaud 2006.
- Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Ăbers. von Michael Bischoff. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2019.
- Beckermann, Thomas (Hg): Hubert Fichte. Materialien zu Leben und Werk. Frankfurt/M.: Fischer 1985.
- Böhme, Hartmut: Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart: Metzler 1992.
- Heinrichs, Hans-JĂŒrgen: Die Djemma el-Fna geht durch mich hindurch, oder, Wie sich Poesie, Ethnologie und Politik durchdringen. Hubert Fichte und sein Werk. Bielefeld: Pendragon 1991.
- Herrmann, Janina: Hubert Fichtes Roman Der Platz der Gehenkten als Platz der Lebenden. In: andererseits. Journal of Transaltlantic German Studies 2 (2011) 1, 159-169.
- Kreuzer, Stefanie: Traum und ErzÀhlen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
- Shirane, Haruo: Traces of Dreams. Landscape, Cultural Memory, and the Poetry of BashĆ. Stanford: Stanford UP 1998.
- Teichert, Torsten: Herzschlag aussen. Die poetische Konstruktion des Fremden und des Eigenen im Werk von Hubert Fichte. Frankfurt/M.: Fischer 1987.
- Weinberg, Manfred: Akut, Geschichte, Struktur. Hubert Fichtes Suche nach der verlorenen Sprache einer poetischen Welterfahrung. Bielefeld: Aisthesis 1993.
- Weinberg, Manfred: âFĂ€den, viele FĂ€denâ. Ungewisse Vermischungen in dem Roman Eine GlĂŒckliche Liebe von Hubert Fichte. In: Zeitschrift fĂŒr Interkulturelle Germanistik 12 (2021), 133â48; https://doi.org/10.14361/zig-2021-120111.
Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel: Kerber, Alexander: "Der Platz der Gehenkten" (Hubert Fichte). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2023; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Der_Platz_der_Gehenkten%22_(Hubert_Fichte). |
Anmerkungen
- â Nicht nur ĂŒbersetzt JĂ€cki den Koran aus der französischen PlĂ©iade-Ausgabe ins Deutsche und montiert einige der ĂŒbersetzten Suren in den Romantext. Der Koran als Symbol fĂŒr den aufkommenden religiösen Konservatismus Marokkos macht das Anschreiben gegen den Koran damit auch zu einem Anschreiben und Protest gegen die soziopolitischen VerĂ€nderungen Marokkos; vgl. zu den Koran-Ăbersetzungen GP 14, 46, 207, zum Koran als Symbol fĂŒr soziopolitische VerĂ€nderungen GP 66, 217 f. Mit den im Romantext verstreuten KoranĂŒbersetzungen setzt sich Hartmut Böhme intensiver auseinander (Böhme 1992).
- â Die AnhĂ€nger des Wahhabismus bezeichnen sich selber als Sunniten oder Salafis, weshalb Wahhabismus und Salafismus hĂ€ufig synonym verwendet werden