"Divina Commedia" (Dante Alighieri)

Die Divina Commedia (1321, ursprünglich Commedia, dt.: Die Göttliche Komödie), gilt als das Hauptwerk des italienischen Dichters Dante Alighieri (1265-1321). Der Begriff ‚Commedia‘ ist dabei nicht in seiner modernen Bedeutung als erheiternde oder gar burleske Textgattung zu verstehen, sondern in Opposition zur Tragödie, also als Erzählung mit positivem Ausgang (Stierle 2021). Die Arbeit an dem über 14.000 Verse umfassenden Poem nahm Dante in den Jahren des Exils auf und beendete diese erst kurz vor seinem Tod. Das Werk spielte eine entscheidende Rolle für die Etablierung des Italienischen, und insbesondere des Toskanischen, als Schriftsprache. Für die kulturhistorische und ästhetische Traumforschung ist die Commedia gleich doppelt relevant: Zum einen enthält sie mehrere binnenfiktionale, eindeutig markierte Träume; zum anderen kann der Text insgesamt als uneindeutig markierte Traumerzählung gelesen werden.


Autor

Dante Alighieri entstammt einer Florentiner Adelsfamilie. Über seine Ausbildung ist wenig bekannt. Der Großteil der biographischen Informationen entstammt autoreferentiellen Bemerkungen seiner literarischen Werke, der Gedichtsammlung Vita nova und der Divina Commedia. Eine entscheidende Rolle für beide Werke spielt Beatrice, der Dante im Alter von neun Jahren das erste Mal begegnet sein soll. Seine als rein und ideal inszenierte Liebe zu Beatrice bestimmt auch über deren frühen Tod im Jahr 1290 hinaus Dantes Leben und Wirken. Dabei folgt der Dichter den literarischen Konventionen des mittelalterlichen Minnesangs, indem er die extratextuelle Identität der Angebeteten stets verschleiert.

Neben der Divina Commedia findet man in der Vita nova ebenfalls mehrere Traumgedichte (Cervigni 1986, 39 f.). Auch in seiner philosophischen Abhandlung Convivio (1306) erwähnt Dante den Traum und seine Bedeutung für die menschliche Existenz:

vedemo continua esperienza de la nostra immortalita de ne le divinazioni de’ nostri sogni, le quali essere non potrebbono se in noi alcuna parte immortale non fosse; con ciò sia cosa che immortale convegna essere lo rivelante, [o corporeo] o incorporeo che sia, se bene si pensa sottilmente (Convivio II, 8, 13).
Wir erfahren in den Weissagungen unserer Träume fortwährend unsere Unsterblichkeit, was nicht möglich wäre, wenn es keinen unsterblichen Teil in uns gäbe; daher muss der Offenbarer, wenn man es subtil durchdenkt, ob körperlich oder unkörperlich, unsterblich sein (Eigene Übersetzung).

Die Idee, dass der Traum den Menschen mit seiner eigenen Unsterblichkeit in Berührung bringt, spielt auch für die Commedia eine Rolle, wo die göttliche Offenbarung das Ergebnis eines traumhaften Rückzugs in die Tiefen der eigenen Imagination ist.


Einordnung in zeitgenössische Traumdiskurse

In literarischen Texten des Mittelalters wird Träumen vermehrt eine prophetische Dimension zugeschrieben (Haag 2003, Heiduk u.a. 2021). Auch Dantes Texte sind informiert von mittelalterlichen Traumtheorien, die, aufbauend auf antiken Vorstellungen, eine enge Verbindung von Traum und Vision etablieren (Cervigni 1986, 23-37). Macrobius (ca. 385/90-nach 430) z.B. unterscheidet drei Typen eines oneirischen Bewusstseinszustand: somnium (ein Traum, der gedeutet werden muss), visio (eine prophetische Vision) und oraculum (eine göttliche Offenbarung). Auch Augustinus (354-430) unterscheidet im zwölften Buch seines Werkes Über den Wortlaut der Genesis (Kap. VII, 9) drei Stufen der mystischen Erfahrung: Die erste, die visio corporalis betrifft einen physiologischen Vorgang des Sehens, während die zweite, die visio spiritualis, die inneren Sinne mobilisiert. Sie ist also der Imagination nahe und ereignet sich vorrangig im Traum. Die dritte Stufe, die visio intellectualis, ereignet sich jenseits der Bildlichkeit und eröffnet dem Menschen Zugang zur göttlichen Erfahrung über Ekstase, Traum oder Traumdeutung.

Ab dem 13. Jahrhundert kommt es jedoch im Zuge einer erneuten Beschäftigung mit der aristotelischen Schule durch die Scholastiker zu einem bis dahin unbekannten physiologischen Interesse für das menschliche Träumen jenseits der religiös-mystischen Vereinnahmung. Albertus Magnus (ca.1200-1280) z.B. plädiert in seinem Werk De somno et vigilia dafür, den Traum primär als körperlichen Vorgang zu verstehen (Lerner 1995, 16). Auch diese physiologische Faszination für das Träumen ist in Dantes Werk erkennbar.


Traum und Träumen in der Divina Commedia

Die Commedia beschreibt die Reise des Ich-Erzählers Dante durch die drei Jenseitsreiche: Inferno (Hölle), Purgatorio (Fegefeuer) und Paradiso (Paradies). Geleitet wird Dante dabei insbesondere von der Seele des römischen Dichters Vergil – vermutlich eine Hommage an Dantes literarisches Vorbild, da Vergil in seiner Aeneis eine in einigen Punkten ähnliche Jenseitsreise des eponymen Helden inszeniert. Jedes Reich ist in weitere räumliche Abschnitte unterteilt, wie z.B. die neun Höllenkreise, in denen Dante jeweils mit unterschiedlichen ‚Typen‘ von Seelen sowie historischen Figuren unterschiedlicher Epochen konfrontiert wird. Auf der Schwelle zwischen Purgatorio und Paradiso begegnet der Ich-Erzähler seiner Geliebten – die Erinnerung an die Verstorbene spielt jedoch bereits zuvor in Dantes Träumen eine Rolle.


Dantes Traumreise

Ob die Divina Commedia als Traumreise gelesen werden kann und soll, wurde in der Forschung wiederholt diskutiert. Charles Singleton verweist z.B. darauf, dass die Reise durch die Jenseitsreiche nirgends eindeutig als Traum ausgezeichnet wird (1978, 88), während Barolini dafür plädiert, die Interpretation des Werks nicht maßgeblich auf die Rezeption zeitgenössischer Traum- und Visionsliteratur aufzubauen, da Dantes Innovation gerade in der Abkehr von der Traumerfahrung als Legitimierung der übernatürlichen Erfahrung liege (1992, 143 f.). Für Hermann Gmelin hingegen präsentiert sich die binnenfiktionale Welt der Commedia als eine „Traumlandschaft“ (1954, 27). Im Folgenden soll auf die Elemente eingegangen werden, die eine Interpretation des Poems als Traumreise nahelegen.

Neben der Referenz auf ein antikes Vorbild, lässt sich in der Commedia auch der Einfluss zeitgenössischer Dichtung feststellen. So lässt sich die Commedia in die Tradition der im Mittelalter verbreiteten allegorischen Traumdichtung einordnen (Münchberg 2020, 296 f.). Insbesondere kann die Eingangsszene als Referenz auf eine Traumdichtung von Aegidius Colonna (1607-1686) gelesen werden, in der der Ich-Erzähler sich ebenfalls in einem dunklen Wald befindet, wo ihn der Schlaf übermannt und ihm eine Vision zuteil wird (Barucci 2012, 34). Gleichzeitig spiegelt sich in Dantes Werk auch die Beschäftigung mit den politischen Konflikten seiner Zeit, insbesondere dem zwischen Ghibellinen und Guelfen (Kaiser- und Pabstanhängern). Dazu bemerkt Dorothea Scholl: "Dante präsentierte seine Göttliche Komödie als literarischen Ausdruck einer Traumvision, in der verschiedene weltliche und geistliche Herrscher vergangener Zeiten dem Gottesgericht unterworfen werden" (Scholl 2008, 115).

Die Commedia ist narrativ so gerahmt, dass die Leser:in die Reise als einen uneindeutig markierten Traum verstehen kann (Kreuzer 2014, 90), da der Ich-Erzähler Anhaltspunkte für Einschlafen und Aufwachen zu Beginn und am Ende des Texts liefert, die jedoch keine scharfe Trennlinie zwischen Traum und Wachzustand konstituieren. Zu Beginn des ersten Gesangs des Inferno, als Dante sich im Wald der Sünde verirrt, stellt er seine Orientierungslosigkeit in einen Zusammenhang mit seiner geistigen Verwirrung:

Io non so ben ridir com’ i’ v’intrai,
tant’era pien di sonno a quel punto
che la verace via abbandonai (Inferno I, 10-12).
Ich kann es nicht richtig wiedergeben,/ wie ich dort hineingeraten bin, so sehr war ich voll Schlafes/ in jenem Augenblick, als ich den wahren Weg verließ.

Durch den expliziten Verweis auf den Schlaf lädt Dante seine Leser:innen dazu ein, den darauffolgenden plötzlichen Ortswechsel (statt im Wald findet er sich nun im ersten Höllenkreis wider) als ein Hinübergleiten in den Schlaf und ‚Erwachen im Traum‘ zu deuten. Allerdings ist die Ausweisung als Traum oder Vision weniger offensichtlich als bei Colonna. Darüber hinaus wurde auch der erste Vers („Nel mezzo del camin di nostra vita“/ „In der Mitte unserer Lebensbahn“) als Verweis auf einen Traumzustand gedeutet – in Anlehnung an die antike Mythologie, in der der Schlaf als Zwischenzustand zwischen Leben und Tod figurierte (Harst 2018, 218). Frühe Kommentatoren haben in diesem Vers zudem eine Zeitangabe erkannt, die auf den frühen Morgen hindeutet – den Augenblick, in dem Menschen vermehrt prophetische Träume erfahren (Barucci 2012, 34).

Am Ende der Commedia beschreibt Dante seine Begegnung mit Gott als einen Traum, an dessen erregende Bilder er sich im Nachhinein nicht erinnern kann, sodass er sie auch sprachlich nicht wiedergeben zu vermag:

Qual è colüi che sognando vede,
che dopo ’l sogno la passione impressa
rimane, e l’altro a la mente non riede,
cotal son io, ché quasi tutta cessa
mia visïone, e ancor mi distilla
nel core il dolce che nacque da essa (Paradiso XXXIII, 58-61).
Wie einer, der im Traume etwas sieht/ und nach dem Traum bleibt die erfahrene Empfindung/ und das übrige kehrt nicht ins Gedächtnis zurück,/ so bin ich, denn mein Gesicht ist fast ganz vergangen,/ und noch immer träufelt mir ins Herz die Süße,/ die von ihm ausging.

Erneut impliziert der Erzähler damit, dass die Reise durch die Jenseitsreiche, dessen Abschluss die Begegnung mit Gott darstellt, als eine Traumerfahrung verstanden werden kann, die der Ich-Erzähler nachträglich wiederzugeben versucht. Da diese Traummarkierungen sich jedoch beide als ambivalent präsentieren, bleibt es letztlich der Leser:in überlassen, zu entscheiden, ob der Traum nur als Parabel verstanden wird, in der die Erfahrung des Göttlichen wie ein Traum erscheint, ob die Eingangspassage als ein Einschlafen und im Traum ‚wieder Erwachen‘ gelesen wird, oder ob die Reise nicht als nächtliche Vision sondern als überirdisches Erlebnis interpretiert wird.


Markierte Träume in der Commedia

Sehr viel eindeutiger in der Narration herausgestellt, sind die drei Träume, die der Ich-Erzähler während seiner Reise erfährt. Alle drei Träume hat Dante im zweiten Teil des Werks, der die Erfahrungen im Purgatorio wiedergibt.

Erster Traum

Am Eingang zum Läuterungsberg versinkt Dante, erschöpft vom Aufstieg, in einen morgendlichen Schlaf und hat dort seinen ersten Traum. Wie bereits im Prolog wird hier die Zeit des Morgens als traumdeuterisch relevanter Moment mobilisiert: "Die Morgenstunde, in der die Schwalbe ihren traurigen Gesang anstimmt, ist die Zeit einer seherischen Wahrheit. Denn der Geist (mente) löst sich vom Körper, er beschäftigt sich nicht mehr mit den Gedanken, sondern ist für eine mystische Vision geöffnet" (Münchberg 2020, 292). Der Traum wird folgendermaßen wiedergegeben:

Nell’ora che comincia i tristi lai
la rondinella presso alla mattina,
[…]
in sogno mi parea veder sospesa
un’aguglia ne ciel con penne d’oro,
con l’ali aperte ed a calare intesa;
ed esser mi parea là dove foro
abbandonati i suoi da Ganimede,
quando fu ratto al sommo consistoro.
Fra me pensava: ‘Forse questa fiede
pur qui per uso, e forse d’altro loco
disdegna di portarne suso in piede.’
Poi mi parea che, poi rotata un poco,
terribil come folgor discendesse,
e me rapisse suso infino al foco.
Ivi parea che ella e io ardesse;
e sì lo ’ncendio imaginato cosse,
che convenne che ’l sonno si rompesse (Purgatorio IX, 13-33).
Zur Stunde, wenn die Schwalbe ihre traurigen Lieder anhebt,/ nahe zum Morgen,/ […]/ schien es mir im Traum, ich sah einen Adler mit Federn/ von Gold am Himmel schweben, mit offenen Flügeln/ und bereit herabzukommen;/ und es schien mir, ich war dort, wo von Ganymedes/ die Seinen verlassen wurden, als er entrückt wurde/ zur höchsten Ratsversammlung./ Bei mir dachte ich: ‚Vielleicht stößt dieser immer nur hier nach/ seiner Gewohnheit nieder und vielleicht verschmäht er es,/ von einem anderen Ort in den Fängen etwas emporzutragen.‘/ Dann schien es mir, daß er, nachdem er eine Weile/ gekreist hatte, erschreckend wie ein Blitzstrahl herabfuhr/ und mich entrückte bis zum Feuer./ Dort schien es, daß er und ich in Brand gerieten,/ und so sehr versengte mich die vorgestellte Feuersglut,/ daß der Schlaf zerschellen mußte.

Der Traum von einem goldgefiederten Adler, der aus dem Himmel herabstößt, um den Träumenden zu packen und in eine Feuersphäre zu verschleppen, in der dieser zu verglühen glaubt, lässt Dante vor Schreck erwachen. Er erkennt, dass Vergil bei ihm ist, der ihm zeigt, dass sie das Eingangstor zum Läuterungsberg erreicht haben. Die Deutung des Traums überlässt der Autor dem intradiegetischen Begleiter. Dieser berichtet Dante, die heilige Lucia sei während seines Schlafs erschienen und habe ihn bis zum Tor hinaufgetragen. Die unbewusste Traumerfahrung nimmt ihren Ursprung damit in einem externen Stimulus – das ‚Gepacktwerden‘ im Traum spiegelt das ‚Getragenwerden‘ während des Schlafs in der realen Welt wider. Während der Ich-Erzähler einerseits die sensorisch intensive Dimension des Traums rekonstruiert, markiert das Verb „parea“ in der nachträglichen Erzählung eine Differenz zwischen Wirklichkeit und Traumzustand.

Katharina Münchberg verweist jedoch darauf, dass die Traumbilder auch noch weiterreichende Bedeutungen haben: Der herabstürzende Adler stehe „für Christus, der Dantes Seele durch das Feuer zwischen Erdsphäre und Mondsphäre zu Gott erhebt“ (Münchberg 2020, 292). Neben dieser primären Bedeutung verweist sie auch noch auf andere allegorische Assoziationen: So wird in der Apokalypse ein Adler erwähnt, der die Menschen vor ihrer Sündhaftigkeit warnt. Dadurch lässt sich überdies ein Zusammenhang herstellen zu Beatrice und dem Wagen, auf dem sie das irdische Paradies durchquert, da der Wagen von einem Greifen mit goldenen Adlerflügeln gezogen wird. Dieser wiederum kann als Allegorie für Christus gedeutet werden (Münchberg 2020, 293). Auch das Feuer verweist auf bevorstehende Episoden wie das Läuterungsfeuer am Ende des Purgatorio oder die Feuersphäre, die die irdische Luft von der Mondsphäre trennt. Spannend ist in diesem Sinn, dass Dante mit diesen allegorischen Verweisen zwar eine prophetisch bzw. (aus narratologischer Sicht) proleptisch aufgeladene Deutung impliziert, explizit jedoch eine profane Erklärung anführt, die das Traumerleben in den Mittelpunkt der Narration stellt.

Zweiter Traum

In Purgatorio XIX hat Dante seinen zweiten Traum:

mi venne in sogno una femmina balba,
ne li occhi guercia, e sovra i piè distorta,
con le man monche, e di colore scialba (Purgatorio XIX, 7-9).
erschien mir im Traum ein stotterndes Weib,/ mit den Augen schielend, über den Füßen verkrümmt,/ mit verkrüppelten Händen, von Farbe totenbleich.

Die alte Frau nimmt alsbald die Gestalt einer Sirene an. Diese mag zunächst an die Odyssee erinnern: Gilt der Gesang der Sirenen dort jedoch als unwiderstehlich, konzentriert sich Dantes Traum auf andere sensorische Faktoren. Als Vergil im Traum der Sirene die Kleider vom Körper reißt, entdeckt Dante darunter ihren nach Verwesung riechenden Bauch:

L’altra prendea, e dinanzi l’aprìa
fendendo i drappi, e mostravami ’l ventre:
quel mi svegliò col puzzo che n’uscìa (Purgatorio XIX, 31-33).
Die andere packte er, riß ihr vorne die Kleidung auseinander/ und zeigte mir den Bauch; der weckte mich auf/ mit dem Gestank, der von ihm ausging.

Wie bereits im ersten Traum findet die intensive leibliche Erfahrung – hier das Zerreißen der Kleider der Sirene – ihren Ursprung in einem physiologischen Reiz der externen Wachwelt, da Vergil bereits dreimal versucht hatte, Dante wachzurütteln. Anschließend bietet der römische Dichter seinem Schützling Dante eine Erklärung der Traumbilder an:

‘Vedesti’, disse, quell’antica strega
che sola sovr’ a noi omai si piagne;
vedesti come l’uom da lei si slega (Purgatorio XIX, 58-60).
‚Du sahst‘, sprach er, ‚die uralte Zauberin,/ die allein oberhalb von uns noch beweint wird;/ du sahst, wie er Mensch sich von ihr losmacht.‘

In Vergils Deutung verweist der Traum von der Sirene auf ein erotisch-sexuelles Begehren. Damit schließt Dante an das mittelalterliche Motiv der Sirene als Allegorie der Lust an (Münchberg 2020, 293). Wenige Gesänge später taucht das Motiv der Sirene noch einmal auf, als Beatrice Dante Vorwürfe ob seines Lebenswandels und seiner Zuwendung zu einer anderen Frau macht. In Beatrices Worten sind die Sirenen mit „cose fallaci“ (Purgatorio XXXI, 56), trügerischen Dingen, assoziiert, von denen sich Dante verführen ließ. Erneut deutet der Traum somit auf ein nachfolgendes Ereignis voraus.

Dritter Traum

Auf der Schwelle zum irdischen Paradies hat Dante seinen dritten Traum. Erschöpft vom Aufstieg des Läuterungsberg versinkt Dante diesmal des Abends in einen von den vorangehenden Erlebnissen noch aufgewühlten Schlaf. Explizit betont Dante hier, dass der Traum eine prophetische Dimension haben kann:

Sì ruminando e sì mirando in quelle,
mi prese il sonno; il sonno che sovente,
anzi che ’l fatto sia, sa le novelle (Purgatorio XXVII, 91-93).
So wiederkäuend und so jene betrachtend/ übermannte mich der Schlaf, der Schlaf, der oft,/ bevor etwas geschieht, die Kund weiß.

In seinem Traum sieht er zwei Frauen, eine die Blumen pflückt, eine andere, die sich in einem Spiegel betrachtet. Es handelt sich dabei um die biblischen Schwestern Lea und Rahel:

giovane et bella in sogno mi parea
donna vedere andar per una landa
cogliendo fiori; e cantando dicea:
‘Sappia qualunque il mio nome dimanda
ch’ i’ mi son Lia, e vo movendo intorno
le belle mani a farmi una ghirlanda.
Per piacermi allo specchio, qui m’addorno;
ma mia suora Rachel mai non si smaga
dal suo miraglio, e siede tutto giorno (Purgatorio XXVII, 97-105).
‚[Es] war mir im Traum, ich sähe jung und schön eine Frau/ über eine Heide gehen, Blumen pflückend,/ und singend sprach sie:/ ‚Wissen soll jeder, der nach meinem Namen fragt,/ daß ich Lea bin; ich gehe umher und rühre/ meine schönen Hände, mir einen Kranz zu flechten./ Um mir im Spiegel zu gefallen, schmücke ich mich hier;/ doch meine Schwester Rahel trennt sich nie/ von ihrem Spiegelglas und weilt den ganzen Tag.

In diesem Beispiel wird die allegorische Bedeutung des Traums nicht von einer physiologisch untermauerten Erklärung Vergils überlagert. Relativ eindeutig erscheint so die symbolische Antithese zwischen den beiden Frauen, die die zwei philosophischen Konzeptionen der vita activa und der vita contemplativa verkörpern. Gleichzeitig kann dem Traum abermals eine proleptische, bzw. prophetische Dimension zugeschrieben werden, da die beiden Frauen im Traum für die beiden Frauen stehen, denen Dante kurz darauf im irdischen Paradies begegnet: Matelda, die am Ufer des Flusses Lethe Blumen pflückt, und Beatrice, seine verstorbene Geliebte. Mit dieser wird das Motiv des Spiegels wieder aufgegriffen: Als Dante seiner Geliebten voll Reue angesichts ihrer Vorwürfe gegenübersteht, blickt er in ihre Augen, in denen sich das Abbild eines Greifs spiegelt – „Come in lo specchio il sol, non altrimenti/ la doppia fiera dentro vi raggiava“ (Purgatorio XXXI, 121 f.; „Wie die Sonne im Spiegel, nicht anders erstrahlte/ das zweifache Tier darin“) –, ein Verweis auf die bevorstehende Begegnung mit dem Göttlichen.

Dantes Traumpoetik

Durch die verschiedenen Traumebenen ergibt sich eine „Schachtelung der Wahrnehmungsebenen“ (Harst 2018, 218). Weitere Verweise auf den Traum verstärken diese Wirkung: beispielsweise Beatrices Überlegungen über die Sphäre des irdischen Lebens, als eine, in der selbst Theologen und Kirchenleute träumen, also nicht die Wahrheit schauen oder erfahren – „là giù, non dormendo, si sogna“, (Paradiso XXIX, 82; „darüber wird nun dort unten, ohne zu schlafen, geträumt“) – eine mögliche Allusion auf die generelle Konzeption des irdischen, menschlichen Lebens als Traumkonstrukt (Harst 2018, 218f.). Die Jenseitsreise hingegen bereitet Dante auf eine Erfahrung mit Offenbarungscharakter vor: Im Spiel mit Traum- und Wirklichkeitsebenen erscheint die Begegnung mit Gott also gleichermaßen als Traumvision und als eine jede Wirklichkeit übertreffende Wahrheit. In diesem Sinne bezeichnet Karlheinz Stierle den Höhepunkt der Jenseitsreise als einen „totalisierten Traum, der die Differenz von Traum und Wachen aufhebt“ (Stierle 2017, 157) Damit greift Dante auch auf innovative Weise auf die mittelalterliche Tradition des prophetischen Traums zurück.

In dieser Auffassung des Traums und der Ausarbeitung der Reise durch die Jenseitsreiche als traumhafte Erfahrung spiegelt sich auch Dantes Poetik des Traums, sowie, allgemeiner, seine Auffassung des Dichtens. Mit Karlheinz Stierle ist Dantes Commedia „in wesentlicher Hinsicht eine poetische Phänomenologie des Traums“ (Stierle 2017, 149), da Dante in seiner monumentalen Erzählung „eine ganze Skala der Grenzsituationen des Bewusstseins“ entfaltet (ebd., 153). Dabei bringt Dante den Traum wiederholt in Verbindung mit dem Dichten bzw. dem Kunstschaffen an sich. Beide erscheinen als „Hervorbringungen einer produktiven Subjektivität“ (ebd., 158) – das Träumen wird in diesem Sinn von Dante auch als Metapher des Schreibens als künstlerischer Prozess inszeniert. Wie weiter oben ausgeführt, finden sich alle binnenfiktionalen, vom Ich-Erzähler geträumten Träume im zweiten Teil des Werks. Dadurch verdichten sich im Purgatorio die Traumelemente, während gleichzeitig das „visionäre Sehen“ mit „läuterndem Aufstieg“ und „dichterischem Schaffen“ verschränkt wird (Harst 2018, 223). In diesem Sinn kann „Dantes Reise als selbstbewusst erdichtete Erlösung – ein souverän ‚gelenkter Traum‘ – erscheinen“ (ebd., 224).


Fazit

Dantes Divina Commedia wird vom Mittelalter bis heute vor allem in Italien, aber auch international rezipiert und in den unterschiedlichsten Medienformaten adaptiert (Heimgartner/Schmitz-Emans 2017; Scharold 2014). Gerade in den letzten Jahren kann man im Bereich der Populärmedien eine „Dante-renaissance“ beobachten (Lazzarin/Dutel 2018, 9). In der Beschäftigung mit Dantes Werk, zeigen sich Autor:innen und Künstler:innen einerseits vom Inferno, also dem ersten Teil der Reise (Meier 2021), inspiriert, andererseits von der Traumthematik allgemein. Für die Kultur- und Mediengeschichte des Traums kann die Commedia in der Tat als Klassiker gehandelt werden, allerdings weniger aufgrund der drei markierten Träume im Purgatorio als aufgrund der traumhaften Rahmung der Binnenhandlung. Dies gilt z.B. für Christine de Pizans Le Livre du Chemin de long estude (1402), das seinen Ursprung eindeutig in der Rezeption der Commedia findet, dabei jedoch eindeutiger als eine Traumreise herausgestellt wird. Auch Jorge Luis Borges (1899-1986) oder Ingeborg Bachmann (1926-1973) rezipieren Dantes Traumwerk (vgl. Harst 2018; Spiller 2022). Dabei verwendet Dante wenig bis keine der topisch gewordenen Elemente zur literarischen Inszenierung des Traums, wie verzerrte Raum-Zeit-Koordinatoren, surreale Erscheinungen oder ein Aufheben der Gesetzmäßigkeiten des Logos (Engel 2003, 153 f.; Kreuzer 2014, 72 f.). Vielmehr hat sich die Struktur der Traumreise als Modell konstituiert, das sich durch eine stetige, lineare räumliche Progression und eine episodenhafte Struktur auszeichnet. Besonders in der Kinder- und Jugendliteratur findet man dieses Modell wieder (z.B. in E.T.A. Hoffmanns, Nußknacker und Mausekönig, Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland, Gerdt von Bassewitz' Peterchens Mondfahrt und Maurice Sendaks Wo die Wilden Kerle wohnen).


Literatur

Ausgaben

  • Alighieri, Dante: Commedia. 3 Bde. Hg. von Anna Maria Chiavacci Leonardi. Mondadori: Mailand 2012; alle italienischen Zitate aus der Commedia entstammen dieser Ausgabe.
  • Alighieri, Dante: Die göttliche Komödie. Übers. von Walter Naumann. Darmstadt: Lambert Schneider 2014; alle deutschsprachigen Zitate aus der Commedia entstammen dieser Ausgabe

Bezugstexte

  • Alighieri, Dante: Convivio. Hg. von Piero Cudini. Mondadori: Mailand 1992.
  • Alighieri, Dante: Vita nuova. Hg. von Eduardo Sanguineti. Mondadori: Mailand 1994.
  • Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis. Übers. von Carl Johann Perl. Paderborn: Schöningh 1964, Bd. II.
  • Macrobius Ambrosius Theodosius: Kommentar zum Somnium Scipionis. Hg. von Friedrich Heberlein. Stuttgart: Steiner 2019.

Forschungsliteratur

  • Barolini, Teodolinda: The Undivine Comedy. Detheologizing Dante. Princeton: Princeton UP 1992, 143-165.
  • Barucci, Guglielmo: “Simile a quel talvolta si sogna”. I sogni del Purgatorio dantesco. Firenze: Le lettere 2012, 29-46.
  • Cervigni, Dino S.: Dante’s Poetry of Dreams. Florenz: Olschki 1986.
  • Engel, Manfred: Geburt der phantastischen Literatur aus dem Geiste des Traumes? Traum und Phantastik in der romantischen Literatur. In: Christine Ivanovic/Jürgen Lehmann/Markus May (Hg.): Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phänomens in Kunst, Literatur und Film, Stuttgart: Metzler 2003, 153-169.
  • Gmelin, Hermann: Die Göttliche Komödie. Kommentar. 3 Bde. Bd. 1. Stuttgart: Klett 1954.
  • Haag, Guntram: Traum und Traumdeutung in mittelhochdeutscher Literatur. Theoretische Grundlagen und Fallstudien. Stuttgart: Hirzel 2003.
  • Harst, Joachim: „Sueño dirigido“. Zur Poetologie des Traums bei Dante Alighieri und J.L. Borges. In: Marlene Schneider/Christiane Solte-Gresser (Hg.): Traum und Inspiration. Transformation eines Topos in Literatur, Kunst und Musik. Paderborn: Fink 2008, 211-229.
  • Heiduk, Matthias u.a. (Hg.): Prognostication in the Medieval World. A Handbook. Bd. 1. Berlin u.a.: de Gruyter 2021.
  • Heimgartner Stephanie/Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Komparatistische Perspektiven auf Dantes Divina Commedia. Lektüren, Transformationen und Visualisierungen. Berlin: de Gruyter 2017.
  • Klinkert, Thomas: Zur metapoetischen und epistemologischen Funktion der Träume in Dantes Purgatorio. In: Dietrich Scholler/Jing Xuan (Hg.): Traumwissen und Traumpoetik von Dante bis Descartes. Göttingen: V&R Unipress 2020, 47–62.
  • Kreuzer, Stefanie: Traum und Erzählen in Literatur, Film und Kunst. Paderborn: Fink 2014.
  • Lazzarin, Stefano/Dutel, Jérôme: Introduzione. In: Dies. (Hg.): Dante Pop. La Divina Commedia nella letteratura e nella cultura popolare contomporanea. Roma: Vecchiarelli 2018.
  • Lerner, Robert: Himmelsvision oder Sinnendelirium? Franziskaner und Professoren als Traumdeuter im Paris des 13. Jahrhunderts. München: Stiftung Historisches Kolleg 1995.
  • Mazzotta, Giuseppe: Il Sogno della Sirena (Purgatorio XIX). In: Nicola Merola/Cristina Verbaro (Hg.): Il sogno raccontato. Vibo Valentia: Monteleone 1995, 117-136.
  • Meier, Franziska: Besuch in der Hölle. Dantes Göttliche Komödie. Biographie eines Jahrtausendbuchs. München: Beck 2021.
  • Münchberg, Katharina: Traum und Traumdeutung in Dantes Commedia (Purgatorio IX, XIX und XXVII). In: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 24 (2020), 289-300.
  • Scharold, Irmgard (Hg.): Dante Intermedial. Die Divina Commedia in Literatur und Medien. Würzburg: Könighausen & Neumann 2014.
  • Scholl, Dorothea: Phantastische Totengespräche und bizarre Totengespräche. Zur Poetik und Politik des Traums in der italienischen Renaissance und Barockliteratur. In: Paul Schmidt/Gregor Weber (Hg.): Traum und res publica. Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock. Berlin: Akademie 2008, 111-147.
  • Singleton, Charles S.: La poesia della Divina Commedia. Bologna: Il Mulino 1978.
  • Speroni, Charles: Dante's Prophetic Morning-Dreams. In: Studies in Philology 45 (1948), 50-59.
  • Spiller, Roland: „... quel giorno piü non vi leggemmo avante“. Dante bei Borges: Der Traum als Intertext und die transkulturelle Rezeption. In: Irmgard Scharold (Hg.): Dante Intermedial. Die Divina Commedia in Literatur und Medien. Würzburg: Könighausen & Neumann 2014, 251-283.
  • Stierle, Karlheinz: Dantes Poetik des Traums. In: Bernhard Dieterle/Manfred Engel (Hg.): Writing the Dream/Écrire le rêve, Würzburg: Königshausen & Neumann 2017 (Cultural Dream Studies 1), 149–158.
  • Stierle, Karlheinz: Dante-Studien. Heidelberg: Winter 2021.


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Mehrbrey, Sophia: "Divina Commedia" (Dante Alighieri). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Divina_Commedia%22_(Dante_Alighieri).