"Draußen vor der Tür" (Wolfgang Borchert)

Aus Lexikon Traumkultur
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Wolfgang Borcherts (1921–1947) Stationen- und Kriegsheimkehrerdrama Draußen vor der Tür enthält mehrere szenische wie erzählte Traumdarstellungen. Es wurde zunächst als Hörspiel in der Regie von Ludwig Cremer im Nordwestdeutschen Rundfunk gesendet (Ursendung: 13. Februar 1947). Die Uraufführung fand am 21. November 1947 an den Hamburger Kammerspielen in der Regie von Wolfgang Liebeneiner statt.


Autor

Wolfgang Borchert wurde am 21. Mai 1921 in Hamburg geboren. 1939 begann er eine Buchhändlerlehre, die er abbrach, um sich zum Schauspieler ausbilden zu lassen. Nach kurzer Tätigkeit an der Landesbühne in Lüneburg wurde er 1941 zur Wehrmacht einberufen und an die Ostfront nach Smolensk geschickt. Wegen regimekritischer politischer Äußerungen und einer Goebbels-Parodie wurde er für mehrere Monate in Haft genommen. 1945 geriet er in französische Kriegsgefangenschaft. Es gelang ihm die Flucht in seine Heimatstadt Hamburg, wo er am 10. Mai 1945 in sehr schlechter gesundheitlicher Verfassung ankam. Einen Tag vor der Uraufführung seines Dramas Draußen vor der Tür starb Borchert im Alter von nur 26 Jahren am 20. November 1947 in Basel. Neben Draußen vor der Tür verfasste er in seiner sehr kurzen Schaffensphase zahlreiche Kurzgeschichten und Gedichte, die zur sogenannten „Trümmerliteratur“ zählen.


Die Träume

Überblick

In Draußen vor der Tür gibt es insgesamt drei Traumdarstellungen: 1) eine auf das Vorspiel folgende und mit „Der Traum“ überschriebene szenische Traumsequenz, in der sich der Protagonist des Dramas, der Kriegsheimkehrer Beckmann, in der Elbe wiederfindet und von dieser an Land gespuckt wird; 2) Beckmanns Erzählung eines Alptraums in der dritten Szene; und 3) eine längere szenische Traumdarstellung in der fünften und zugleich letzten Szene, in der Beckmann träumt, zu sterben. Zudem heißt es in einem Kommentar vor Stückbeginn, der nach Deutschland zurückkehrende Mann wisse nicht, „ob er wacht oder träumt“ (DvdT 102). Gordon J. A. Burgess bezeichnet diese damit deklarierte unsichere Grenzziehung zwischen Wachen und Träumen als den „thematische[n] Kern“ (Burgess 1984, 60) des Stücks. A. Leslie Willson, der den im Vorspiel in die Elbe springenden und nicht näher bestimmten Mann mit Beckmann gleichsetzt, liest das Stück dagegen als Ganzes als den Traum eines Sterbenden (vgl. Willson 1972).

Im Folgenden werden die Traumerzählung in der dritten Szene sowie die szenische Traumdarstellung am Ende der fünften Szene exemplarisch analysiert.


Beckmanns Alptraum vom General mit dem Knochenxylophon

In der dritten Szene schildert Beckmann ausführlich einen wiederkehrenden Alptraum, der ihn jede Nacht schreiend aufwachen und nicht wieder einschlafen lässt. Im Zentrum der Traumerzählung steht zunächst ein außergewöhnlich fetter und blutschwitzender General. Er hat Armprothesen, die „wie Handgranatenstiele aussehen“ (DvdT 123), und spielt mit diesen auf einem riesigen Xylophon aus menschlichen Knochen – und zwar nahezu allen Knochen, aus denen der menschliche Körper besteht: aus Schädeldecken, Schulterblättern, Becken-, Arm- und Beinknochen, Rippen, Fingerknöcheln, Zehen und sogar aus Zähnen. Auf seinem Instrument spielt der General deutsche Militärmärsche und erweckt damit unzählige tote Soldaten, die aufstehen „aus den Massengräbern mit verrotteten Verbänden und blutigen Uniformen.“ (DvdT 124) Sie kommen als eine „furchtbare Flut […] angeschwemmt“ und sind „unübersehbar an Zahl, unübersehbar an Qual“ (ebd.). Sie wachsen heran zu einem „furchtbare[n] unübersehbare[n] Meer der Toten“ (ebd.), das „über die Ufer seiner Gräber [tritt]“ (ebd.) und sich „breit, breiig, bresthaft und blutig über die Welt [wälzt]“ (ebd.). In seinem Traum erhält Beckmann vom General die Verantwortung für die „Millionen hohlgrinsender Skelette“ (ebd.), die er abzählen lassen soll. Doch statt abzuzählen bilden die Toten „[d]onnernde, drohende, dumpfe Sprechchöre“ (DvdT 125), die immer wieder Beckmanns Namen brüllen. Dieses Schreien und Brüllen der Toten wird lauter und wächst unentwegt an, bis es „so erwürgend groß“ (ebd.) ist, dass Beckmann von seinem eigenen „furchtbare[n] Schrei“ (ebd.) aufwacht.

Der Adressat von Beckmanns Traumerzählung ist der Oberst, der Beckmann während seines Kriegsdienstes an der Ostfront die Verantwortung für einen 20 Mann starken Spähtrupp übergeben hatte. Bei einem Einsatz kamen elf Kameraden Beckmanns ums Leben. Auf dieses Fronterlebnis nimmt Beckmanns Traumerzählung Bezug. Beckmann fühlt sich schuldig für den Tod seiner Kameraden und wird jede Nacht von den Toten und seinen Erinnerungen an dieses Erlebnis heimgesucht. Ebenso plagen ihn die quälenden und unermüdlichen Fragen der Lebenden, die nachts, wenn er nicht mehr einschlafen kann, „aus der Dunkelheit [flüstern]“(DvdT 127) und ihn nach dem Verbleib ihrer Söhne, Brüder und Verlobten fragen.

Beckmanns Traumerzählung hat zwei Funktionen: Zum einen verweist der Alptraum auf die schmerzlichen Erinnerungen, von denen die aus dem Krieg traumatisiert heimkehrenden Soldaten, für die Beckmann als „einer von denen“ (DvdT 101) im Stück stellvertretend steht, nach ihrer Rückkehr gequält werden (vgl. Burgess 1984, 61). Zur Darstellung und Artikulation solcher traumatischen Erfahrungen ist die Irrealität des Traums gut geeignet. Zum anderen zeigt sich im Traum die eigentliche ‚Realität‘ (vgl. Weiershausen 2017, 235). Unmittelbar nach Kriegsende reagiert die deutsche Nachkriegsgesellschaft auf die traumatischen Kriegsereignisse und -erfahrungen mit Verdrängen, Verschweigen und Nicht-Erinnern-Wollen. Dabei bleiben die vom Krieg physisch und psychisch dauerhaft Verletzten mit ihren Erinnerungen und Schuldgefühlen oftmals alleine. Ein Repräsentant dieser verdrängenden Haltung ist u.a. der Oberst, dem Beckmann seinen Traum erzählt. Von ihn verlangt Beckmann, sich ebenfalls der Verantwortung für den Tod der elf Soldaten zu stellen, wozu der Oberst allerdings keine Notwendigkeit sieht. Seine Reaktion auf Beckmanns Traum – er bezeichnet ihn als einen „köstliche[n] Traum“ (ebd.), mit dem Beckmann eigentlich auf eine Bühne gehört – zeigt deutlich, dass er die in ihm kommunizierte Realität nicht begreift.


Beckmanns Traum vom Sterben

Beckmanns Traum vom Sterben findet sich in der fünften und letzten Szene von Draußen vor der Tür. Es handelt sich um eine längere szenische Traumdarstellung, die etwa zwei Drittel der Szene ausmacht. Beckmann, der an allen Türen, an denen er geklopft hatte, abgewiesen wurde, schläft auf der Straße ein. Dort träumt er einen – wie er es nennt – „wunderschönen Traum“ (DvdT 147), aus dem er nicht mehr aufzuwachen gedenkt: „Nein. Aufstehen mag ich nicht mehr. Ich träume doch gerade so schön. Ich liege auf der Straße und sterbe.“ (Ebd.)

In diesem Traum Beckmanns treten alle Figuren des Dramas nochmals nacheinander auf, d.h. all diejenigen, die Beckmann zuvor an ihren Türen abgewiesen haben: So beispielsweise der Oberst, der seine Verantwortung für den Tod der Kameraden Beckmanns nicht zurücknehmen wollte und Beckmann stattdessen verhöhnte und auslachte; der Kabarettdirektor, der Beckmanns Wahrheit nicht für kunsttauglich hielt und mit Beckmann so „die Wahrheit verraten“ (DvdT 156) hat, oder auch Frau Kramer, die nun in Beckmanns Elternhaus lebt und Beckmann nicht sehr rücksichtsvoll über den Selbstmord seiner Eltern informierte. Auch seine Frau, die er nach seiner Rückkehr mit einem anderen Mann angetroffen hat, zieht „in enger Umarmung mit ihrem Freund langsam vorbei, ohne Beckmann zu hören.“ (DvdT 160) Zuletzt treten das Mädchen auf, das Beckmann zu Beginn aus der Elbe gezogen hat, gefolgt von ihrem toten, einbeinigen Mann, der Beckmann vorwirft, sein Mörder geworden zu sein: „Und du hast mich ermordet, Beckmann. Hast du das schon vergessen? Ich war doch drei Jahre in Sibirien, Beckmann, und gestern abend wollte ich nach Hause, aber mein Platz war besetzt – du warst da, Beckmann, auf meinem Platz. Da bin ich in die Elbe gegangen, Beckmann, gleich gestern abend.“ (DvdT 162) Der Einbeinige teilt die Erfahrungen Beckmanns. Auch er findet seinen Platz nicht mehr bzw. bereits besetzt. Sein Auftritt knüpft an das Vorspiel an, in dem ein Mann durch einen Sprung in die Elbe Selbstmord begeht. Am Ende des Traums nimmt der Einbeinige Beckmann das Versprechen hab, ihn nicht zu vergessen, denn dann „kann man doch in Ruhe tot sein, wenn wenigstens einer an mich denkt, wenigstens mein Mörder […]. Dann kann ich wenigstens in aller Ruhe tot sein – – –“ (DvdT 163). So endet Beckmanns „wunderschöner Traum“, an dessen Ende Beckmann nicht gestorben ist, sondern erwacht und (wieder) allein und unbemerkt zurückbleibt.

Beckmanns Traum vom Sterben stellt eine Art Resümee des vorherigen Geschehens dar (vgl. Weiershausen 2017, 234). Alle Dramenfiguren treten nochmals auf; und die kurzen Unterhaltungen, die Beckmann mit jedem einzelnen von ihnen in seinem Traum führt, knüpfen an die (Gesprächs-)Inhalte der vorherigen Stationen an. Diese geträumten Wiederbegegnungen unterscheiden sich in einem Punkt von den ‚realen‘ Begegnung davor: Beckmann kommuniziert im Traum sehr viel deutlicher und direkter. Seinen jeweiligen Gesprächspartnern wirft er vor, ihn durch ihr ablehnendes Verhalten und ihre Zurückweisung in den Selbstmord getrieben zu haben und damit zu seinen Mördern geworden zu sein.  

Die Kritik, die Beckmann in seinem Traum äußert, greift aber weiter und beschränkt sich nicht nur auf die spezifischen Dramenfiguren. Eine Schlüsselstelle ist hier Beckmanns Replik im Anschluss an den Abgang des Kabarettdirektors, in der Beckmann die gesellschaftlichen Missstände unmissverständlich anprangert. Von ihm angeklagt werden all die Studienräte, Direktoren, Gerichtsräte und Oberärzte, die sich „für uns einen Krieg ausgedacht“ und „uns dann hingeschickt“ (DvdT 158) haben. Sie sind nichts anderes als „[g]roteske, karikierte Menschenmarionetten“ (DvdT 157) mit „denselben gleichgültigen entsetzlichen Visagen.“ (Ebd.) Sie sind „stumm und dumm“ (ebd.) und „feige“ (ebd.), weil sie sich mit ihrer Gleichgültigkeit aus der Verantwortung ziehen und so die traumatisierten Heimkehrenden im Stich und mit ihren Schuldgefühlen allein lassen. Ähnlich wie schon Beckmanns Alptraumerzählung in Szene 3 ist auch diese szenische Traumdarstellung ein Mittel, um Kritik an der Haltung der Verantwortlichen, die die Bewältigung den anderen überlassen, hervor- und anzubringen.


Fazit

In Beckmanns erzähltem Alptraum und seinem Traum von Sterben steckt das zentrale Charakteristikum von Draußen vor der Tür: die „Derealisierung“ (Weiershausen 2017, 236). In Borcherts Stück haben sich die Wirklichkeitsebenen verkehrt, d.h. Beckmanns Träume stellen einen Rahmen dar, in dem die „wahre Wirklichkeit“ (ebd.) gezeigt und artikuliert werden kann. Dagegen entpuppt sich die Realität des Obersts, des Kabarettdirektors, von Frau Kramer und von allen übrigen auftretenden Figuren als Repräsentanten der Nachkriegsgesellschaft als eine Illusion und wird dementsprechend von Beckmann als unwirklich erlebt und wahrgenommen.

Was die Traumverwendung angeht, steht Draußen vor der Tür in der Tradition des Traumspiels und kann somit auf dramengeschichtliche Vorbilder zurückgreifen, wie etwa August Strindbergs Ett drömspel (1902, dt. Ein Traumspiel), das die Welt und das Leiden der Menschen am Dasein im Modus des Traums präsentiert. In ihrer gesellschaftskritischen Funktion weisen die Träume ebenfalls eine Nähe zu den Traumbildern in Ernst Tollers Die Wandlung (1919) auf, zu dem sich darüber hinaus noch weitere inhaltliche wie formale Gemeinsamkeiten und Überschneidungen erkennen lassen (vgl. Schmidt 1990).

Kristina Höfer

Literatur

Ausgaben

  • Borchert, Wolfgang: Draußen vor der Tür. Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will. Hamburg: Rowohlt 1947.

(= Erstausgabe)

  • Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk. Mit einem biographischen Nachwort von Bernhard Meyer-Marwitz. Hamburg: Rowohlt 1949.

(= zitierte Ausgabe als DvdT und in der Ausgabe von 2006)

  • Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk. Erweiterte und revidierte Neuausgabe, hrsg. v. Michael Töteberg. Reinbek: Rowohlt 2007.


Hörspiel

  • Borchert, Wolfgang: Draußen vor der Tür. Audio-CD. München: DHV 2005.


Forschungsliteratur

  • Burgess, Gordon J.A.: Wirklichkeit, Allegorie und Traum in Draußen vor der Tür: Beckmanns Weg zur Menschlichkeit. In: Rudolf Wolff (Hg.): Wolfgang Borchert. Werk und Wirkung. Bonn: Bouvier 1984, S. 56–66.
  • Burgess, Gordon J.A.: The Life and Works of Wolfgang Borchert. Rochester, NY: Camden House 2003.
  • Gatter, Nikolaus: Beckmann (wacht auf): Sechzig Jahre Draußen vor der Tür. In: Heidi Beutin/Wolfgang Beutin/Heinrich Bleicher-Nagelsmann/Holger Malterer (Hg.): Dann gibt es nur eins! Von der Notwendigkeit, den Frieden zu gestalten. Frankfurt/M.: Peter Lang: 2009, S. 73–93.
  • Hahn, Hans: Intertextuelle Studien zur Kriegsheimkehr. Ein heuristischer Versuch. In: German Life 67, 3 (2014), S. 341–357.
  • Koller, Alexander: Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür. Zu den überzeitlichen Dimensionen eines Dramas. Marburg: Tectum 2000.
  • Schmidt, Marianne: Zwischen Langemarck und Stalingrad. Ernst Toller: Die Wandlung. Wolfgang Borchert: Draußen vor der Tür. In: Thomas F. Schneider (Hg.): Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film. Osnabrück: Rasch 1999, S. 923–938.
  • Weckel, Ulrike: Spielarten der Vergangenheitsbewältigung – Wolfgang Borcherts Heimkehrer und sein langer Weg durch die westdeutschen Medien. In: Moshe Zuckermann (Hg.): Medien – Politik – Geschichte. Tel Aviver Jahrbuch 2003 für deutsche Geschichte. Göttingen: Wallstein: 2003, S. 125–161.
  • Weiershausen, Romana: Vom Krieg in den Frieden: Traum und Trauma in der Heimkehrerliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Manfred Leber/Sikander Singh (Hg.): Erkundungen zwischen Krieg und Frieden. Saarbrücken: universaar 2017, S. 223–242.
  • Willson, A. Leslie: Beckmann, der Ertrinkende. Zu Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür. In: Akzente. Zeitschrift für Literatur 19, 5 (1972), S. 466–479.


Zitiervorschlag für diesen Artikel:

Höfer, Kristina: "Draußen vor der Tür" (Wolfgang Borchert). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "Europäische Traumkulturen", 2019; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php/%E2%80%9EDrau%C3%9Fen_vor_der_T%C3%BCr%E2%80%9C_(Wolfgang_Borchert).