"Die BrĂŒder Löwenherz" (Lindgren, Astrid): Unterschied zwischen den Versionen

Aus Lexikon Traumkultur
Zur Navigation springen Zur Suche springen
(28 dazwischenliegende Versionen von 2 Benutzern werden nicht angezeigt)
Zeile 1: Zeile 1:
−
''Die BrĂŒder Löwenherz'' (schwedisch: ''Bröderna LejonhjĂ€rta'') ist ein 1973 erschienener Kinder- und Jugendroman der schwedischen Autorin Astrid Lindgren (1907-2002). Er zĂ€hlt, neben ''Mio, mein Mio'' (1954), zu ihren bekanntesten fantastischen ErzĂ€hlungen. Das Buch beschreibt die gemeinsamen Abenteuer der BrĂŒder Jonathan und Karl, genannt KrĂŒmel, im mittelalterlich-fantastischen Land Nanguijala, in das sie nach ihrem Tod gelangen. Nach einer kurzen Zeit der Idylle, beginnt ein erbitterter Kampf gegen den Tyrannen Tengil und sein Ungeheuer Katla.
+
[[Datei:Lindgren_Brueder_Loewenherz.jpg|thumb|right|''Die BrĂŒder Löwenherz'', schwed. Erstausgabe]]
  
 +
''Die BrĂŒder Löwenherz'' (schwedisch: ''Bröderna LejonhjĂ€rta'') ist ein 1973 erschienener Kinder- und Jugendroman der schwedischen Autorin Astrid Lindgren (1907–2002). Er zĂ€hlt, neben ''Mio, mein Mio'' (1954) zu ihren bekanntesten fantastischen ErzĂ€hlungen. Das Buch beschreibt die gemeinsamen Abenteuer der BrĂŒder Jonathan und Karl, genannt KrĂŒmel, im mittelalterlich-fantastischen Land Nanguijala, in das sie (vermutlich) nach ihrem Tod gelangen. Nach einer kurzen Zeit der Idylle, beginnt ein erbitterter Kampf gegen den Tyrannen Tengil und sein Ungeheuer Katla.
  
−
==Astrid Lindgren==
 
−
Schon ihr erster, und bekanntester, Roman ''Pippi Langstrumpf'' (1945) weist, nach der "maximalistischen Definition" fantastischer Literatur - die alle Texte einschließt, in denen die Naturgesetze verletzt werden (U. Durst, 2007) - fantastische Merkmale auf.<ref>Die "minimalistische Definition" setzt darĂŒber hinaus voraus, dass es im Text einen unentschiedenen Konflikt zweier Wirklichkeitsordnungengibt, der 'realistischen' und der 'fantastischen'.</ref> Gleichzeitig ist Astrid Lindgren vor allem fĂŒr ihren bestechenden und oft kritischen Realismus bekannt, der auch in ihren fantastischen ErzĂ€hlungen nicht fehlt. Eine aufmerksame Beobachtung der kindlichen Psyche, sowie ein „kritischer“ Blick auf gesellschaftliche Fragestellungen zeichnen alle ihre Texte aus. Sieglinde Geisel spricht in einem Artikel fĂŒr die NZZ von einem „magischen Realismus der Kindheit“ (S. Geisel, 2007). In diesem Zusammenhangt hat Astrid Lindgren auch wiederholt die Bedeutung der Fantasie fĂŒr die Weltwahrnehmung und Weltgestaltung betont:
 
  
−
: Alles, was an Großem in der Welt geschah, vollzog sich zuerst in der Phantasie des Menschen.<ref>
 
−
Astrid Lindgren, Darum brauchen Kinder BĂŒcher. Dankesrede anlĂ€sslich der Verleihung des Hans-Christian-Andersen-Preises 1958; https://www.astridlindgren.com/de/zitate.</ref>
 
  
−
Der Traum, gleichzeitig perfekter Zufluchtsort der kindlichen Fantasie und Konfrontationsraum des Selbst mit dem Unbewussten, spielt in ihren Texten wiederholt eine Rolle. Wie ''Die BrĂŒder Löwenherz'' weist auch Mios Reise ins Land der Ferne traumhafte Elemente auf. Zudem erwĂ€hnt Mio die tatsĂ€chlichen AlptrĂ€ume, die ihn in seinem frĂŒheren Leben geprĂ€gt haben:
+
==Astrid Lindgren==
 +
Schon ihr erster, und bekanntester, Roman ''Pippi Langstrumpf'' (1945) weist, nach der "maximalistischen Definition" fantastischer Literatur - die alle Texte einschließt, in denen die Naturgesetze verletzt werden (U. Durst 2007) - fantastische Merkmale auf.<ref>Die "minimalistische Definition" setzt darĂŒber hinaus voraus, dass es im Text einen unentschiedenen Konflikt zweier Wirklichkeitsordnungen gibt, der 'realistischen' und der 'fantastischen'.</ref> Gleichzeitig ist Astrid Lindgren vor allem fĂŒr ihren bestechenden und oft kritischen Realismus bekannt, der auch in ihren fantastischen ErzĂ€hlungen nicht fehlt. Eine aufmerksame Beobachtung der kindlichen Psyche, sowie ein „kritischer“ Blick auf gesellschaftliche Fragestellungen zeichnen alle ihre Texte aus. Sieglinde Geisel spricht in einem Artikel fĂŒr die NZZ von einem „magischen Realismus der Kindheit“ (S. Geisel 2007). In diesem Zusammenhang hat Astrid Lindgren auch wiederholt die Bedeutung der Fantasie fĂŒr die Weltwahrnehmung und Weltgestaltung betont:
  
−
: Im Traum bin ich manchmal durch dunkle HĂ€user gegangen, die ich nicht kannte. Unbekannte, entsetzliche HĂ€user mit schwarzen Zimmern, die mich umschlossen, bis ich nicht mehr atmen konnte, mit Fußböden, die sich gerade dort, wo ich gehen wollte, zu jĂ€hen Tiefen öffneten, mit Treppen, die zusammenstĂŒrzten und mich mitrissen. Aber kein Haus im Traum war so entsetzlich, so furchtbar wie Ritter Katos Burg (A. Lindgren 1955, 142).
+
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 +
|-
 +
||
 +
: <span style="color: #7b879e;">Alles, was an Großem in der Welt geschah, vollzog sich zuerst in der Phantasie des Menschen.<ref>
 +
Astrid Lindgren, Darum brauchen Kinder BĂŒcher. Dankesrede anlĂ€sslich der Verleihung des Hans-Christian-Andersen-Preises 1958; https://www.astridlindgren.com/de/zitate.</ref></span>
 +
|}
 +
Der Traum, gleichzeitig perfekter Zufluchtsort der kindlichen Fantasie und Konfrontationsraum des Selbst mit dem Unbewussten, spielt in Lindgrens Texten wiederholt eine Rolle. Wie ''Die BrĂŒder Löwenherz'' weist auch Mios Reise ins Land der Ferne traumhafte Elemente auf. Zudem erwĂ€hnt Mio die tatsĂ€chlichen AlptrĂ€ume, die ihn in seinem frĂŒheren Leben geprĂ€gt haben:
  
−
Der Traum wird somit zu einer Art Parabel des Lebens. Auch in ''Ferien auf Saltkrokan'' (1964) wird der Traum zum Anstoß, ĂŒber das menschliche Leben nachzudenken:  
+
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
−
 
+
|-
−
: Im Traum lÀuft man manchmal und sucht. Man muss unbedingt jemanden finden. Und man hat es so eilig. Es gilt das Leben. Man lÀuft voller Angst dahin, sucht immer angstvoller, man findet aber nie, den man sucht. Alles ist vergeblich (A. Lindgren, 2007, 320).
+
||
−
 
+
: <span style="color: #7b879e;">Im Traum bin ich manchmal durch dunkle HĂ€user gegangen, die ich nicht kannte. Unbekannte, entsetzliche HĂ€user mit schwarzen Zimmern, die mich umschlossen, bis ich nicht mehr atmen konnte, mit Fußböden, die sich gerade dort, wo ich gehen wollte, zu jĂ€hen Tiefen öffneten, mit Treppen, die zusammenstĂŒrzten und mich mitrissen. Aber kein Haus im Traum war so entsetzlich, so furchtbar wie Ritter Katos Burg (A. Lindgren 1955, 142).</span>
−
So wird der Traum bei Astrid Lindgren nicht nur zu einem Ort, an dem die kindliche Fantasie auf besonders produktive Weise operiert, sondern ermöglicht es der Autorin auch, Probleme und Krisensituationen des menschlichen Lebens kindgerecht aufzuarbeiten. Wie in den beiden oben zitierten Ausschnitten, spielt in ''Die BrĂŒder Löwenherz'' der Umgang mit der inneren Angst dabei eine besonders wichtige Rolle.
+
|}
 +
Der Traum wird somit zu einer Art Parabel des Lebens. Auch in ''Ferien auf Saltkrokan'' (1964) wird der Traum zum Anstoß, ĂŒber das menschliche Leben nachzudenken:
  
 +
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 +
|-
 +
||
 +
: <span style="color: #7b879e;">Im Traum lÀuft man manchmal und sucht. Man muss unbedingt jemanden finden. Und man hat es so eilig. Es gilt das Leben. Man lÀuft voller Angst dahin, sucht immer angstvoller, man findet aber nie, den man sucht. Alles ist vergeblich (A. Lindgren 2007, 320).</span>
 +
|}
 +
So wird der Traum bei Astrid Lindgren nicht nur zu einem Ort, an dem die kindliche Fantasie auf besonders produktive Weise operiert, sondern ermöglicht es der Autorin auch, Probleme und Krisensituationen des menschlichen Lebens kindgerecht aufzuarbeiten. Wie in den beiden oben zitierten Ausschnitten, spielt in ''Die BrĂŒder Löwenherz'' der Umgang mit der Angst dabei eine besonders wichtige Rolle.<ref>Zum Traum in der Kinder- und Jugendliteratur im Allgemeinen vgl. U. Abraham 2016, R. Steinlein 2008.</ref>
  
 
==Inhalt==
 
==Inhalt==
−
Der zehnjĂ€hrige Karl Löwe, genannt KrĂŒmel, ist krank. Als er durch ein GesprĂ€ch zwischen seiner Mutter und einer ihrer Kundinnen erfĂ€hrt, dass er sterben wird, ĂŒberwĂ€ltigt ihn die Angst. Um ihn zu beruhigen, erfindet sein drei Jahre Ă€lterer Bruder Jonathan das sagenumwobene Land Nangijala, in das KrĂŒmel und er nach ihrem Tod gelangen werden und in dem ein besseres Leben auf sie wartet. Doch dann stirbt Jonathan unerwartet vor KrĂŒmel. Um sich und seinen Bruder aus der in Flammen aufgegangenen Wohnung zu retten, wagt er, mit KrĂŒmel auf dem RĂŒcken, den Sprung aus dem KĂŒchenfenster und kommt dabei ums Leben. Wenig spĂ€ter stirbt auch KrĂŒmel - und tatsĂ€chlich treffen sich die beiden BrĂŒder in Nangijala wieder.  
+
Der zehnjĂ€hrige Karl Löwe, genannt KrĂŒmel, ist krank. Als er durch ein GesprĂ€ch zwischen seiner Mutter und einer ihrer Kundinnen erfĂ€hrt, dass er sterben wird, ĂŒberwĂ€ltigt ihn die Angst. Um ihn zu beruhigen, erfindet sein drei Jahre Ă€lterer Bruder Jonathan das sagenumwobene Land Nangijala, in das KrĂŒmel und er nach ihrem Tod gelangen werden und in dem ein besseres Leben auf sie wartet. Doch dann stirbt Jonathan unerwartet vor KrĂŒmel. Um sich und seinen Bruder aus der in Flammen aufgegangenen Wohnung zu retten, wagt er, mit KrĂŒmel auf dem RĂŒcken, den Sprung aus dem KĂŒchenfenster und kommt dabei ums Leben. Wenig spĂ€ter stirbt auch KrĂŒmel - und tatsĂ€chlich treffen sich die beiden BrĂŒder in Nangijala wieder.
  
−
FĂŒr einen kurzen Moment genießen sie das idyllische Leben im Kirschtal. Doch dann muss Jonathan aufbrechen, um den Menschen im Heckenrosental im Kampf gegen den grausamen Tyrannen Tengil und sein Ungeheuer Katla zu helfen. Im Traum hört KrĂŒmel Jonathans Hilferufe und beschließt trotz seiner Angst, ihm zu Hilfe zu eilen. Beim alten Matthias im Heckenrosental finden sie Zuflucht und UnterstĂŒtzung. Auf die beiden Jungen wartet jedoch eine schwierige Aufgabe: die Befreiung Orwars, des AnfĂŒhrers der Rebellen, aus der Katlahöhle. Nur mit MĂŒhe gelingt ihnen diese Heldentat. Kurz darauf kommt es zum finalen Kampf zwischen Tengils Schergen und den Einwohnern des Heckenrosentals. Erst als Jonathan es schafft, Tengil die Lure (eine altertĂŒmliche Trompete) abzunehmen, durch deren Klang er das Drachenweibchen Katla beherrscht, kann der Kampf zugunsten des Heckenrosentals entschieden werden.  
+
FĂŒr einen kurzen Moment genießen sie das idyllische Leben im Kirschtal. Doch dann muss Jonathan aufbrechen, um den Menschen im Heckenrosental im Kampf gegen den Tyrannen Tengil und sein Ungeheuer Katla zu helfen. Im Traum hört KrĂŒmel Jonathans Hilferufe und beschließt trotz seiner Angst, ihm zu Hilfe zu eilen. Beim alten Matthias im Heckenrosental finden sie Zuflucht und UnterstĂŒtzung. Auf die beiden Jungen wartet jedoch eine schwierige Aufgabe: die Befreiung Orwars, des AnfĂŒhrers der Rebellen, aus der Katlahöhle. Nur mit MĂŒhe gelingt ihnen diese Heldentat. Kurz darauf kommt es zum finalen Kampf zwischen Tengils Schergen und den Einwohnern des Heckenrosentals. Erst als Jonathan es schafft, Tengil die Lure (eine altertĂŒmliche Trompete) abzunehmen, durch deren Klang er das Drachenweibchen Katla beherrscht, kann der Kampf zugunsten des Heckenrosentals entschieden werden.
  
−
Eine letzte Aufgabe steht den BrĂŒdern nun bevor: mit Hilfe der Lure wollen sie Katla zurĂŒck in die Tiefen bringen, aus denen sie ausgebrochen ist. Doch auf dem Weg verliert Jonathan die Lure. Wieder ihres eigenen Willens Herrin, jagt Katla die beiden BrĂŒder bis an einen Fluss, in dem der Lindwurm Karm lebt. In einem erbitterten Kampf töten sich die beiden Ungeheuer. Doch die Jungen haben keinen Grund zur Freude, denn Jonathan wurde von Katlas Flamme berĂŒhrt, die ihn völlig gelĂ€hmt zurĂŒcklĂ€sst. Unentschlossen was nun zu tun ist, erzĂ€hlt Jonathan KrĂŒmel von Nangilima, einem Land, in dem wirklich jeder in Frieden lebt und so beschließen die beiden Jungen Nangijala gemeinsam den RĂŒcken zu kehren. Diesmal ist es KrĂŒmel, der seinen Bruder auf den RĂŒcken lĂ€dt und gemeinsam mit ihm in den Abgrund springt – in den Tod, nach Nangilima.
+
Eine letzte Aufgabe steht den BrĂŒdern nun bevor: Mit Hilfe der Lure wollen sie Katla zurĂŒck in die Tiefen bringen, aus denen sie ausgebrochen ist. Doch auf dem Weg verliert Jonathan die Lure. Wieder ihres eigenen Willens Herrin, jagt Katla die beiden BrĂŒder bis an einen Fluss, in dem der Lindwurm Karm lebt. In einem erbitterten Kampf töten sich die beiden Ungeheuer. Doch die Jungen haben keinen Grund zur Freude, denn Jonathan wurde von Katlas Flamme berĂŒhrt, die ihn völlig gelĂ€hmt zurĂŒcklĂ€sst. Unentschlossen was nun zu tun ist, erzĂ€hlt Jonathan KrĂŒmel von Nangilima, einem Land, in dem wirklich jeder in Frieden lebt und so beschließen die beiden Jungen Nangijala gemeinsam den RĂŒcken zu kehren. Diesmal ist es KrĂŒmel, der seinen Bruder auf den RĂŒcken lĂ€dt und gemeinsam mit ihm in den Abgrund springt – in den Tod, nach Nangilima.
  
 
==UnzuverlÀssiges ErzÀhlen==
 
==UnzuverlÀssiges ErzÀhlen==
−
In ''Die BrĂŒder Löwenherz'' haben wir es mit einer sogenannten 'unzuverlĂ€ssigen ErzĂ€hlweise' zu tun, da die Geschichte es dem Leser ĂŒberlĂ€sst, ob er die Reise in ein Fantasieland fĂŒr wahr hĂ€lt oder ob er davon ausgeht, dass sie nur in den FiebertrĂ€umen des Protagonisten existiert. Der Ich-ErzĂ€hler KrĂŒmel ist dabei selbst verantwortlich fĂŒr die Zweifel, die beim Leser aufkommen können.  
+
In ''Die BrĂŒder Löwenherz'' haben wir es mit einer sogenannten 'unzuverlĂ€ssigen ErzĂ€hlweise' zu tun,<ref>Zum Begriff vgl. etwa A. NĂŒnning 1998, Kindt/Köppe 2011.</ref> da die Geschichte es dem Leser ĂŒberlĂ€sst, ob er die Reise in ein Fantasieland fĂŒr wahr hĂ€lt oder ob er davon ausgeht, dass sie nur in den FiebertrĂ€umen des Protagonisten existiert. Der Ich-ErzĂ€hler KrĂŒmel ist dabei selbst verantwortlich fĂŒr die Zweifel, die beim Leser aufkommen können.
  
−
Zweifel an der Wahrhaftigkeit der ErzĂ€hlung entstehen besonders am Anfang der Geschichte, als KrĂŒmel auf seinen Tod wartet (S. Reinbold, 2007, 18; E Törnqvist, 1975, 18 u. 28). Weil er wiederholt zwischen PrĂ€senz und PrĂ€teritum wechselt, bleibt die ErzĂ€hlsituation unklar: LĂ€sst uns der junge Held an seiner Geschichte teilhaben, nachdem er sie erlebt hat, also sich in Nangilima aufhĂ€lt, oder entsteht die ErzĂ€hlung zeitgleich zu den fieberhaften TrĂ€umen des kranken Jungen, in denen er sich Nangijala ausmalt? Gerade die Schilderung des eigenen Todes bleibt vage und kann auch als ein Einschlafen und HinĂŒbergleiten in einen Traum gelesen werden:
+
Zweifel an der Wahrhaftigkeit der ErzĂ€hlung entstehen besonders am Anfang der Geschichte, als KrĂŒmel auf seinen Tod wartet (S. Reinbold 2007, 18; E Törnqvist 1975, 18 u. 28). Weil er wiederholt zwischen PrĂ€sens und PrĂ€teritum wechselt, bleibt die ErzĂ€hlsituation unklar: LĂ€sst uns der junge Held an seiner Geschichte teilhaben, nachdem er sie erlebt hat, also sich in Nangilima aufhĂ€lt, oder entsteht die ErzĂ€hlung zeitgleich zu den fieberhaften TrĂ€umen des kranken Jungen, in denen er sich Nangijala ausmalt? Gerade die Schilderung des eigenen Todes bleibt vage und kann auch als ein Einschlafen und HinĂŒbergleiten in einen Traum gelesen werden:
 +
 
 +
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 +
|-
 +
||
 +
: <span style="color: #7b879e;">Aber jetzt komme ich auch bald nach Nangijala. Bald, bald werde ich dorthinfliegen. Vielleicht heute Nacht. Mir ist, als könnte es heute Nacht sein. Ich will einen Zettel schreiben und ihn auf den KĂŒchentisch legen, damit Mama ihn morgen frĂŒh findet.
 +
: <span style="color: #7b879e;">Und das soll auf dem Zettel stehen:
 +
: <span style="color: #7b879e;">„Weine nicht, Mama! Wir sehen uns wieder in Nangijala!“''
 +
: <span style="color: #7b879e;">Dann geschah es. Etwas Seltsameres habe ich nie erlebt. Ganz plötzlich stand ich einfach vor der Gartenpforte und las auf dem Schild: Die BrĂŒder Löwenherz.
 +
: <span style="color: #7b879e;">Wie kam ich dorthin? Wann flog ich? Wie konnte ich den Weg finden, ohne jemanden danach zu fragen? Das weiß ich nicht (BL 20 f.).</span>
 +
|}
 +
Wie auch beim Einschlafen ist der Moment des Übertritts von einem Bewusstseinszustand in den anderen ausgeblendet, da KrĂŒmel nicht in der Lage ist, diesen in seinem Bewusstsein genau zu situieren. Wie beim Einschlafen und HinĂŒbergleiten in den Traumzustand brechen auch hier die bewussten GedankenvorgĂ€nge plötzlich ab, um dann ''in medias res'' die ErzĂ€hlung des Traumgeschehens beginnen zu lassen.
  
−
: Aber jetzt komme ich auch bald nach Nangijala. Bald, bald werde ich #dort hinfliegen#. Vielleicht heute Nacht. Mir ist, als könnte es heute Nacht sein. Ich will einen Zettel schreiben und ihn auf den KĂŒchentisch legen, damit Mama ihn morgen frĂŒh findet.
+
Astrid Lindgren hĂŒtet sich davor, diese Doppeldeutigkeit aufzuheben. KrĂŒmels finaler Ausruf „Ich sehe das Licht“ (BL 238) wurde dennoch oft als Beleg dafĂŒr gedeutet, dass das Buch mit dem realen Tod des Protagonisten endet, die davor liegenden Ereignisse folglich seiner Einbildung entspringen.
−
: Und das soll auf dem Zettel stehen:
 
−
: „Weine nicht, Mama! Wir sehen uns wieder in Nangijala!“''
 
−
: Dann geschah es. Etwas #seltsameres# habe ich nie erlebt. Ganz plötzlich stand ich einfach vor der Gartenpforte und las auf dem Schild: Die BrĂŒder Löwenherz.
 
−
: Wie kam ich dorthin? Wann flog ich? Wie konnte ich den Weg finden, ohne jemanden danach zu fragen? Das weiß ich nicht (BL 20 f.).
 
  
−
Wie auch beim Einschlafen ist der Moment des Übertritts von einem Bewusstseinszustand in den anderen ausgeblendet, da KrĂŒmel nicht in der Lage ist, diesen in seinem Bewusstsein genau zu situieren. Wie beim Einschlafen und HinĂŒbergleiten in den Traumzustand brechen auch hier die bewussten GedankenvorgĂ€nge plötzlich ab, um dann ''in medias res'' die ErzĂ€hlung des Traumgeschehens beginnen zu lassen.
+
Von Kritikern wurden Astrid Lindgren beide Lesarten zum Vorwurf gemacht. Die kindliche, weil sie der/m Lesenden eine verharmlosende Sicht auf den Tod bietet, die erwachsene, weil das harte Schicksal der beiden BrĂŒder den kindlichen LeserInnen den Tod und seine Schrecken zu brutal vor Augen fĂŒhren wĂŒrde (E. Liebs 2002, ##; D. Matthias 1997, ###; E.-M. Metcalf 1995, ##). Dennoch wurde der Roman ein internationaler Erfolg und 1979 mit dem Internationalen Janusz-Korczak-Literaturpreis und dem Wilhelm-Hauff-Preis ausgezeichnet.
  
−
A. Lindgren hĂŒtet sich geflissentlich davor, diese Doppeldeutigkeit aufzuheben. KrĂŒmels finaler Ausruf „Ich sehe das Licht“ (BL 238) wurde dennoch oft als Beleg dafĂŒr gedeutet, dass das Buch mit dem realen Tod des Protagonisten endet, die davor liegenden Ereignisse folglich seiner Einbildung entspringen.
 
  
−
Von Kritikern wurden Astrid Lindgren beide Lesarten zum Vorwurf gemacht. Die kindliche, weil sie der/m Lesenden eine verharmlosende Sicht auf den Tod bietet, die erwachsene, weil das harte Schicksal der beiden BrĂŒder den kindlichen LeserInnen den Tod und seine Schrecken zu brutal vor Augen fĂŒhren wĂŒrde (E. Liebs 2002, ##; D. Matthias 1997, ###; E.-M. Metcalf 1995, ##).S. 165–178. Dennoch wurde der Roman ein internationaler Erfolg und 1979 mit dem Internationalen Janusz-Korczak-Literaturpreis und dem Wilhelm-Hauff-Preis ausgezeichnet.
 
  
 
==Traumerfahrung==
 
==Traumerfahrung==
−
 
 
===Alles nur ein (Fieber-)traum?===
 
===Alles nur ein (Fieber-)traum?===
−
Durch die unzuverlĂ€ssige ErzĂ€hlstrategie, eröffnet A. Lindgren der/m Lesenden die Möglichkeit, KrĂŒmels und Jonathans Abenteuer als eine Reihe von FiebertrĂ€umen zu verstehen, die KrĂŒmels tatsĂ€chlichem Tod vorangehen. Auch die ErzĂ€hlung der Abenteuer in Nangijala versieht die Autorin regelmĂ€ĂŸig mit symbolisch aufgeladenen Anzeichen fĂŒr die Traumhaftigkeit der Erfahrung. In erster Linie erscheint hier das Auftreten des Drachenweibchens Katla von Interesse. Aus der „Urzeitnacht“<ref>Astrid Lindgren: Die BrĂŒder Löwenherz, S. 167.</ref> auftauchend, erinnert ihr plötzliches Erscheinen in der Geschichte und somit an der OberflĂ€che der Wirklichkeit an das Aufbrechen des Unbewussten im Bewusstsein. Somit erscheint die Figur der Katla wie eine Allegorie des Todes, ihr Auftreten gleichbedeutend mit KrĂŒmels Angst vor dem Tod. Vom ersten Moment, als KrĂŒmel in Nangijala ankommt, hĂ€ngt der Name des Monsters bedrohlich ĂŒber dem Leben im Kirschtal, so wie der Tod ĂŒber KrĂŒmels Leben hing. Ähnlich dem Tod reicht die bloße Aussprache des Namens aus, um die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, doch wie der Tod bleibt auch Katla lange Zeit „nichts weiter als ein abscheulicher Name“<ref>Ebd., S. 132.</ref>, nĂ€mlich eine abstrakte, schwer fassbare Gefahr. Als sie Katla schließlich das erste Mal mit eigenen Augen sehen, sind die beiden BrĂŒder vor Schrecken wie gelĂ€hmt. Jonathan ist der erste, der sie sieht. „Ich habe Katla gesehen“<ref>Ebd., S. 105.</ref>, flĂŒstert er, bevor es ihm die Stimme verschlĂ€gt – auf eine eingehendere Beschreibung wartet der Leser so vergebens. Als KrĂŒmel mit der gleichen Erfahrung konfrontiert wird, endet das Kapitel mit demselben Satz. So ist der Leser gezwungen, erst die Seite umzublĂ€ttern, bevor er endlich eine klarere Vorstellung von diesem uralten Ungeheuer bekommt – der Tod könnte nicht weniger ungreifbar sein. Das folgende Kapitel beginnt mit den Worten:
+
Durch die unzuverlĂ€ssige ErzĂ€hlstrategie, eröffnet Astrid Lindgren der/m Lesenden die Möglichkeit, KrĂŒmels und Jonathans Abenteuer als eine Reihe von FiebertrĂ€umen zu verstehen, die KrĂŒmels tatsĂ€chlichem Tod vorangehen. Auch die ErzĂ€hlung der Abenteuer in Nangijala versieht die Autorin mehrmals mit symbolisch aufgeladenen Anzeichen fĂŒr die Traumhaftigkeit der Erfahrung. In erster Linie ist hier das Auftreten des Drachenweibchens Katla von Interesse. Aus der „Urzeitnacht“ (BL 167) auftauchend, erinnert ihr plötzliches Erscheinen in der Geschichte und somit an der OberflĂ€che der Wirklichkeit an das Aufbrechen des Unbewussten im Bewusstsein. Somit erscheint die Figur der Katla wie eine Allegorie des Todes, ihr Auftreten als gleichbedeutend mit KrĂŒmels Angst vor dem Tod. Vom ersten Moment, als KrĂŒmel in Nangijala ankommt, hĂ€ngt der Name des Monsters bedrohlich ĂŒber dem Leben im Kirschtal, so wie der Tod ĂŒber KrĂŒmels Leben hing. Ähnlich dem Tod reicht die bloße Aussprache des Namens aus, um die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen; wie der Tod bleibt auch Katla lange Zeit „nichts weiter als ein abscheulicher Name“ (BL 132), nĂ€mlich eine abstrakte, schwer fassbare Gefahr. Als die beiden BrĂŒder Katla schließlich das erste Mal mit eigenen Augen sehen, sind sie wie gelĂ€hmt vor Schrecken. Jonathan ist der erste, der sie erblickt: „Ich habe Katla gesehen“ (BL 105), flĂŒstert er, bevor es ihm die Stimme verschlĂ€gt – auf eine eingehendere Beschreibung wartet der Leser so vergebens. Als KrĂŒmel mit der gleichen Erfahrung konfrontiert wird, endet das Kapitel mit demselben Satz. So ist der Leser gezwungen, erst die Seite umzublĂ€ttern, bevor er endlich eine klarere Vorstellung von diesem uralten Ungeheuer bekommt – der Tod könnte nicht weniger ungreifbar sein. Das folgende Kapitel beginnt mit den Worten:
  
−
: Ja, ich sah Katla, und dann weiß ich nicht mehr, was geschah. Ich sank in eine schwarze Tiefe hinab und erwachte erst wieder, als das Unwetter vorĂŒber war und es ĂŒber den Gipfeln heller zu werden begann. Ich lag mit dem Kopf in Jonathans Schoß. Der Schrecken saß wieder in mir, sobald ich mich erinnerte (BL 170.
+
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 +
|-
 +
||
 +
: <span style="color: #7b879e;">Ja, ich sah Katla, und dann weiß ich nicht mehr, was geschah. Ich sank in eine schwarze Tiefe hinab und erwachte erst wieder, als das Unwetter vorĂŒber war und es ĂŒber den Gipfeln heller zu werden begann. Ich lag mit dem Kopf in Jonathans Schoß. Der Schrecken saß wieder in mir, sobald ich mich erinnerte (BL 170).</span>
 +
|}
 +
Die Situation erinnert an den Beginn des Romans, als Jonathan seinen von Todesangst ergriffenen Bruder mit der Geschichte von Nangijala tröstet. Die Verweise auf die reale Welt sind hĂ€ufiger, als es zunĂ€chst scheinen mag. Am bedeutendsten ist der Moment, in dem KrĂŒmel von seinem Bruder in Not trĂ€umt – ein Traum, der so realistisch ist, dass der junge Held meint, er mĂŒsse ihm zu Hilfe eilen. Doch er fĂŒhlt sich von Angst und vor allem von einem GefĂŒhl der Hilflosigkeit gepackt:
  
−
Die Situation erinnert an den Beginn des Romans, als Jonathan seinen von Todesangst ergriffenen Bruder mit der Geschichte von Nangijala tröstet. Die Verweise auf die reale Welt sind so hĂ€ufiger, als es erst einmal scheinen mag. Am bedeutendsten ist diesbezĂŒglich der Moment, in dem KrĂŒmel von seinem Bruder in Not trĂ€umt – ein Traum, der so realistisch ist, dass der junge Held meint, er mĂŒsse ihm zu Hilfe eilen. Doch er fĂŒhlt sich von Angst und vor allem von einem GefĂŒhl der Hilflosigkeit gepackt: „Was konnte ich schon tun, niemand war so hilflos wie ich! Ich konnte nur in mein Bett zurĂŒckkriechen, und dort lag ich dann zitternd und fĂŒhlte mich so verloren, klein und verĂ€ngstigt und einsam, so einsam wie niemand sonst auf der Welt“<ref>Ebd., S. 64.</ref>. Das Bett, an das der Junge sich gefesselt fĂŒhlt, erinnert an das Bild des kranken Jungen, dessen Existenz darauf beschrĂ€nkt ist, passiv auf den Tod zu warten. Dieses GefĂŒhl der Machtlosigkeit passt eigentlich nicht zu dem in Nangijala erstarkten Karl Löwenherz und verweist zweifelsohne auf die Ausgangssituation in der realen Welt. Die Abenteuer in Nangijala entpuppen sich so vor allem als eine mentale Vorbereitung auf den Tod. Die wiederholten Verweise auf die reale Lebenssituation des Protagonisten stĂ€rken dabei die Interpretation der Geschichte als reine Traumerfahrung.
+
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 +
|-
 +
||
 +
: <span style="color: #7b879e;">Was konnte ich schon tun, niemand war so hilflos wie ich! Ich konnte nur in mein Bett zurĂŒckkriechen, und dort lag ich dann zitternd und fĂŒhlte mich so verloren, klein und verĂ€ngstigt und einsam, so einsam wie niemand sonst auf der Welt“ (BL 64).</span>
 +
|}
 +
Das Bett, an das der Junge sich gefesselt fĂŒhlt, erinnert an das Bild des kranken Jungen, dessen Existenz darauf beschrĂ€nkt war, passiv auf den Tod zu warten. Dieses GefĂŒhl der Machtlosigkeit passt eigentlich nicht zu dem in Nangijala erstarkten Karl Löwenherz und verweist zweifellos auf die Ausgangssituation in der realen Welt. Die Abenteuer in Nangijala entpuppen sich so vor allem als eine mentale Vorbereitung auf den Tod. Die wiederholten Verweise auf die reale Lebenssituation des Protagonisten stĂ€rken die Interpretation der Geschichte als reine Traumerfahrung.
  
 
===Der Traum im Traum===
 
===Der Traum im Traum===
−
ZusĂ€tzlich zu der Möglichkeit die gesamte Geschichte als einen Fiebertraum des Protagonisten zu lesen, baut A. Lindgren auch einen eindeutig markierten Alptraum in ihre ErzĂ€hlung ein. Wie bereits erwĂ€hnt trĂ€umt KrĂŒmel, allein im Kirschtal zurĂŒckgeblieben, von seinem Bruder Jonathan, der ihn verzweifelt um Hilfe anruft:
+
ZusĂ€tzlich zu der Möglichkeit, die gesamte Geschichte als einen Fiebertraum des Protagonisten zu lesen, baut Astrid Lindgren auch einen eindeutig markierten Alptraum in ihre ErzĂ€hlung ein. Wie bereits erwĂ€hnt, trĂ€umt KrĂŒmel, allein im Kirschtal zurĂŒckgeblieben, von seinem Bruder Jonathan, der ihn verzweifelt um Hilfe anruft:
  
−
: ''Ich fror, als ich auf meine Schlafbank kroch, dennoch schlief ich bald ein. Und ich trĂ€umte von Jonathan. Ein Traum so grauenvoll, dass ich davon aufwachte.''<br />'' „Ja, Jonathan“, schrie ich. „Ich komme!“ schrie ich und stĂŒrzte aus dem Bett. Die Dunkelheit ringsum schien widerzuhallen von Schreien, von Jonathans Schreien! Er hatte im Traum nach mir gerufen, er brauchte Hilfe. Ich wusste es.''<ref>Ebd., S. 63-64.</ref>
+
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 +
|-
 +
||
 +
: <span style="color: #7b879e;">Ich fror, als ich auf meine Schlafbank kroch, dennoch schlief ich bald ein. Und ich trÀumte von Jonathan. Ein Traum so grauenvoll, dass ich davon aufwachte.
 +
: <span style="color: #7b879e;">„Ja, Jonathan“, schrie ich. „Ich komme!“ schrie ich und stĂŒrzte aus dem Bett. Die Dunkelheit ringsum schien widerzuhallen von Schreien, von Jonathans Schreien! Er hatte im Traum nach mir gerufen, er brauchte Hilfe. Ich wusste es (BL 63 f.).</span>
 +
|}
  
−
Als die beiden BrĂŒder wieder vereint sind, wird klar, dass es sich bei KrĂŒmels Traum nicht um einen einfachen Angsttraum gehandelt hat, sondern dass Jonathans Verzweiflung, als er dem Ungeheuer Katla zum ersten Mal begegnet ist, so groß war, dass KrĂŒmel diese im Schlaf spĂŒren konnte<ref>Ebd., S. 105.</ref>. Je nach Lesart kann der Traum somit entweder als Vision, oder aber als Traum im Traum verstanden werden. Versteht man die Abenteuer in Nangijala als ein Leben nach dem Tod, gesteht man den BrĂŒdern tatsĂ€chlich eine ĂŒbersinnliche Verbindung zu. Geht man hingegen davon aus, dass die ganze Geschichte nur in KrĂŒmels Delirium entsteht, verliert der visionĂ€re Charakter dieses Traums im Traum an Bedeutung.
+
Als die beiden BrĂŒder wieder vereint sind, wird klar, dass es sich bei KrĂŒmels Traum nicht um einen einfachen Angsttraum gehandelt hat, sondern dass Jonathans Verzweiflung, als er dem Ungeheuer Katla zum ersten Mal begegnete, so groß war, dass KrĂŒmel diese im Schlaf spĂŒren konnte (BL 105). Je nach Lesart kann der Traum somit entweder als Vision oder als Traum im Traum verstanden werden. Versteht man die Abenteuer in Nangijala als ein Leben nach dem Tod, gesteht man den BrĂŒdern tatsĂ€chlich eine ĂŒbersinnliche Verbindung zu. Geht man hingegen davon aus, dass die ganze Geschichte nur in KrĂŒmels Delirium entsteht, verliert der visionĂ€re Charakter dieses Traums im Traum an Bedeutung.
  
  
Zeile 63: Zeile 93:
 
Der Eindruck, dass Nangijala ein Traumreich ist, wird vor allem durch KrĂŒmels subjektive Perspektive erweckt. In seiner Wahrnehmung kommt dem Protagonisten und Ich-ErzĂ€hler das sagenumwobene Universum Nangijalas oft unwirklich vor. Zweimal sucht er in seiner ErzĂ€hlung den expliziten Vergleich zwischen dem Erlebten und einer traumhaften Erfahrung. Als er vom Kirsch- ins Heckenrosental reitet, um seinen Ă€lteren Bruder zu finden, kommt ihm die schauerlich schöne Landschaft wie aus einem Traum vor:
 
Der Eindruck, dass Nangijala ein Traumreich ist, wird vor allem durch KrĂŒmels subjektive Perspektive erweckt. In seiner Wahrnehmung kommt dem Protagonisten und Ich-ErzĂ€hler das sagenumwobene Universum Nangijalas oft unwirklich vor. Zweimal sucht er in seiner ErzĂ€hlung den expliziten Vergleich zwischen dem Erlebten und einer traumhaften Erfahrung. Als er vom Kirsch- ins Heckenrosental reitet, um seinen Ă€lteren Bruder zu finden, kommt ihm die schauerlich schöne Landschaft wie aus einem Traum vor:
  
−
: ''"Denn hier gab es SteilhĂ€nge und AbgrĂŒnde, dass einem schwindelte vor so viel schrecklicher Schönheit. Es war, als reite man in einem Traum, ja, diese ganze Mondscheinlandschaft kann es nur in einem schönen und wilden Traum geben, dachte ich und sagte zu Fjalar: „Wer, glaubst du, trĂ€umt dies wohl? Ich jedenfalls nicht. Es muss jemand anders sein, der sich so ĂŒbernatĂŒrlich Schreckliches und Schönes zusammengetrĂ€umt hat [
]''''<ref>Ebd., S. 78.</ref>
+
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
−
WĂ€hrend die Geschichte einen klaren Gegensatz zwischen Gut und Böse entwirft, schwangt die von KrĂŒmel beschriebene AtmosphĂ€re zwischen erhabener Schönheit und bedrohlichem Schrecken. Noch wichtiger ist, dass KrĂŒmel sich dabei von der Traumerfahrung zu distanzieren scheint, was auf eine Unterscheidung zwischen dem bewussten Selbst und dem unbewussten Es hindeutet. SpĂ€ter in der Geschichte, als die beiden BrĂŒder aufbrechen, um Orwar, den AnfĂŒhrer der Rebellen, zu befreien, verweist KrĂŒmel erneut auf die traumhafte Dimensions Nangijalas:
+
|-
 +
||
 +
: <span style="color: #7b879e;">Denn hier gab es SteilhĂ€nge und AbgrĂŒnde, dass einem schwindelte vor so viel schrecklicher Schönheit. Es war, als reite man in einem Traum, ja, diese ganze Mondscheinlandschaft kann es nur in einem schönen und wilden Traum geben, dachte ich und sagte zu Fjalar: „Wer, glaubst du, trĂ€umt dies wohl? Ich jedenfalls nicht. Es muss jemand anders sein, der sich so ĂŒbernatĂŒrlich Schreckliches und Schönes zusammengetrĂ€umt hat“ (BL 78).</span>
 +
|}
  
−
: ''Es war ein fĂŒrchterlicher Platz, schrecklich und schön wie kein anderer im Himmel oder auf Erden, glaub ich. Die Berge und der Fluss und der Wasserfall, alles war so riesig und ĂŒberwĂ€ltigend. Wieder war mir wie in einem Traum, und ich sagte zu Jonathan: „Glaub nicht, dass dies Wirklichkeit ist! Es muss ein StĂŒck aus einem Urzeittraum sein, ganz bestimmt!''<ref>Ebd., S. 164.</ref>
+
WĂ€hrend die Geschichte einen klaren Gegensatz zwischen Gut und Böse entwirft, schwankt die von KrĂŒmel beschriebene AtmosphĂ€re zwischen erhabener Schönheit und bedrohlichem Schrecken. Noch wichtiger ist, dass KrĂŒmel sich dabei von der Traumerfahrung zu distanzieren scheint, was auf eine Unterscheidung zwischen dem bewussten Selbst und dem unbewussten Es hindeutet. SpĂ€ter in der Geschichte, als die beiden BrĂŒder aufbrechen, um Orwar, den AnfĂŒhrer der Rebellen, zu befreien, verweist KrĂŒmel erneut auf die traumhafte Dimension Nangijalas:
−
Erneut distanziert sich KrĂŒmel vom trĂ€umenden Subjekt und beschreibt die Landschaft wie das Resultat eines kollektiven Traums aus der Urzeit. Nangijala wird so im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Traumreich. Die Anspielung auf die mythische Vergangenheit hilft auch, eine Verbindung zwischen der traumhaften Stimmung und dem Monster Katla herzustellen. Um Orwar zu befreien, mĂŒssen die beiden BrĂŒder in den Berg hinabsteigen, der von Katla bewohnt wird und dessen Windungen so zahlreich sind wie die der menschlichen Psyche. TatsĂ€chlich erklĂ€rt KrĂŒmel: „In dieses schwarze Loch hineinzukriechen, das war wie in einen bösen schwarzen Traum einzutauchen<ref>Ebd., S. 181.</ref>“. Erneut erscheint die Figur der Katla als Metapher der Ängste, die den Jungen in den Tiefen seines Unbewussten erwarten und Nangijala wie ein Reich des universellen TrĂ€umens.
 
  
 +
{| style="border: 0px; background-color: #ffffff; border-left: 2px solid #7b879e; margin-bottom: 0.4em; margin-left:0.1em; margin-right: auto; width: auto;" border="0" cellspacing="0" cellpadding="0"
 +
|-
 +
||
 +
: <span style="color: #7b879e;">Es war ein fĂŒrchterlicher Platz, schrecklich und schön wie kein anderer im Himmel oder auf Erden, glaub ich. Die Berge und der Fluss und der Wasserfall, alles war so riesig und ĂŒberwĂ€ltigend. Wieder war mir wie in einem Traum, und ich sagte zu Jonathan: „Glaub nicht, dass dies Wirklichkeit ist! Es muss ein StĂŒck aus einem Urzeittraum sein, ganz bestimmt!“ (BL 164).</span>
 +
|}
  
−
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Sophia Mehrbrey]]</div>
+
Erneut distanziert sich KrĂŒmel vom trĂ€umenden Subjekt und beschreibt die Landschaft wie das Resultat eines kollektiven Traums aus der Urzeit. Nangijala wird so im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Traumreich. Die Anspielung auf die mythische Vergangenheit hilft auch, eine Verbindung zwischen der traumhaften Stimmung und dem Monster Katla herzustellen. Um Orwar zu befreien, mĂŒssen die beiden BrĂŒder in den Berg hinabsteigen, der von Katla bewohnt wird und dessen Windungen so zahlreich sind wie die der menschlichen Psyche. TatsĂ€chlich erklĂ€rt KrĂŒmel: „In dieses schwarze Loch hineinzukriechen, das war wie in einen bösen schwarzen Traum einzutauchen“ (BL 181). Erneut erscheint die Figur der Katla als Metapher der Ängste, die den Jungen in den Tiefen seines Unbewussten erwarten und Nangijala wie ein Reich des universellen TrĂ€umens.
  
  
  
 +
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Sophia Mehrbrey]]</div>
 
==Literatur==
 
==Literatur==
−
 
 
===Ausgaben===
 
===Ausgaben===
 
* Lindgren, Astrid: Mio, mein Mio [Mio, min Mio, 1954]. Übers. von Karl Kurt Peters, Ill. von Ilon Wikland. Hamburg: Oetinger 1955.
 
* Lindgren, Astrid: Mio, mein Mio [Mio, min Mio, 1954]. Übers. von Karl Kurt Peters, Ill. von Ilon Wikland. Hamburg: Oetinger 1955.
Zeile 81: Zeile 118:
 
* Lindgren, Astrid: Ferien auf Saltkrokan [Vi pĂ„ SaltkrĂ„kan, 1964]. Übers. von Thyra Dohrenburg. Hamburg: Oetinger 2007.
 
* Lindgren, Astrid: Ferien auf Saltkrokan [Vi pĂ„ SaltkrĂ„kan, 1964]. Übers. von Thyra Dohrenburg. Hamburg: Oetinger 2007.
  
−
* Lindgren, Astrid: Die BrĂŒder Löwenherz [Bröderna LejonhjĂ€rta, 1973]. Übers. von Anna-Liese Kornitzky. Hamburg: Oetinger 1974; zitiert mit der Sigle BL.
+
* Lindgren, Astrid: Die BrĂŒder Löwenherz [Bröderna LejonhjĂ€rta, 1973]. Übers. von Anna-Liese Kornitzky. Hamburg: Oetinger 1974; zitiert mit der Sigle BL. Online: https://cloud8m.edupage.org/cloud/Astrid_Lindgren_-_Die_Bruder_Lowenherz.pdf?z%3Ac1VLWVMUkWwSSMgv5pmVb60E88iclEwGi5Ri6XUweZorzSCAqCK5dBCEs0E9fFXO.
 +
 
 +
 
 +
 
 +
===Verfilmung===
 +
* Bröderna LejonhjÀrta (Regie: Olle Hellborn; Drehbuch: Astrid Lindgren; Schweden, 1977); https://www.youtube.com/watch?v=kDVmJf9QYEs.
 +
 
 +
 
  
 
===Forschungsliteratur===
 
===Forschungsliteratur===
 +
* Abraham, Ulf: Traumtage - NachttrÀume. Das Motiv des Traums in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Caroline Roeder (Hg.), Im Wunder-Schlummer-Land. Traum und TrÀumen in Kinder- und Jugendmedien; Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek 68 (2016) 4, 3-12.
 
* Dankert, Birgit: Astrid Lindgren. Eine lebenslange Kindheit. Darmstadt: Lambert Schneider 2013.
 
* Dankert, Birgit: Astrid Lindgren. Eine lebenslange Kindheit. Darmstadt: Lambert Schneider 2013.
 
* Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur''.'' Berlin: Aktualis 2007.
 
* Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur''.'' Berlin: Aktualis 2007.
 
* Geisel, Sieglinde: KinderwunschtrĂ€ume und Kinderwirklichkeiten. In: Neue ZĂŒrcher Zeitung 10.11.2007; https://www.nzz.ch/kinderwunschtraeume_und_kinderwirklichkeiten-1.582172.
 
* Geisel, Sieglinde: KinderwunschtrĂ€ume und Kinderwirklichkeiten. In: Neue ZĂŒrcher Zeitung 10.11.2007; https://www.nzz.ch/kinderwunschtraeume_und_kinderwirklichkeiten-1.582172.
 +
* Kindt, Tom/Tilmann Köppe: Unreliable Narration With a Narrator and Without. In: Journal of Literary Theory 5 (2011), 81–94.
 
* Liebs, Elke: Die Sehnsucht zum Tode. Selbstmord in der Jugendliteratur. In: Der Deutschunterricht 54 (2002), 60-71.
 
* Liebs, Elke: Die Sehnsucht zum Tode. Selbstmord in der Jugendliteratur. In: Der Deutschunterricht 54 (2002), 60-71.
 
* Matthias, Dieter: Springe, und du wirst aufgefangen! Zur Gestaltung von Trost in der Verfilmung der ''BrĂŒder Löwenherz''. Ein Unterrichtsmodell fĂŒr die Sekundarstufe 1. In: Praxis Deutsch 24 (1997) 146, 41-47.
 
* Matthias, Dieter: Springe, und du wirst aufgefangen! Zur Gestaltung von Trost in der Verfilmung der ''BrĂŒder Löwenherz''. Ein Unterrichtsmodell fĂŒr die Sekundarstufe 1. In: Praxis Deutsch 24 (1997) 146, 41-47.
 
* Metcalf, Eva-Maria: Leap of Faith in Astrid Lindgren’s ''Brothers Lionheart''. In: Children’s Literature 23 (1995). 165–178.
 
* Metcalf, Eva-Maria: Leap of Faith in Astrid Lindgren’s ''Brothers Lionheart''. In: Children’s Literature 23 (1995). 165–178.
−
* Reinbold, Stephanie: UnzuverlĂ€ssigkeit als Interpretationsstrategie? Analyse der ErzĂ€hltechnik in Astrid Lindgrens phantastischen Romanen ''Mio, mein Mio'' und ''Die BrĂŒder Löwenherz''. In: kjl&m 59 (2007) 4, 11-18.  
+
* NĂŒnning, Ansgar: 'Unreliable Narration' zur EinfĂŒhrung. GrundzĂŒge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwĂŒrdigen ErzĂ€hlens. In: Ders. (ed.), Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwĂŒrdigen ErzĂ€hlens in der englischsprachigen ErzĂ€hlliteratur. Trier: WVT 1998, 3–39.
 +
* Reinbold, Stephanie: UnzuverlĂ€ssigkeit als Interpretationsstrategie? Analyse der ErzĂ€hltechnik in Astrid Lindgrens phantastischen Romanen ''Mio, mein Mio'' und ''Die BrĂŒder Löwenherz''. In: kjl&m 59 (2007) 4, 11-18.
 +
* Steinlein, RĂŒdiger: "eigentlich sind es nur TrĂ€ume". Der Traum als Motiv und Narrativ in mĂ€rchenhaft-phantastischer Kinderliteratur von E.T.A. Hoffmann bis Paul Maar. In: Inge Stephan (Hg.), Literatur – Traum – Film; Zeitschrift fĂŒr Germanistik NF 18 (2008), 72-86.
 
* Törnqvist, Egil: Astrid Lindgrens holvsaga. BerÀttartekniken i ''Bröderna LejonhjÀrta''. In: Svensk Litteraturtidskrift 2 (1975), 17-34.
 
* Törnqvist, Egil: Astrid Lindgrens holvsaga. BerÀttartekniken i ''Bröderna LejonhjÀrta''. In: Svensk Litteraturtidskrift 2 (1975), 17-34.
−
 
  
 
==Anmerkungen==
 
==Anmerkungen==
 
<references />
 
<references />
 +
  
  
Zeile 103: Zeile 151:
 
Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:
 
Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:
  
−
Mehrbrey, Sophia: "Die BrĂŒder Löwenherz" (Astrid Lindgren). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2020; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Tageb%C3%BCcher%22_(Ulrich_Br%C3%A4ker) .
+
Mehrbrey, Sophia: "Die BrĂŒder Löwenherz" (Astrid Lindgren). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2020; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Die_Br%C3%BCder_L%C3%B6wenherz%22_(Lindgren,_Astrid).
  
 
|}
 
|}
 +
 +
[[Kategorie:Lindgren,_Astrid|Astrid Lindgren]]
 +
[[Kategorie:Kinder- und Jugendliteratur]]
 +
[[Kategorie:20. Jahrhundert]]
 +
[[Kategorie:Gegenwart]]
 +
[[Kategorie:Schweden]]
 +
[[Kategorie:Phantastik]]

Version vom 16. November 2020, 10:09 Uhr

Die BrĂŒder Löwenherz, schwed. Erstausgabe

Die BrĂŒder Löwenherz (schwedisch: Bröderna LejonhjĂ€rta) ist ein 1973 erschienener Kinder- und Jugendroman der schwedischen Autorin Astrid Lindgren (1907–2002). Er zĂ€hlt, neben Mio, mein Mio (1954) zu ihren bekanntesten fantastischen ErzĂ€hlungen. Das Buch beschreibt die gemeinsamen Abenteuer der BrĂŒder Jonathan und Karl, genannt KrĂŒmel, im mittelalterlich-fantastischen Land Nanguijala, in das sie (vermutlich) nach ihrem Tod gelangen. Nach einer kurzen Zeit der Idylle, beginnt ein erbitterter Kampf gegen den Tyrannen Tengil und sein Ungeheuer Katla.


Astrid Lindgren

Schon ihr erster, und bekanntester, Roman Pippi Langstrumpf (1945) weist, nach der "maximalistischen Definition" fantastischer Literatur - die alle Texte einschließt, in denen die Naturgesetze verletzt werden (U. Durst 2007) - fantastische Merkmale auf.[1] Gleichzeitig ist Astrid Lindgren vor allem fĂŒr ihren bestechenden und oft kritischen Realismus bekannt, der auch in ihren fantastischen ErzĂ€hlungen nicht fehlt. Eine aufmerksame Beobachtung der kindlichen Psyche, sowie ein „kritischer“ Blick auf gesellschaftliche Fragestellungen zeichnen alle ihre Texte aus. Sieglinde Geisel spricht in einem Artikel fĂŒr die NZZ von einem „magischen Realismus der Kindheit“ (S. Geisel 2007). In diesem Zusammenhang hat Astrid Lindgren auch wiederholt die Bedeutung der Fantasie fĂŒr die Weltwahrnehmung und Weltgestaltung betont:

Alles, was an Großem in der Welt geschah, vollzog sich zuerst in der Phantasie des Menschen.[2]

Der Traum, gleichzeitig perfekter Zufluchtsort der kindlichen Fantasie und Konfrontationsraum des Selbst mit dem Unbewussten, spielt in Lindgrens Texten wiederholt eine Rolle. Wie Die BrĂŒder Löwenherz weist auch Mios Reise ins Land der Ferne traumhafte Elemente auf. Zudem erwĂ€hnt Mio die tatsĂ€chlichen AlptrĂ€ume, die ihn in seinem frĂŒheren Leben geprĂ€gt haben:

Im Traum bin ich manchmal durch dunkle HĂ€user gegangen, die ich nicht kannte. Unbekannte, entsetzliche HĂ€user mit schwarzen Zimmern, die mich umschlossen, bis ich nicht mehr atmen konnte, mit Fußböden, die sich gerade dort, wo ich gehen wollte, zu jĂ€hen Tiefen öffneten, mit Treppen, die zusammenstĂŒrzten und mich mitrissen. Aber kein Haus im Traum war so entsetzlich, so furchtbar wie Ritter Katos Burg (A. Lindgren 1955, 142).

Der Traum wird somit zu einer Art Parabel des Lebens. Auch in Ferien auf Saltkrokan (1964) wird der Traum zum Anstoß, ĂŒber das menschliche Leben nachzudenken:

Im Traum lÀuft man manchmal und sucht. Man muss unbedingt jemanden finden. Und man hat es so eilig. Es gilt das Leben. Man lÀuft voller Angst dahin, sucht immer angstvoller, man findet aber nie, den man sucht. Alles ist vergeblich (A. Lindgren 2007, 320).

So wird der Traum bei Astrid Lindgren nicht nur zu einem Ort, an dem die kindliche Fantasie auf besonders produktive Weise operiert, sondern ermöglicht es der Autorin auch, Probleme und Krisensituationen des menschlichen Lebens kindgerecht aufzuarbeiten. Wie in den beiden oben zitierten Ausschnitten, spielt in Die BrĂŒder Löwenherz der Umgang mit der Angst dabei eine besonders wichtige Rolle.[3]

Inhalt

Der zehnjĂ€hrige Karl Löwe, genannt KrĂŒmel, ist krank. Als er durch ein GesprĂ€ch zwischen seiner Mutter und einer ihrer Kundinnen erfĂ€hrt, dass er sterben wird, ĂŒberwĂ€ltigt ihn die Angst. Um ihn zu beruhigen, erfindet sein drei Jahre Ă€lterer Bruder Jonathan das sagenumwobene Land Nangijala, in das KrĂŒmel und er nach ihrem Tod gelangen werden und in dem ein besseres Leben auf sie wartet. Doch dann stirbt Jonathan unerwartet vor KrĂŒmel. Um sich und seinen Bruder aus der in Flammen aufgegangenen Wohnung zu retten, wagt er, mit KrĂŒmel auf dem RĂŒcken, den Sprung aus dem KĂŒchenfenster und kommt dabei ums Leben. Wenig spĂ€ter stirbt auch KrĂŒmel - und tatsĂ€chlich treffen sich die beiden BrĂŒder in Nangijala wieder.

FĂŒr einen kurzen Moment genießen sie das idyllische Leben im Kirschtal. Doch dann muss Jonathan aufbrechen, um den Menschen im Heckenrosental im Kampf gegen den Tyrannen Tengil und sein Ungeheuer Katla zu helfen. Im Traum hört KrĂŒmel Jonathans Hilferufe und beschließt trotz seiner Angst, ihm zu Hilfe zu eilen. Beim alten Matthias im Heckenrosental finden sie Zuflucht und UnterstĂŒtzung. Auf die beiden Jungen wartet jedoch eine schwierige Aufgabe: die Befreiung Orwars, des AnfĂŒhrers der Rebellen, aus der Katlahöhle. Nur mit MĂŒhe gelingt ihnen diese Heldentat. Kurz darauf kommt es zum finalen Kampf zwischen Tengils Schergen und den Einwohnern des Heckenrosentals. Erst als Jonathan es schafft, Tengil die Lure (eine altertĂŒmliche Trompete) abzunehmen, durch deren Klang er das Drachenweibchen Katla beherrscht, kann der Kampf zugunsten des Heckenrosentals entschieden werden.

Eine letzte Aufgabe steht den BrĂŒdern nun bevor: Mit Hilfe der Lure wollen sie Katla zurĂŒck in die Tiefen bringen, aus denen sie ausgebrochen ist. Doch auf dem Weg verliert Jonathan die Lure. Wieder ihres eigenen Willens Herrin, jagt Katla die beiden BrĂŒder bis an einen Fluss, in dem der Lindwurm Karm lebt. In einem erbitterten Kampf töten sich die beiden Ungeheuer. Doch die Jungen haben keinen Grund zur Freude, denn Jonathan wurde von Katlas Flamme berĂŒhrt, die ihn völlig gelĂ€hmt zurĂŒcklĂ€sst. Unentschlossen was nun zu tun ist, erzĂ€hlt Jonathan KrĂŒmel von Nangilima, einem Land, in dem wirklich jeder in Frieden lebt und so beschließen die beiden Jungen Nangijala gemeinsam den RĂŒcken zu kehren. Diesmal ist es KrĂŒmel, der seinen Bruder auf den RĂŒcken lĂ€dt und gemeinsam mit ihm in den Abgrund springt – in den Tod, nach Nangilima.

UnzuverlÀssiges ErzÀhlen

In Die BrĂŒder Löwenherz haben wir es mit einer sogenannten 'unzuverlĂ€ssigen ErzĂ€hlweise' zu tun,[4] da die Geschichte es dem Leser ĂŒberlĂ€sst, ob er die Reise in ein Fantasieland fĂŒr wahr hĂ€lt oder ob er davon ausgeht, dass sie nur in den FiebertrĂ€umen des Protagonisten existiert. Der Ich-ErzĂ€hler KrĂŒmel ist dabei selbst verantwortlich fĂŒr die Zweifel, die beim Leser aufkommen können.

Zweifel an der Wahrhaftigkeit der ErzĂ€hlung entstehen besonders am Anfang der Geschichte, als KrĂŒmel auf seinen Tod wartet (S. Reinbold 2007, 18; E Törnqvist 1975, 18 u. 28). Weil er wiederholt zwischen PrĂ€sens und PrĂ€teritum wechselt, bleibt die ErzĂ€hlsituation unklar: LĂ€sst uns der junge Held an seiner Geschichte teilhaben, nachdem er sie erlebt hat, also sich in Nangilima aufhĂ€lt, oder entsteht die ErzĂ€hlung zeitgleich zu den fieberhaften TrĂ€umen des kranken Jungen, in denen er sich Nangijala ausmalt? Gerade die Schilderung des eigenen Todes bleibt vage und kann auch als ein Einschlafen und HinĂŒbergleiten in einen Traum gelesen werden:

Aber jetzt komme ich auch bald nach Nangijala. Bald, bald werde ich dorthinfliegen. Vielleicht heute Nacht. Mir ist, als könnte es heute Nacht sein. Ich will einen Zettel schreiben und ihn auf den KĂŒchentisch legen, damit Mama ihn morgen frĂŒh findet.
Und das soll auf dem Zettel stehen:
„Weine nicht, Mama! Wir sehen uns wieder in Nangijala!“
Dann geschah es. Etwas Seltsameres habe ich nie erlebt. Ganz plötzlich stand ich einfach vor der Gartenpforte und las auf dem Schild: Die BrĂŒder Löwenherz.
Wie kam ich dorthin? Wann flog ich? Wie konnte ich den Weg finden, ohne jemanden danach zu fragen? Das weiß ich nicht (BL 20 f.).

Wie auch beim Einschlafen ist der Moment des Übertritts von einem Bewusstseinszustand in den anderen ausgeblendet, da KrĂŒmel nicht in der Lage ist, diesen in seinem Bewusstsein genau zu situieren. Wie beim Einschlafen und HinĂŒbergleiten in den Traumzustand brechen auch hier die bewussten GedankenvorgĂ€nge plötzlich ab, um dann in medias res die ErzĂ€hlung des Traumgeschehens beginnen zu lassen.

Astrid Lindgren hĂŒtet sich davor, diese Doppeldeutigkeit aufzuheben. KrĂŒmels finaler Ausruf „Ich sehe das Licht“ (BL 238) wurde dennoch oft als Beleg dafĂŒr gedeutet, dass das Buch mit dem realen Tod des Protagonisten endet, die davor liegenden Ereignisse folglich seiner Einbildung entspringen.

Von Kritikern wurden Astrid Lindgren beide Lesarten zum Vorwurf gemacht. Die kindliche, weil sie der/m Lesenden eine verharmlosende Sicht auf den Tod bietet, die erwachsene, weil das harte Schicksal der beiden BrĂŒder den kindlichen LeserInnen den Tod und seine Schrecken zu brutal vor Augen fĂŒhren wĂŒrde (E. Liebs 2002, ##; D. Matthias 1997, ###; E.-M. Metcalf 1995, ##). Dennoch wurde der Roman ein internationaler Erfolg und 1979 mit dem Internationalen Janusz-Korczak-Literaturpreis und dem Wilhelm-Hauff-Preis ausgezeichnet.


Traumerfahrung

Alles nur ein (Fieber-)traum?

Durch die unzuverlĂ€ssige ErzĂ€hlstrategie, eröffnet Astrid Lindgren der/m Lesenden die Möglichkeit, KrĂŒmels und Jonathans Abenteuer als eine Reihe von FiebertrĂ€umen zu verstehen, die KrĂŒmels tatsĂ€chlichem Tod vorangehen. Auch die ErzĂ€hlung der Abenteuer in Nangijala versieht die Autorin mehrmals mit symbolisch aufgeladenen Anzeichen fĂŒr die Traumhaftigkeit der Erfahrung. In erster Linie ist hier das Auftreten des Drachenweibchens Katla von Interesse. Aus der „Urzeitnacht“ (BL 167) auftauchend, erinnert ihr plötzliches Erscheinen in der Geschichte und somit an der OberflĂ€che der Wirklichkeit an das Aufbrechen des Unbewussten im Bewusstsein. Somit erscheint die Figur der Katla wie eine Allegorie des Todes, ihr Auftreten als gleichbedeutend mit KrĂŒmels Angst vor dem Tod. Vom ersten Moment, als KrĂŒmel in Nangijala ankommt, hĂ€ngt der Name des Monsters bedrohlich ĂŒber dem Leben im Kirschtal, so wie der Tod ĂŒber KrĂŒmels Leben hing. Ähnlich dem Tod reicht die bloße Aussprache des Namens aus, um die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen; wie der Tod bleibt auch Katla lange Zeit „nichts weiter als ein abscheulicher Name“ (BL 132), nĂ€mlich eine abstrakte, schwer fassbare Gefahr. Als die beiden BrĂŒder Katla schließlich das erste Mal mit eigenen Augen sehen, sind sie wie gelĂ€hmt vor Schrecken. Jonathan ist der erste, der sie erblickt: „Ich habe Katla gesehen“ (BL 105), flĂŒstert er, bevor es ihm die Stimme verschlĂ€gt – auf eine eingehendere Beschreibung wartet der Leser so vergebens. Als KrĂŒmel mit der gleichen Erfahrung konfrontiert wird, endet das Kapitel mit demselben Satz. So ist der Leser gezwungen, erst die Seite umzublĂ€ttern, bevor er endlich eine klarere Vorstellung von diesem uralten Ungeheuer bekommt – der Tod könnte nicht weniger ungreifbar sein. Das folgende Kapitel beginnt mit den Worten:

Ja, ich sah Katla, und dann weiß ich nicht mehr, was geschah. Ich sank in eine schwarze Tiefe hinab und erwachte erst wieder, als das Unwetter vorĂŒber war und es ĂŒber den Gipfeln heller zu werden begann. Ich lag mit dem Kopf in Jonathans Schoß. Der Schrecken saß wieder in mir, sobald ich mich erinnerte (BL 170).

Die Situation erinnert an den Beginn des Romans, als Jonathan seinen von Todesangst ergriffenen Bruder mit der Geschichte von Nangijala tröstet. Die Verweise auf die reale Welt sind hĂ€ufiger, als es zunĂ€chst scheinen mag. Am bedeutendsten ist der Moment, in dem KrĂŒmel von seinem Bruder in Not trĂ€umt – ein Traum, der so realistisch ist, dass der junge Held meint, er mĂŒsse ihm zu Hilfe eilen. Doch er fĂŒhlt sich von Angst und vor allem von einem GefĂŒhl der Hilflosigkeit gepackt:

Was konnte ich schon tun, niemand war so hilflos wie ich! Ich konnte nur in mein Bett zurĂŒckkriechen, und dort lag ich dann zitternd und fĂŒhlte mich so verloren, klein und verĂ€ngstigt und einsam, so einsam wie niemand sonst auf der Welt“ (BL 64).

Das Bett, an das der Junge sich gefesselt fĂŒhlt, erinnert an das Bild des kranken Jungen, dessen Existenz darauf beschrĂ€nkt war, passiv auf den Tod zu warten. Dieses GefĂŒhl der Machtlosigkeit passt eigentlich nicht zu dem in Nangijala erstarkten Karl Löwenherz und verweist zweifellos auf die Ausgangssituation in der realen Welt. Die Abenteuer in Nangijala entpuppen sich so vor allem als eine mentale Vorbereitung auf den Tod. Die wiederholten Verweise auf die reale Lebenssituation des Protagonisten stĂ€rken die Interpretation der Geschichte als reine Traumerfahrung.

Der Traum im Traum

ZusĂ€tzlich zu der Möglichkeit, die gesamte Geschichte als einen Fiebertraum des Protagonisten zu lesen, baut Astrid Lindgren auch einen eindeutig markierten Alptraum in ihre ErzĂ€hlung ein. Wie bereits erwĂ€hnt, trĂ€umt KrĂŒmel, allein im Kirschtal zurĂŒckgeblieben, von seinem Bruder Jonathan, der ihn verzweifelt um Hilfe anruft:

Ich fror, als ich auf meine Schlafbank kroch, dennoch schlief ich bald ein. Und ich trÀumte von Jonathan. Ein Traum so grauenvoll, dass ich davon aufwachte.
„Ja, Jonathan“, schrie ich. „Ich komme!“ schrie ich und stĂŒrzte aus dem Bett. Die Dunkelheit ringsum schien widerzuhallen von Schreien, von Jonathans Schreien! Er hatte im Traum nach mir gerufen, er brauchte Hilfe. Ich wusste es (BL 63 f.).

Als die beiden BrĂŒder wieder vereint sind, wird klar, dass es sich bei KrĂŒmels Traum nicht um einen einfachen Angsttraum gehandelt hat, sondern dass Jonathans Verzweiflung, als er dem Ungeheuer Katla zum ersten Mal begegnete, so groß war, dass KrĂŒmel diese im Schlaf spĂŒren konnte (BL 105). Je nach Lesart kann der Traum somit entweder als Vision oder als Traum im Traum verstanden werden. Versteht man die Abenteuer in Nangijala als ein Leben nach dem Tod, gesteht man den BrĂŒdern tatsĂ€chlich eine ĂŒbersinnliche Verbindung zu. Geht man hingegen davon aus, dass die ganze Geschichte nur in KrĂŒmels Delirium entsteht, verliert der visionĂ€re Charakter dieses Traums im Traum an Bedeutung.


Nangijala als universelles Traumreich

Der Eindruck, dass Nangijala ein Traumreich ist, wird vor allem durch KrĂŒmels subjektive Perspektive erweckt. In seiner Wahrnehmung kommt dem Protagonisten und Ich-ErzĂ€hler das sagenumwobene Universum Nangijalas oft unwirklich vor. Zweimal sucht er in seiner ErzĂ€hlung den expliziten Vergleich zwischen dem Erlebten und einer traumhaften Erfahrung. Als er vom Kirsch- ins Heckenrosental reitet, um seinen Ă€lteren Bruder zu finden, kommt ihm die schauerlich schöne Landschaft wie aus einem Traum vor:

Denn hier gab es SteilhĂ€nge und AbgrĂŒnde, dass einem schwindelte vor so viel schrecklicher Schönheit. Es war, als reite man in einem Traum, ja, diese ganze Mondscheinlandschaft kann es nur in einem schönen und wilden Traum geben, dachte ich und sagte zu Fjalar: „Wer, glaubst du, trĂ€umt dies wohl? Ich jedenfalls nicht. Es muss jemand anders sein, der sich so ĂŒbernatĂŒrlich Schreckliches und Schönes zusammengetrĂ€umt hat“ (BL 78).

WĂ€hrend die Geschichte einen klaren Gegensatz zwischen Gut und Böse entwirft, schwankt die von KrĂŒmel beschriebene AtmosphĂ€re zwischen erhabener Schönheit und bedrohlichem Schrecken. Noch wichtiger ist, dass KrĂŒmel sich dabei von der Traumerfahrung zu distanzieren scheint, was auf eine Unterscheidung zwischen dem bewussten Selbst und dem unbewussten Es hindeutet. SpĂ€ter in der Geschichte, als die beiden BrĂŒder aufbrechen, um Orwar, den AnfĂŒhrer der Rebellen, zu befreien, verweist KrĂŒmel erneut auf die traumhafte Dimension Nangijalas:

Es war ein fĂŒrchterlicher Platz, schrecklich und schön wie kein anderer im Himmel oder auf Erden, glaub ich. Die Berge und der Fluss und der Wasserfall, alles war so riesig und ĂŒberwĂ€ltigend. Wieder war mir wie in einem Traum, und ich sagte zu Jonathan: „Glaub nicht, dass dies Wirklichkeit ist! Es muss ein StĂŒck aus einem Urzeittraum sein, ganz bestimmt!“ (BL 164).

Erneut distanziert sich KrĂŒmel vom trĂ€umenden Subjekt und beschreibt die Landschaft wie das Resultat eines kollektiven Traums aus der Urzeit. Nangijala wird so im wahrsten Sinne des Wortes zu einem Traumreich. Die Anspielung auf die mythische Vergangenheit hilft auch, eine Verbindung zwischen der traumhaften Stimmung und dem Monster Katla herzustellen. Um Orwar zu befreien, mĂŒssen die beiden BrĂŒder in den Berg hinabsteigen, der von Katla bewohnt wird und dessen Windungen so zahlreich sind wie die der menschlichen Psyche. TatsĂ€chlich erklĂ€rt KrĂŒmel: „In dieses schwarze Loch hineinzukriechen, das war wie in einen bösen schwarzen Traum einzutauchen“ (BL 181). Erneut erscheint die Figur der Katla als Metapher der Ängste, die den Jungen in den Tiefen seines Unbewussten erwarten und Nangijala wie ein Reich des universellen TrĂ€umens.


Sophia Mehrbrey

Literatur

Ausgaben

  • Lindgren, Astrid: Mio, mein Mio [Mio, min Mio, 1954]. Übers. von Karl Kurt Peters, Ill. von Ilon Wikland. Hamburg: Oetinger 1955.
  • Lindgren, Astrid: Ferien auf Saltkrokan [Vi pĂ„ SaltkrĂ„kan, 1964]. Übers. von Thyra Dohrenburg. Hamburg: Oetinger 2007.


Verfilmung


Forschungsliteratur

  • Abraham, Ulf: Traumtage - NachttrĂ€ume. Das Motiv des Traums in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Caroline Roeder (Hg.), Im Wunder-Schlummer-Land. Traum und TrĂ€umen in Kinder- und Jugendmedien; Kinder-/Jugendliteratur und Medien in Forschung, Schule und Bibliothek 68 (2016) 4, 3-12.
  • Dankert, Birgit: Astrid Lindgren. Eine lebenslange Kindheit. Darmstadt: Lambert Schneider 2013.
  • Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur. Berlin: Aktualis 2007.
  • Geisel, Sieglinde: KinderwunschtrĂ€ume und Kinderwirklichkeiten. In: Neue ZĂŒrcher Zeitung 10.11.2007; https://www.nzz.ch/kinderwunschtraeume_und_kinderwirklichkeiten-1.582172.
  • Kindt, Tom/Tilmann Köppe: Unreliable Narration With a Narrator and Without. In: Journal of Literary Theory 5 (2011), 81–94.
  • Liebs, Elke: Die Sehnsucht zum Tode. Selbstmord in der Jugendliteratur. In: Der Deutschunterricht 54 (2002), 60-71.
  • Matthias, Dieter: Springe, und du wirst aufgefangen! Zur Gestaltung von Trost in der Verfilmung der BrĂŒder Löwenherz. Ein Unterrichtsmodell fĂŒr die Sekundarstufe 1. In: Praxis Deutsch 24 (1997) 146, 41-47.
  • Metcalf, Eva-Maria: Leap of Faith in Astrid Lindgren’s Brothers Lionheart. In: Children’s Literature 23 (1995). 165–178.
  • NĂŒnning, Ansgar: 'Unreliable Narration' zur EinfĂŒhrung. GrundzĂŒge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwĂŒrdigen ErzĂ€hlens. In: Ders. (ed.), Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwĂŒrdigen ErzĂ€hlens in der englischsprachigen ErzĂ€hlliteratur. Trier: WVT 1998, 3–39.
  • Reinbold, Stephanie: UnzuverlĂ€ssigkeit als Interpretationsstrategie? Analyse der ErzĂ€hltechnik in Astrid Lindgrens phantastischen Romanen Mio, mein Mio und Die BrĂŒder Löwenherz. In: kjl&m 59 (2007) 4, 11-18.
  • Steinlein, RĂŒdiger: "eigentlich sind es nur TrĂ€ume". Der Traum als Motiv und Narrativ in mĂ€rchenhaft-phantastischer Kinderliteratur von E.T.A. Hoffmann bis Paul Maar. In: Inge Stephan (Hg.), Literatur – Traum – Film; Zeitschrift fĂŒr Germanistik NF 18 (2008), 72-86.
  • Törnqvist, Egil: Astrid Lindgrens holvsaga. BerĂ€ttartekniken i Bröderna LejonhjĂ€rta. In: Svensk Litteraturtidskrift 2 (1975), 17-34.

Anmerkungen

  1. ↑ Die "minimalistische Definition" setzt darĂŒber hinaus voraus, dass es im Text einen unentschiedenen Konflikt zweier Wirklichkeitsordnungen gibt, der 'realistischen' und der 'fantastischen'.
  2. ↑ Astrid Lindgren, Darum brauchen Kinder BĂŒcher. Dankesrede anlĂ€sslich der Verleihung des Hans-Christian-Andersen-Preises 1958; https://www.astridlindgren.com/de/zitate.
  3. ↑ Zum Traum in der Kinder- und Jugendliteratur im Allgemeinen vgl. U. Abraham 2016, R. Steinlein 2008.
  4. ↑ Zum Begriff vgl. etwa A. NĂŒnning 1998, Kindt/Köppe 2011.


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Mehrbrey, Sophia: "Die BrĂŒder Löwenherz" (Astrid Lindgren). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropĂ€ische Traumkulturen", 2020; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%22Die_Br%C3%BCder_L%C3%B6wenherz%22_(Lindgren,_Astrid).