"Der Traum" (Friedrich Hebbel): Unterschied zwischen den Versionen

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Der deutsche Dramatiker Christian Friedrich Hebbel wird 1813 als Sohn eines Tagelöhners und Maurers in Wesselburen (Dithmarschen) geboren, das zu dieser Zeit noch unter dänischer Herrschaft stand. Er besucht die Volksschule und absolviert eine Maurerlehre. Nach dem Tod des Vaters 1827 ist Hebbel in Wesselburen zunächst als Laufbursche, später als Schreiber des Vogts beschäftigt und erhält Zugang zu dessen Bibliothek. Durch erste Veröffentlichungen in Zeitschriften (Gedichte und Kurzprosa) in den folgenden Jahren wird die Schriftstellerin Amalie Schoppe (1791-1858) auf ihn aufmerksam. Sie ermöglicht ihm, nach Hamburg umzusiedeln. Dank eines Stipendiums und durch die
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Der deutsche Dramatiker Christian Friedrich Hebbel wird 1813 als Sohn eines Tagelöhners und Maurers in Wesselburen (Dithmarschen) geboren, das zu dieser Zeit noch unter dänischer Herrschaft stand. Er besucht die Volksschule und absolviert eine Maurerlehre. Nach dem Tod des Vaters 1827 ist Hebbel in Wesselburen zunächst als Laufbursche, später als Schreiber des Vogts beschäftigt und erhält Zugang zu dessen Bibliothek. Durch erste Veröffentlichungen in Zeitschriften (Gedichte und Kurzprosa) in den folgenden Jahren wird die Schriftstellerin Amalie Schoppe (1791-1858) auf ihn aufmerksam. Sie ermöglicht ihm, nach Hamburg umzusiedeln. Dank eines Stipendiums und durch die finanzielle Unterstützung der Hamburger Näherin und Putzmacherin Elise Lensing kann Hebbel 1836 in Heidelberg studieren und sich bis 1839 in München autodidaktisch bilden. Elise Lensing wird auch seine Geliebte; aus der Beziehung gehen zwei uneheliche Söhne hervor. 1841 wird Hebbel mit der Veröffentlichung der Tragödie Judith einem größeren Publikum bekannt. 1842-1843 folgen Audienzen am Hof in Kopenhagen und ein Aufenthalt in Paris mit einem königlich-dänischen Reisestipendium. 1844-1846 reist Hebbel über Frankreich nach Italien und schließlich nach Wien. Dort heiratet er 1846 die Burgtheaterschauspielerin Christine Enghaus und gründet eine Familie. Die Ehe bringt Hebbel schließlich materielle Sicherheit und ermöglicht ihm den gesellschaftlichen Aufstieg. Bis zu seinem Tod 1863 lebt Hebbel in Wien und verfasst zahlreiche Dramen, u.a. ''Die Nibelungen'' (1861).
finanzielle Unterstützung der Hamburger Näherin und Putzmacherin Elise Lensing kann Hebbel 1836
 
in Heidelberg studieren und sich bis 1839 in München autodidaktisch bilden. Elise Lensing wird auch
 
seine Geliebte; aus der Beziehung gehen zwei uneheliche Söhne hervor. 1841 wird Hebbel mit der
 
Veröffentlichung der Tragödie Judith einem größeren Publikum bekannt. 1842-1843 folgen
 
Audienzen am Hof in Kopenhagen und ein Aufenthalt in Paris mit einem königlich-dänischen
 
Reisestipendium. 1844-1846 reist Hebbel über Frankreich nach Italien und schließlich nach Wien.
 
Dort heiratet er 1846 die Burgtheaterschauspielerin Christine Enghaus und gründet eine Familie. Die
 
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Aufstieg. Bis zu seinem Tod 1863 lebt Hebbel in Wien und verfasst zahlreiche Dramen, u.a. ''Die Nibelungen'' (1861).
 
  
 
==Entstehungs- und Druckgeschichte==
 
==Entstehungs- und Druckgeschichte==
''Der Traum'' wurde erstmals am 12. Februar 1829 im ''Ditmarser und Eiderstedter Boten'' anonym veröffentlicht. Sah die Forschung in dem Prosastück zunächst nur ein Vorbild für Hebbels Traumerzählung ''Holion'', so wurde es später Hebbel zugeschrieben und hat beispielsweise Eingang in die kritische Werkausgabe der 1960er-Jahre gefunden. Diese Entscheidung wird v.a. mit einem Aufsatz von Wolfgang Liepe begründet, der in ''Der Traum'' ein Frühwerk Hebbels zu erkennen glaubte(Liepe 1953). Da dessen Argumentation aber teilweise nicht schlüssig ist, bleibt die Autorschaft des Texts letztlich zweifelhaft.
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''Der Traum'' wurde erstmals am 12. Februar 1829 im ''Ditmarser und Eiderstedter Boten'' anonym veröffentlicht. Sah die Forschung in dem Prosastück zunächst nur ein Vorbild für Hebbels Traumerzählung ''Holion'', so wurde es später Hebbel zugeschrieben und hat beispielsweise Eingang in die kritische Werkausgabe der 1960er-Jahre gefunden. Diese Entscheidung wird v.a. mit einem Aufsatz von Wolfgang Liepe begründet, der in ''Der Traum'' ein Frühwerk Hebbels zu erkennen glaubte (Liepe 1953). Da dessen Argumentation aber teilweise nicht schlüssig ist, bleibt die Autorschaft des Texts letztlich zweifelhaft.
  
 
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''Der Traum'' beginnt unvermittelt mit einer nächtlichen Wanderung durch eine wie ausgestorben erscheinende Winterlandschaft, in der sich der namenlose Ich-Erzähler allmählich in einen Schneemann verwandelt: "Ich meine, ich sollte einen schwarzen Rock anhaben; ich wußte gewiß, er war schwarz gewesen, ja gewesen! – nun aber ganz übersilbert von Reif und Schnee!" (233). In Analogie zur Schneewüste und äußerlichen Vereisung gestaltet sich auch sein Inneres: "und in mir
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''Der Traum'' beginnt unvermittelt mit einer nächtlichen Wanderung durch eine wie ausgestorben erscheinende Winterlandschaft, in der sich der namenlose Ich-Erzähler allmählich in einen Schneemann verwandelt: "Ich meine, ich sollte einen schwarzen Rock anhaben; ich wußte gewiß, er war schwarz gewesen, ja gewesen! – nun aber ganz übersilbert von Reif und Schnee!" (233). In Analogie zur Schneewüste und äußerlichen Vereisung gestaltet sich auch sein Inneres: "und in mir alles so öde, so leer, die Glieder so kalt, das Herz erfroren, das Gehirn Eis" (233). Sucht der Erzähler zunächst noch nach anderem Leben, erkennt er bald: "Sie schlafen ja alle, alle Tiere, alle Menschen schlafen, die ganze Welt schläft, ist gestorben, ist erfroren. Sie wollte sich vor der Kälte schirmen unter der Schneedecke und hat sich in ihr Leichentuch gewickelt" (233). Der Schneemann resümiert: "alle meine Sehnsucht, meine Liebe, meine Sorge, alles was ich war, ist gewesen, gewesen, um nie wieder zu werden" (234), denn das "Dichten und Trachten war so eitel, mein Streben und Mühen so nichtig." (234). So erscheint ihm seine neue Gestalt letztlich als logische Konsequenz, da der Schneemann "nichts ist und in nichts zerfließt, wenn die Sonne aufgeht am Tage des Gerichts" (234). Als er schließlich auf der Flucht vor den Strahlen der aufgehenden Sonne zu schmelzen droht und zu den Toren seiner Heimatstadt eilt, weckt ihn seine Frau im nächtlichen Ehebett auf. Während des Schlafs war dem Erzähler die Decke herunter geglitten, die er nun nochmals über sich zieht. Bevor er wieder einschläft, resümiert er: "[D]as Leben ein Traum!" (235).
alles so öde, so leer, die Glieder so kalt, das Herz erfroren, das Gehirn Eis" (233). Sucht der Erzähler
 
zunächst noch nach anderem Leben, erkennt er bald: "Sie schlafen ja alle, alle Tiere, alle Menschen
 
schlafen, die ganze Welt schläft, ist gestorben, ist erfroren. Sie wollte sich vor der Kälte schirmen
 
unter der Schneedecke und hat sich in ihr Leichentuch gewickelt" (233). Der Schneemann resümiert:
 
"alle meine Sehnsucht, meine Liebe, meine Sorge, alles was ich war, ist gewesen, gewesen, um nie
 
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nichtig." (234). So erscheint ihm seine neue Gestalt letztlich als logische Konsequenz, da der
 
Schneemann "nichts ist und in nichts zerfließt, wenn die Sonne aufgeht am Tage des Gerichts" (234).
 
Als er schließlich auf der Flucht vor den Strahlen der aufgehenden Sonne zu schmelzen droht und zu
 
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===Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit===
 
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Da eine einleitende Rahmung mit Zubettgehen oder Einschlafen fehlt, erlaubt erst die Aufwachszene kurz vor Textschluss eine Deutung der vorangegangenen Handlung als Traum. Die Rezeptionssituation ähnelt somit der eines Träumenden: Wer träumt, weiß nicht, dass er träumt. Das Traumgeschehen ereignet sich, ohne skeptisch hinterfragt zu werden. "[I]ch bin nicht Ich, bin kein Mensch mehr, ich bin ein wandelnder Schneemann." (233). Die Plausibilität dieser Metamorphose zweifelt der Erzähler nicht an. Auch die Veränderung der Erzählperspektive bzw. der Fokalisierung unterstreicht die sich auflösende Identität des Erzählers: Mal überblickt er die gesamte Welt, mal
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Da eine einleitende Rahmung mit Zubettgehen oder Einschlafen fehlt, erlaubt erst die Aufwachszene kurz vor Textschluss eine Deutung der vorangegangenen Handlung als Traum. Die Rezeptionssituation ähnelt somit der eines Träumenden: Wer träumt, weiß nicht, dass er träumt. Das Traumgeschehen ereignet sich, ohne skeptisch hinterfragt zu werden. "[I]ch bin nicht Ich, bin kein Mensch mehr, ich bin ein wandelnder Schneemann." (233). Die Plausibilität dieser Metamorphose zweifelt der Erzähler nicht an. Auch die Veränderung der Erzählperspektive bzw. der Fokalisierung unterstreicht die sich auflösende Identität des Erzählers: Mal überblickt er die gesamte Welt, mal betrachtet er sich selbst in Außensicht und fürchtet sich vor der fremdartigen Gestalt: "Hu! mir graust vor dem Schneemann, der ja so wunderlich vor mir her tanzt. Ich bin ja selber dieser Schneemann, bin ja doch miterfroren mit der ganzen weiten Welt!" (234).
betrachtet er sich selbst in Außensicht und fürchtet sich vor der fremdartigen Gestalt: "Hu! mir
 
graust vor dem Schneemann, der ja so wunderlich vor mir her tanzt. Ich bin ja selber dieser
 
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Ein zentrales Motiv in ''Der Traum'' ist die mit Todesmotiven aufgeladene verblasste Metapher der Schneedecke, unter der die Toten "schlafen" (233): Der Schnee "hüllt" die Landschaft in ein "weites, weißes Gewand" (233) und wird mit seiner todbringenden Kälte zum "Leichentuch" (233) und "Totenkleid" (233). Retrospektiv wird Leben, Wärme, Farbigkeit, Bewegung und geschäftiges Treiben auf der einen Seite mit Tod, Kälte, Weiß, Erstarrung und Schlaf auf der anderen Seite kontrastiert. Die zu Beginn noch realistisch deutbare, scheinbar nur symbolisch aufgeladene Naturbeschreibung verweigert sich zunehmend einer uneigentlichen Lesart: "Was scharrt da mein Fuß aus dem Schnee! Ein Knochengerippe, vom Schnee gebleicht! Von einem Vogel nur, vom letzten Vogel vielleicht. Tritt leiser auf, wo ein Gerippe liegt, können mehr liegen. Für einen Vogel ist das Leichentuch zu groß und weit." Die Landschaft erscheint somit ebenso (alp-)traumhaft wie die Figur des Schneemanns.
Schneedecke, unter der die Toten "schlafen" (233): Der Schnee "hüllt" die Landschaft in ein "weites,
 
weißes Gewand" (233) und wird mit seiner todbringenden Kälte zum "Leichentuch" (233) und
 
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auf der einen Seite mit Tod, Kälte, Weiß, Erstarrung und Schlaf auf der anderen Seite kontrastiert. Die
 
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verweigert sich zunehmend einer uneigentlichen Lesart: "Was scharrt da mein Fuß aus dem Schnee!
 
Ein Knochengerippe, vom Schnee gebleicht! Von einem Vogel nur, vom letzten Vogel vielleicht. Tritt
 
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weit." Die Landschaft erscheint somit ebenso (alp-)traumhaft wie die Figur des Schneemanns.
 
  
 
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Anders als beispielsweise ''Des Greises Traum'' oder Hebbels autobiographische Traumberichte in seinen Tagebüchern wurde ''Der Traum'' von der Forschung kaum beachtet.Wolfgang Liepe vermutet in Der Traum zahlreiche intertextuelle Verweise, u.a. auf Schuberts [["Die Symbolik des Traumes" (Gotthilf Heinrich Schubert)|''Die Symbolik des Traumes'']] und seine Naturphilosophie, auf Tagebuchaufzeichnungen Hebbels und auf sein Gedicht ''Winterlandschaft'' (Liepe 1953). Seine Belege halten einer Überprüfung allerdings überwiegend nicht stand. Lediglich der Bezug auf das christliche Glaubenssystem mit der sündhaften Eitelkeit und den Tag des Jüngsten Gerichts sind gesichert. Er wird allerdings ebenso wie der Verweis auf den Tod als letzte Ruhe in ''Der Traum'' nicht weiter ausgestaltet. Auch die Sentenz vom Leben als Traum drückt in diesem Text nicht mehr aus als die Erleichterung über das Erwachen aus einem
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Anders als beispielsweise ''Des Greises Traum'' oder Hebbels autobiographische Traumberichte in seinen Tagebüchern wurde ''Der Traum'' von der Forschung kaum beachtet. Wolfgang Liepe vermutet in ''Der Traum'' zahlreiche intertextuelle Verweise, u.a. auf Schuberts [["Die Symbolik des Traumes" (Gotthilf Heinrich Schubert)|''Die Symbolik des Traumes'']] und seine Naturphilosophie, auf Tagebuchaufzeichnungen Hebbels und auf sein Gedicht ''Winterlandschaft'' (Liepe 1953). Seine Belege halten einer Überprüfung allerdings überwiegend nicht stand. Lediglich der Bezug auf das christliche Glaubenssystem mit der sündhaften Eitelkeit und den Tag des Jüngsten Gerichts sind gesichert. Er wird allerdings ebenso wie der Verweis auf den Tod als letzte Ruhe in ''Der Traum'' nicht weiter ausgestaltet. Auch die Sentenz vom Leben als Traum drückt in diesem Text nicht mehr aus als die Erleichterung über das Erwachen aus einem Alptraum.
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''Der Traum'' stellt letztlich einen Angsttraum in einer endzeitlich anmutenden Welt dar, die nicht genauer verortet werden kann. Diese Alptraumwelt erinnert an den Gottesacker in Jean Pauls ''Rede des toten Christus'', ist aber weit weniger dramatisch inszeniert und das Geschehen entfaltet nicht die theologische Aussagekraft des möglichen Vorbilds. In beiden Texten endet die Traumhandlung unmittelbar vor dem Jüngsten Gericht und das abrupte Erwachen in einem friedlichen Diesseits bringt somit Erleichterung. Die heruntergeglittene Decke und der ausgekühlte Körper des Träumenden bieten profane Auslöser für die verstörenden Traumgedanken und greifen die Metapher der Schneedecke ins Harmlose gewendet auf. Auch der Ausspruch "[D]as Leben ein Traum!" (235) ist eher beschwichtigend und ein Gemeinplatz, als dass auf Calderón verwiesen werden sollte.
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Die Seitenangaben der Zitate in diesem Artikel beziehen sich auf die unten stehende fünfbändige kritische Werkausgabe. In der für die Forschung nach wie vor maßgeblichen, von Richard Maria Werner besorgten historisch-kritischen Werkausgabe (1901–1907) ist ''Der Traum'' nicht enthalten.
Werner besorgten historisch-kritischen Werkausgabe (1901–1907) ist ''Der Traum'' nicht enthalten.
 
  
 
* Der Traum. In: Friedrich Hebbel: Werke. 5 Bde. Hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller u. Karl Pörnbacher. Bd. 3: Gedichte, Erzählungen, Theoretische Schriften. München: Hanser 1965, 233-235.
 
* Der Traum. In: Friedrich Hebbel: Werke. 5 Bde. Hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller u. Karl Pörnbacher. Bd. 3: Gedichte, Erzählungen, Theoretische Schriften. München: Hanser 1965, 233-235.
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Version vom 11. Dezember 2018, 18:58 Uhr

Die 1829 anonym veröffentlichte und Friedrich Hebbel zugeschriebene kurze Erzählung Der Traum schildert einen nächtlichen Alptraum, der als Todes- oder Endzeit- bzw. Jenseitsvision gedeutet werden kann.

Autor

Der deutsche Dramatiker Christian Friedrich Hebbel wird 1813 als Sohn eines Tagelöhners und Maurers in Wesselburen (Dithmarschen) geboren, das zu dieser Zeit noch unter dänischer Herrschaft stand. Er besucht die Volksschule und absolviert eine Maurerlehre. Nach dem Tod des Vaters 1827 ist Hebbel in Wesselburen zunächst als Laufbursche, später als Schreiber des Vogts beschäftigt und erhält Zugang zu dessen Bibliothek. Durch erste Veröffentlichungen in Zeitschriften (Gedichte und Kurzprosa) in den folgenden Jahren wird die Schriftstellerin Amalie Schoppe (1791-1858) auf ihn aufmerksam. Sie ermöglicht ihm, nach Hamburg umzusiedeln. Dank eines Stipendiums und durch die finanzielle Unterstützung der Hamburger Näherin und Putzmacherin Elise Lensing kann Hebbel 1836 in Heidelberg studieren und sich bis 1839 in München autodidaktisch bilden. Elise Lensing wird auch seine Geliebte; aus der Beziehung gehen zwei uneheliche Söhne hervor. 1841 wird Hebbel mit der Veröffentlichung der Tragödie Judith einem größeren Publikum bekannt. 1842-1843 folgen Audienzen am Hof in Kopenhagen und ein Aufenthalt in Paris mit einem königlich-dänischen Reisestipendium. 1844-1846 reist Hebbel über Frankreich nach Italien und schließlich nach Wien. Dort heiratet er 1846 die Burgtheaterschauspielerin Christine Enghaus und gründet eine Familie. Die Ehe bringt Hebbel schließlich materielle Sicherheit und ermöglicht ihm den gesellschaftlichen Aufstieg. Bis zu seinem Tod 1863 lebt Hebbel in Wien und verfasst zahlreiche Dramen, u.a. Die Nibelungen (1861).

Entstehungs- und Druckgeschichte

Der Traum wurde erstmals am 12. Februar 1829 im Ditmarser und Eiderstedter Boten anonym veröffentlicht. Sah die Forschung in dem Prosastück zunächst nur ein Vorbild für Hebbels Traumerzählung Holion, so wurde es später Hebbel zugeschrieben und hat beispielsweise Eingang in die kritische Werkausgabe der 1960er-Jahre gefunden. Diese Entscheidung wird v.a. mit einem Aufsatz von Wolfgang Liepe begründet, der in Der Traum ein Frühwerk Hebbels zu erkennen glaubte (Liepe 1953). Da dessen Argumentation aber teilweise nicht schlüssig ist, bleibt die Autorschaft des Texts letztlich zweifelhaft.

Der Traum

Beschreibung

Der Traum beginnt unvermittelt mit einer nächtlichen Wanderung durch eine wie ausgestorben erscheinende Winterlandschaft, in der sich der namenlose Ich-Erzähler allmählich in einen Schneemann verwandelt: "Ich meine, ich sollte einen schwarzen Rock anhaben; ich wußte gewiß, er war schwarz gewesen, ja gewesen! – nun aber ganz übersilbert von Reif und Schnee!" (233). In Analogie zur Schneewüste und äußerlichen Vereisung gestaltet sich auch sein Inneres: "und in mir alles so öde, so leer, die Glieder so kalt, das Herz erfroren, das Gehirn Eis" (233). Sucht der Erzähler zunächst noch nach anderem Leben, erkennt er bald: "Sie schlafen ja alle, alle Tiere, alle Menschen schlafen, die ganze Welt schläft, ist gestorben, ist erfroren. Sie wollte sich vor der Kälte schirmen unter der Schneedecke und hat sich in ihr Leichentuch gewickelt" (233). Der Schneemann resümiert: "alle meine Sehnsucht, meine Liebe, meine Sorge, alles was ich war, ist gewesen, gewesen, um nie wieder zu werden" (234), denn das "Dichten und Trachten war so eitel, mein Streben und Mühen so nichtig." (234). So erscheint ihm seine neue Gestalt letztlich als logische Konsequenz, da der Schneemann "nichts ist und in nichts zerfließt, wenn die Sonne aufgeht am Tage des Gerichts" (234). Als er schließlich auf der Flucht vor den Strahlen der aufgehenden Sonne zu schmelzen droht und zu den Toren seiner Heimatstadt eilt, weckt ihn seine Frau im nächtlichen Ehebett auf. Während des Schlafs war dem Erzähler die Decke herunter geglitten, die er nun nochmals über sich zieht. Bevor er wieder einschläft, resümiert er: "[D]as Leben ein Traum!" (235).

Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit

Da eine einleitende Rahmung mit Zubettgehen oder Einschlafen fehlt, erlaubt erst die Aufwachszene kurz vor Textschluss eine Deutung der vorangegangenen Handlung als Traum. Die Rezeptionssituation ähnelt somit der eines Träumenden: Wer träumt, weiß nicht, dass er träumt. Das Traumgeschehen ereignet sich, ohne skeptisch hinterfragt zu werden. "[I]ch bin nicht Ich, bin kein Mensch mehr, ich bin ein wandelnder Schneemann." (233). Die Plausibilität dieser Metamorphose zweifelt der Erzähler nicht an. Auch die Veränderung der Erzählperspektive bzw. der Fokalisierung unterstreicht die sich auflösende Identität des Erzählers: Mal überblickt er die gesamte Welt, mal betrachtet er sich selbst in Außensicht und fürchtet sich vor der fremdartigen Gestalt: "Hu! mir graust vor dem Schneemann, der ja so wunderlich vor mir her tanzt. Ich bin ja selber dieser Schneemann, bin ja doch miterfroren mit der ganzen weiten Welt!" (234).

Ein zentrales Motiv in Der Traum ist die mit Todesmotiven aufgeladene verblasste Metapher der Schneedecke, unter der die Toten "schlafen" (233): Der Schnee "hüllt" die Landschaft in ein "weites, weißes Gewand" (233) und wird mit seiner todbringenden Kälte zum "Leichentuch" (233) und "Totenkleid" (233). Retrospektiv wird Leben, Wärme, Farbigkeit, Bewegung und geschäftiges Treiben auf der einen Seite mit Tod, Kälte, Weiß, Erstarrung und Schlaf auf der anderen Seite kontrastiert. Die zu Beginn noch realistisch deutbare, scheinbar nur symbolisch aufgeladene Naturbeschreibung verweigert sich zunehmend einer uneigentlichen Lesart: "Was scharrt da mein Fuß aus dem Schnee! Ein Knochengerippe, vom Schnee gebleicht! Von einem Vogel nur, vom letzten Vogel vielleicht. Tritt leiser auf, wo ein Gerippe liegt, können mehr liegen. Für einen Vogel ist das Leichentuch zu groß und weit." Die Landschaft erscheint somit ebenso (alp-)traumhaft wie die Figur des Schneemanns.

Interpretation

Anders als beispielsweise Des Greises Traum oder Hebbels autobiographische Traumberichte in seinen Tagebüchern wurde Der Traum von der Forschung kaum beachtet. Wolfgang Liepe vermutet in Der Traum zahlreiche intertextuelle Verweise, u.a. auf Schuberts Die Symbolik des Traumes und seine Naturphilosophie, auf Tagebuchaufzeichnungen Hebbels und auf sein Gedicht Winterlandschaft (Liepe 1953). Seine Belege halten einer Überprüfung allerdings überwiegend nicht stand. Lediglich der Bezug auf das christliche Glaubenssystem mit der sündhaften Eitelkeit und den Tag des Jüngsten Gerichts sind gesichert. Er wird allerdings ebenso wie der Verweis auf den Tod als letzte Ruhe in Der Traum nicht weiter ausgestaltet. Auch die Sentenz vom Leben als Traum drückt in diesem Text nicht mehr aus als die Erleichterung über das Erwachen aus einem Alptraum.

Der Traum stellt letztlich einen Angsttraum in einer endzeitlich anmutenden Welt dar, die nicht genauer verortet werden kann. Diese Alptraumwelt erinnert an den Gottesacker in Jean Pauls Rede des toten Christus, ist aber weit weniger dramatisch inszeniert und das Geschehen entfaltet nicht die theologische Aussagekraft des möglichen Vorbilds. In beiden Texten endet die Traumhandlung unmittelbar vor dem Jüngsten Gericht und das abrupte Erwachen in einem friedlichen Diesseits bringt somit Erleichterung. Die heruntergeglittene Decke und der ausgekühlte Körper des Träumenden bieten profane Auslöser für die verstörenden Traumgedanken und greifen die Metapher der Schneedecke ins Harmlose gewendet auf. Auch der Ausspruch "[D]as Leben ein Traum!" (235) ist eher beschwichtigend und ein Gemeinplatz, als dass auf Calderón verwiesen werden sollte.

Myriam Gindorf

Ausgaben

Die Seitenangaben der Zitate in diesem Artikel beziehen sich auf die unten stehende fünfbändige kritische Werkausgabe. In der für die Forschung nach wie vor maßgeblichen, von Richard Maria Werner besorgten historisch-kritischen Werkausgabe (1901–1907) ist Der Traum nicht enthalten.

  • Der Traum. In: Friedrich Hebbel: Werke. 5 Bde. Hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller u. Karl Pörnbacher. Bd. 3: Gedichte, Erzählungen, Theoretische Schriften. München: Hanser 1965, 233-235.

(= kritische Werkausgabe)

  • Der Traum. In: Friedrich Hebbel: Meistererzählungen. Hg. u. mit einem Nachw. von Monika Ritzer. München: dtv 2013, 157-159.

(= empfohlene Leseausgabe)

Forschungsliteratur

  • Engel, Manfred: "Ich hatte über Nacht einen merkwürdigen Traum." Traumnotate und Traumtheorie in Hebbels Tagebüchern. In: Hebbel-Jahrbuch 61 (2006), 7-23.
  • Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
  • Liepe, Wolfgang: Unbekannte und unerkannte Frühprosen Hebbels. Untersuchungen zur ersten geistigen Entwicklung des Dichters. In: Hebbel-Jahrbuch 1953, 28-79.

Weblinks

  • Wittkowski, Wolfgang: Hebbel, Christian Friedrich. In: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), 160-164: Onlinefassung


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Gindorf, Myriam: "Der Traum" (Friedrich Hebbel). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2015; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Der_Traum%22_(Friedrich_Hebbel).