"Frost" (Thomas Bernhard): Unterschied zwischen den Versionen

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Das Motiv des Traums wird in ''Frost'' zur Charakterisierung der beiden BrĂŒder und des Studenten eingesetzt. So vergleicht der Student die BrĂŒder miteinander, indem er den Chirurgen als „Erfolgsmensch“ charakterisiert, der „Tag und Nacht“ von seiner Arbeit bestimmt ist und als „ein Feind des Zwischenreichs, der Kunst“ (F 212 f.) gilt: „Ästhetik haßt er. Ebenso TrĂ€ume“. In dieser Ablehnung ist der zentrale Gegensatz zu seinem Bruder als Maler angelegt: „Was sein Bruder gemacht hat, war ihm immer ein Greuel“ (F 213). Laut GĂ¶ĂŸling ist dieser Antagonismus typisch fĂŒr viele Werke Bernhards, wobei die Pole von Naturwissenschaft und Kunst, von Verstand und Phantasie nur auf den ersten Blick einander entgegengesetzt sind (GĂ¶ĂŸling 2018, 41) – auch in ''Frost''. So lehnt auch der Maler mittlerweile die Kunst und das TrĂ€umen ab: „Die furchtbaren TrĂ€ume, die ich habe, das sind die furchtbaren TrĂ€ume meiner Kindheit. Schauerlich, wenn sie ein alter Mann trĂ€umen muss“ (F 286). Und laut einem Brief des Studenten an den Chirurgen, auf den Bozzi hinweist, arbeitet dieser an einer Schrift mit dem Titel „Der trĂ€umende und der politische Mensch“, weshalb er ihm den Maler als exemplarischen Vertreter dieser menschlichen Spezies beschreibt. Allerdings zeugt das Forschungsvorhaben weniger von einer „allnĂ€chtlichen Wandlung des Chirurgen“ (Bozzi 2002, 137), sondern von dessen Versuch, das ihm UnzugĂ€ngliche zu analysieren und sich zu erschließen – worin vermutlich auch der Auftrag des Studenten begrĂŒndet liegt. Der Student versucht daher, ĂŒber dieses Interesse den abgebrochenen Kontakt zwischen den beiden BrĂŒdern wieder herzustellen (F 323).
 
Das Motiv des Traums wird in ''Frost'' zur Charakterisierung der beiden BrĂŒder und des Studenten eingesetzt. So vergleicht der Student die BrĂŒder miteinander, indem er den Chirurgen als „Erfolgsmensch“ charakterisiert, der „Tag und Nacht“ von seiner Arbeit bestimmt ist und als „ein Feind des Zwischenreichs, der Kunst“ (F 212 f.) gilt: „Ästhetik haßt er. Ebenso TrĂ€ume“. In dieser Ablehnung ist der zentrale Gegensatz zu seinem Bruder als Maler angelegt: „Was sein Bruder gemacht hat, war ihm immer ein Greuel“ (F 213). Laut GĂ¶ĂŸling ist dieser Antagonismus typisch fĂŒr viele Werke Bernhards, wobei die Pole von Naturwissenschaft und Kunst, von Verstand und Phantasie nur auf den ersten Blick einander entgegengesetzt sind (GĂ¶ĂŸling 2018, 41) – auch in ''Frost''. So lehnt auch der Maler mittlerweile die Kunst und das TrĂ€umen ab: „Die furchtbaren TrĂ€ume, die ich habe, das sind die furchtbaren TrĂ€ume meiner Kindheit. Schauerlich, wenn sie ein alter Mann trĂ€umen muss“ (F 286). Und laut einem Brief des Studenten an den Chirurgen, auf den Bozzi hinweist, arbeitet dieser an einer Schrift mit dem Titel „Der trĂ€umende und der politische Mensch“, weshalb er ihm den Maler als exemplarischen Vertreter dieser menschlichen Spezies beschreibt. Allerdings zeugt das Forschungsvorhaben weniger von einer „allnĂ€chtlichen Wandlung des Chirurgen“ (Bozzi 2002, 137), sondern von dessen Versuch, das ihm UnzugĂ€ngliche zu analysieren und sich zu erschließen – worin vermutlich auch der Auftrag des Studenten begrĂŒndet liegt. Der Student versucht daher, ĂŒber dieses Interesse den abgebrochenen Kontakt zwischen den beiden BrĂŒdern wieder herzustellen (F 323).
  
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Diese vermittelnde Position des Studenten lĂ€sst sich auch in seinem VerhĂ€ltnis zu Traum und Schlaf ausmachen. Bozzi charakterisiert ihn als „Bewohner jenes „Zwischenreichs“, der ins Medizinstudium „Elemente unbewußter Dunkelheit hinein“ trage und dem das Leben als ein Traum erscheine, „aus dem er entgegen seiner Behauptung niemals erwachen“ (Bozzi 2002, 132) werde. Gegen diese Deutung spricht, dass sie anhand weit auseinanderliegender Textstellen belegt wird, die in keinem narrativen Zusammenhang stehen. Auch ist dem Studenten schon zu Beginn klar, dass er sich durch seinen Auftrag mit „außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten“ auseinandersetzen wird und versuchen muss, „etwas Unerforschliches zu erforschen“ (F 7). WĂ€hrend ihm im Medizinstudium „eigentlich immer alles wie im Schlaf gegangen“ (F 53) ist, wird er durch die zunehmende NĂ€he zum Maler und zu dessen auswegloser Verzweiflung mit der RealitĂ€t der menschlichen Existenz konfrontiert. Dies fĂŒhrt am neunten Tag zur Infragestellung seiner Berufswahl: „Ich und Arzt? Mit kommt das Ganze vor, als wĂ€re ich gerade aus einem Traum aufgewacht, und jetzt soll ich mit dem weißen Mantel, den ich anhabe, ich weiß nicht warum, fertig werden“ (F 95). Er gelangt jedoch am Ende zur Erkenntnis, dass es sich bei dem Medizinischen um eine „methodisch ineinandergreifende Folge von Dunkelheiten“ (F 326) handele, in der die beiden Ebenen von Verstand und Phantasie miteinander verschmelzen. Um dem Chirurgen diese Verbindung deutlich zu machen, zitiert er seinen Bruder: „Die Wissenschaft von den Krankheiten ist die poetischste aller Wissenschaften“ (F 326). Der Student vermittelt also zwischen den beiden scheinbar antagonistischen Prinzipien, beendet nach seiner Abreise die Famulatur und setzt das Studium in der Hauptstadt fort – mit diesen Informationen endet der Roman.
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Diese vermittelnde Position des Studenten lĂ€sst sich auch in seinem VerhĂ€ltnis zu Traum und Schlaf ausmachen. Bozzi charakterisiert ihn als „Bewohner jenes „Zwischenreichs“, der ins Medizinstudium „Elemente unbewußter Dunkelheit hinein“ trage und dem das Leben als ein Traum erscheine, „aus dem er entgegen seiner Behauptung niemals erwachen“ werde (Bozzi 2002, 132). Gegen diese Deutung spricht, dass sie anhand weit auseinanderliegender Textstellen belegt wird, die in keinem narrativen Zusammenhang stehen. Auch ist dem Studenten schon zu Beginn klar, dass er sich durch seinen Auftrag mit „außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten“ auseinandersetzen wird und versuchen muss, „etwas Unerforschliches zu erforschen“ (F 7). WĂ€hrend ihm im Medizinstudium „eigentlich immer alles wie im Schlaf gegangen“ ist (F 53), wird er durch die zunehmende NĂ€he zum Maler und zu dessen auswegloser Verzweiflung mit der RealitĂ€t der menschlichen Existenz konfrontiert. Dies fĂŒhrt am neunten Tag zur Infragestellung seiner Berufswahl: „Ich und Arzt? Mit kommt das Ganze vor, als wĂ€re ich gerade aus einem Traum aufgewacht, und jetzt soll ich mit dem weißen Mantel, den ich anhabe, ich weiß nicht warum, fertig werden“ (F 95). Er gelangt jedoch am Ende zur Erkenntnis, dass es sich bei dem Medizinischen um eine „methodisch ineinandergreifende Folge von Dunkelheiten“ handle (F 326), in der die beiden Ebenen von Verstand und Phantasie miteinander verschmelzen. Um dem Chirurgen diese Verbindung deutlich zu machen, zitiert er seinen Bruder: „Die Wissenschaft von den Krankheiten ist die poetischste aller Wissenschaften“ (F 326). Der Student vermittelt also zwischen den beiden scheinbar antagonistischen Prinzipien, beendet nach seiner Abreise die Famulatur und setzt das Studium in der Hauptstadt fort – mit diesen Informationen endet der Roman.
  
 
===TraumerzÀhlungen des Malers===
 
===TraumerzÀhlungen des Malers===
 
====1. Traum====
 
====1. Traum====
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Am spĂ€ten Nachmittag des fĂŒnften Tages berichtet der Maler von einem Traum, den er als etwas Besonderes ankĂŒndigt: „Ein ungewöhnlicher Traum, keiner der hoffnungslosen, wie ich sie sonst immer trĂ€ume“ (F 39). ZunĂ€chst stellt sich eine VerĂ€nderung der Landschaft ein, sie wechselt immer wieder schnell die Farbe entgegen „menschlichem Ermessen“. Das Ganze wird begleitet von einer „Musik, die aus allen Musikepochen zusammengesetzt war“ (F 39). Sein Traum-Ich sitzt „in dieser Landschaft, auf einer Wiese“ und nimmt, wie auch die anderen Menschen, die wechselnden Farben der Umgebung an. Aufgrund der Farben sind die Menschen in dieser „Menschenlandschaft“ nur anhand „ihrer Stimmen zu erkennen“ (F 39). Diese zuerst mit Faszination beschriebene Stimmung wandelt sich, die Harmonie des Traum-Ichs mit der Umgebung wird gestört: „Plötzlich aber geschah etwas Grauenhaftes: Mein Kopf blĂ€hte sich auf, und zwar so, daß die Landschaft sich um einige Grade verfinsterte und die Menschen in Wehlaute ausbrachen“ (F 39 f.) Der große Kopf verselbstĂ€ndigt sich, er rollt „von dem HĂŒgel hinunter [...] und erdrĂŒckte viele der blauen BĂ€ume und viele der Menschen“ (F 40). Er zerstört die Landschaft und bringt Tod: „Plötzlich bemerkte ich, daß hinter mit alles abgestorben war. Abgestorben, tot. Mein großer Kopf lag in einem toten Land“ (F 40). Der Traum endet in „Finsternis“, was vom Maler als „fĂŒrchterlich“ (F 40) bewertet wird.
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Am spĂ€ten Nachmittag des fĂŒnften Tages berichtet der Maler von einem Traum, den er als etwas Besonderes ankĂŒndigt: „Ein ungewöhnlicher Traum, keiner der hoffnungslosen, wie ich sie sonst immer trĂ€ume“ (F 39). ZunĂ€chst stellt sich eine VerĂ€nderung der Landschaft ein, sie wechselt immer wieder schnell die Farbe entgegen „menschlichem Ermessen“. Das Ganze wird begleitet von einer „Musik, die aus allen Musikepochen zusammengesetzt war“ (F 39). Sein Traum-Ich sitzt „in dieser Landschaft, auf einer Wiese“ und nimmt, wie auch die anderen Menschen, die wechselnden Farben der Umgebung an. Aufgrund der Farben sind die Menschen in dieser „Menschenlandschaft“ nur anhand „ihrer Stimmen zu erkennen“ (F 39). Diese zuerst mit Faszination beschriebene Stimmung wandelt sich, die Harmonie des Traum-Ichs mit der Umgebung wird gestört: „Plötzlich aber geschah etwas Grauenhaftes: Mein Kopf blĂ€hte sich auf, und zwar so, daß die Landschaft sich um einige Grade verfinsterte und die Menschen in Wehlaute ausbrachen“ (F 39 f.) Der große Kopf verselbstĂ€ndigt sich, er rollt „von dem HĂŒgel hinunter [
] und erdrĂŒckte viele der blauen BĂ€ume und viele der Menschen“ (F 40). Er zerstört die Landschaft und bringt Tod: „Plötzlich bemerkte ich, daß hinter mit alles abgestorben war. Abgestorben, tot. Mein großer Kopf lag in einem toten Land“ (F 40). Der Traum endet in „Finsternis“, was vom Maler als „fĂŒrchterlich“ (F 40) bewertet wird.
  
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AuffĂ€llig ist, dass der Traum von einer zunĂ€chst harmonisch wirkenden Einheit des Traum-Ichs mit der Welt ausgeht. Die Farben wechseln zwar, aber das Ich und die Menschen sind dabei an die Landschaft angepasst. Auch die Musik und die Stimmen der Menschen werden als Einheit empfunden. Als Störfaktor tritt der Kopf auf, der sich verselbstĂ€ndigt und die Welt zerstört. Bozzi deutet diesen Prozess als „VerselbstĂ€ndigung der Teile gegenĂŒber dem Ganzen“, die im Zusammenhang mit einer „Verwirrung, Unordnung und Aufregung“ des Körpers stehe und eine Auflösung des Ichs einleite (Bozzi 2002, 133 f.). Zwar ist die Zersetzung und Auslöschung der Existenz ein zentrales Thema des Romans, doch der Traum beschreibt diesen Auflösungsprozess genauer: Er geht vom Kopf aus, der fĂŒr das Denken steht, das hier jedoch in Kopflosigkeit mĂŒndet. Interessant ist, dass die TraumerzĂ€hlung durch eine Feststellung des Malers eingeleitet wird: „Die Phantasie ist der Tod des Menschen“ (F 39). Der Kopf ist sowohl Sitz des Denkens als auch der Phantasie, die in der Passage vor der TraumerzĂ€hlung thematisiert wird. Dort Ă€ußert sich der Maler, dass „die Phantasie [...] ein Ausdruck von Unordnung“ sei: „Ich bin mir sicher, daß Phantasie eine Krankheit ist“ (F 38). Der Traum greift diese Überlegung auf, denn die harmonische Phantasiewelt, die ja eine Kopfgeburt des Malers darstellt, wird durch eben den sie hervorbringenden Kopf zerstört. Der Traum symbolisiert also eine VerselbstĂ€ndigung der Phantasie und der GeisteskrĂ€fte, durch die die Kluft zwischen Ich und Landschaft sowie zwischen Ich und anderen Menschen vergrĂ¶ĂŸert wird.
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AuffĂ€llig ist, dass der Traum von einer zunĂ€chst harmonisch wirkenden Einheit des Traum-Ichs mit der Welt ausgeht. Die Farben wechseln zwar, aber das Ich und die Menschen sind dabei an die Landschaft angepasst. Auch die Musik und die Stimmen der Menschen werden als Einheit empfunden. Als Störfaktor tritt der Kopf auf, der sich verselbstĂ€ndigt und die Welt zerstört. Bozzi deutet diesen Prozess als „VerselbstĂ€ndigung der Teile gegenĂŒber dem Ganzen“, die im Zusammenhang mit einer „Verwirrung, Unordnung und Aufregung“ des Körpers stehe und eine Auflösung des Ichs einleite (Bozzi 2002, 133 f.). Zwar ist die Zersetzung und Auslöschung der Existenz ein zentrales Thema des Romans, doch der Traum beschreibt diesen Auflösungsprozess genauer: Er geht vom Kopf aus, der fĂŒr das Denken steht, das hier jedoch in Kopflosigkeit mĂŒndet. Interessant ist, dass die TraumerzĂ€hlung durch eine Feststellung des Malers eingeleitet wird: „Die Phantasie ist der Tod des Menschen“ (F 39). Der Kopf ist sowohl Sitz des Denkens als auch der Phantasie, die in der Passage vor der TraumerzĂ€hlung thematisiert wird. Dort Ă€ußert sich der Maler, dass „die Phantasie [
] ein Ausdruck von Unordnung“ sei: „Ich bin mir sicher, daß Phantasie eine Krankheit ist“ (F 38). Der Traum greift diese Überlegung auf, denn die harmonische Phantasiewelt, die ja eine Kopfgeburt des Malers darstellt, wird durch eben den sie hervorbringenden Kopf zerstört. Der Traum symbolisiert also eine VerselbstĂ€ndigung der Phantasie und der GeisteskrĂ€fte, durch die die Kluft zwischen Ich und Landschaft sowie zwischen Ich und anderen Menschen vergrĂ¶ĂŸert wird.
  
 
====2. Traum====
 
====2. Traum====
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Dieser erste Traum etabliert Motive, die sich in den spĂ€teren TrĂ€umen des Malers wiederfinden. So berichtet er am sechzehnten Tag von einem Traum, der laut eigener Aussage mit seinen bisherigen TrĂ€umen „nicht das geringste gemeinsam hatte“ (F 187). Er beschreibt, dass der Traum wie alle seine TrĂ€ume mit einer Farbe beginnt – eine Gemeinsamkeit mit der ersten TraumerzĂ€hlung. Allerdings entwickelt sich die Farbe „in das ZwischenverhĂ€ltnis aller Farben zu allen Farben“ und dann „bis in die Dunkelheit der Farben hinein.“ ZunĂ€chst ist der Traum noch „tonlos“, doch „dann plötzlich, sich steigernd, zu einem GerĂ€usch werdend“ und „plötzlich war dieser Traum [...] nur mehr GerĂ€usch“ (F 187). Dieses wird von dem TrĂ€umenden als unangenehm und bedrohlich wahrgenommen, es entwickelt sich „zu einem unheimlich geltungsbedĂŒrftigen Infernalischen“ (F 187) und wird als „ein ungeheurer LĂ€rm“ (F 188) bezeichnet. Dieser erzeugt einen unendlichen Raum und in diesem „taumelten“ oder „schwebten“ zwei oder drei Polizisten „in dem schamlosen, erdachten, alles umfassenden SchnĂŒrboden der Unendlichkeit“ (F 188). Trotz des vergleichsweise hohen Grades der Abstraktion sind die Farben und die Musik durchaus Konstanten, die bereits im ersten Traum des Malers prĂ€sent waren. Auch die Verzerrung der rĂ€umlichen Dimensionen ins Unendliche sowie das Kippen einer optischen oder akustischen Wahrnehmung ins Bedrohliche sind wiederkehrende Elemente. In der abstrakten Traumwelt wird kraft der Phantasie die eigentliche Ordnung ausgehebelt - und das Traum-Ich schreckt vor der unendlichen Macht des Erdachten zurĂŒck.
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Dieser erste Traum etabliert Motive, die sich in den spĂ€teren TrĂ€umen des Malers wiederfinden. So berichtet er am sechzehnten Tag von einem Traum, der laut eigener Aussage mit seinen bisherigen TrĂ€umen „nicht das geringste gemeinsam hatte“ (F 187). Er beschreibt, dass der Traum, wie alle seine TrĂ€ume, mit einer Farbe beginnt – eine Gemeinsamkeit mit der ersten TraumerzĂ€hlung. Allerdings entwickelt sich die Farbe „in das ZwischenverhĂ€ltnis aller Farben zu allen Farben“ und dann „bis in die Dunkelheit der Farben hinein“. ZunĂ€chst ist der Traum noch „tonlos“, doch „dann plötzlich, sich steigernd, zu einem GerĂ€usch werdend“ - und „plötzlich war dieser Traum [
] nur mehr GerĂ€usch“ (F 187). Dieses wird von dem TrĂ€umenden als unangenehm und bedrohlich wahrgenommen, es entwickelt sich „zu einem unheimlich geltungsbedĂŒrftigen Infernalischen“ (F 187) und wird als „ein ungeheurer LĂ€rm“ (F 188) bezeichnet. Dieser erzeugt einen unendlichen Raum, in dem zwei oder drei Polizisten „in dem schamlosen, erdachten, alles umfassenden SchnĂŒrboden der Unendlichkeit“ „taumelten“ oder „schwebten“ (F 188). Trotz des vergleichsweise hohen Grades der Abstraktion sind die Farben und die Musik durchaus Konstanten, die bereits im ersten Traum des Malers prĂ€sent waren. Auch die Verzerrung der rĂ€umlichen Dimensionen ins Unendliche sowie das Kippen einer optischen oder akustischen Wahrnehmung ins Bedrohliche sind wiederkehrende Elemente. In der abstrakten Traumwelt wird kraft der Phantasie die eigentliche Ordnung ausgehebelt - und das Traum-Ich schreckt vor der unendlichen Macht des Erdachten zurĂŒck.
  
 
====3. Traum====
 
====3. Traum====
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WĂ€hrend im ersten Traum das Motiv des anwachsenden Kopfes noch als Element der Groteske wahrgenommen werden kann, gewinnt es im weiteren Verlauf des Romans an Bedrohlichkeit. So beschreibt der Maler am sechsundzwanzigsten Tag, wie er nachts auf seinem Zimmerboden liegt und sich KĂ€lte in ihm ausbreitet: „Da wurde mein Kopf wieder so groß, blĂ€hte sich auf: alles wickelte sich in einer Art Halbschlaf ab: der große Kopf atmete und erdrĂŒckte fast meine Brust“ (F 301). WĂ€hrend im ersten Traum noch die Menschen und die Landschaft von dem Kopf getötet werden und das Traum-Ich allein in Finsternis zurĂŒckbleibt, wendet sich nun der eigene Kopf gegen das Ich. Er erdrĂŒckt das Ich, sodass es nicht mehr atmen kann. Dazu kommt, dass sich dieser Vorgang im Halbschlaf abspielt, er wird nicht mehr eindeutig als Traum markiert und ĂŒberschreitet die Grenze zwischen Traumwelt und Wachzustand. Das Bedrohungspotenzial nimmt daher zu, das Ich ist dabei von „Schmerzen“ und insbesondere „Kopfschmerzen“ (F 302) geplagt. Auch schon an frĂŒherer Stelle erklĂ€rt der Maler die Ausmaße seiner Kopfschmerzen mit dem Bild eines anschwellenden Kopfes: „Jetzt habe ich das GefĂŒhl, dieser Kopf hat nirgends mehr Platz, nicht einmal in der Landschaft. Nur Schmerzen. Nur Finsternis“ (F 48), Das Motiv wird also vom Wachzustand in den Traum ĂŒberfĂŒhrt und dort weiterentwickelt.
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WĂ€hrend im ersten Traum das Motiv des anwachsenden Kopfes noch als Element der Groteske wahrgenommen werden kann, gewinnt es im weiteren Verlauf des Romans an Bedrohlichkeit. So beschreibt der Maler am sechsundzwanzigsten Tag, wie er nachts auf seinem Zimmerboden liegt und sich KĂ€lte in ihm ausbreitet: „Da wurde mein Kopf wieder so groß, blĂ€hte sich auf: alles wickelte sich in einer Art Halbschlaf ab: der große Kopf atmete und erdrĂŒckte fast meine Brust“ (F 301). WĂ€hrend im ersten Traum noch die Menschen und die Landschaft von dem Kopf getötet werden und das Traum-Ich allein in Finsternis zurĂŒckbleibt, wendet sich nun der eigene Kopf gegen das Ich. Er erdrĂŒckt das Ich, sodass es nicht mehr atmen kann. Dazu kommt, dass sich dieser Vorgang im Halbschlaf abspielt; er wird nicht mehr eindeutig als Traum markiert und ĂŒberschreitet die Grenze zwischen Traumwelt und Wachzustand. Das Bedrohungspotenzial nimmt daher zu, das Ich ist dabei von „Schmerzen“ und insbesondere „Kopfschmerzen“ (F 302) geplagt. Auch schon an frĂŒherer Stelle erklĂ€rt der Maler die Ausmaße seiner Kopfschmerzen mit dem Bild eines anschwellenden Kopfes: „Jetzt habe ich das GefĂŒhl, dieser Kopf hat nirgends mehr Platz, nicht einmal in der Landschaft. Nur Schmerzen. Nur Finsternis“ (F 48), Das Motiv wird also vom Wachzustand in den Traum ĂŒberfĂŒhrt und dort weiterentwickelt.
  
 
====4. Traum====
 
====4. Traum====
 
Wenige AbsĂ€tze spĂ€ter berichtet der Maler erneut von einem Traum mit anwachsendem Kopf, der alle Menschen erdrĂŒckt: „Plötzlich hatte mein Kopf die Leute, die im Gastzimmer waren, auch die Leute am Extratisch, alle, den Wasenmeister, den Gendarm, den Ingenieur, alle, die Wirtin und ihre Töchter auch, an die Wand gedrĂŒckt. Im Traum, wissen Sie“ (F 305). WĂ€hrend der erste Traum in einer abstrakten Landschaft mit nicht weiter benannten Menschen stattfindet, ist er nun an einen bekannten Raum und konkrete Personen der unmittelbaren Umgebung geknĂŒpft. Dass es sich um eine TraumerzĂ€hlung handelt, wird erst durch den Nachsatz deutlich, denn die ErzĂ€hlung reiht sich ein in seine Berichte von Schmerz, körperlicher Dissoziation und den vermeintlich auslösenden Faktoren. Wie im zuvor beschriebenen Halbschlaf werden die Grenzen der Wahrnehmung verwischt. Der Kopf „erdrĂŒckte alles“, hat aber „nicht die Kraft, das Gasthaus zu sprengen“, und bleibt mit dem Traum-Ich verbunden: „Über mein Gesicht rann der Saft der Menschen, die mein Kopf schlagartig ausgelöscht hat, zerquetscht hat. GegenstĂ€nde und Menschen zu einem Brei“ (F 305). Sein Körper wird „fĂŒrchterlich eingezwĂ€ngt“ und hat „keine Möglichkeit mehr, zu atmen“ (F 306). Wie in der Halbschlaf-ErzĂ€hlung ist erneut das Motiv der Atemlosigkeit zentral, das in Bernhards Werk hĂ€ufig mit Krankheit und Tod, in den autobiographischen Texten aber auch mit (literarischer) Subjektwerdung verbunden wird.
 
Wenige AbsĂ€tze spĂ€ter berichtet der Maler erneut von einem Traum mit anwachsendem Kopf, der alle Menschen erdrĂŒckt: „Plötzlich hatte mein Kopf die Leute, die im Gastzimmer waren, auch die Leute am Extratisch, alle, den Wasenmeister, den Gendarm, den Ingenieur, alle, die Wirtin und ihre Töchter auch, an die Wand gedrĂŒckt. Im Traum, wissen Sie“ (F 305). WĂ€hrend der erste Traum in einer abstrakten Landschaft mit nicht weiter benannten Menschen stattfindet, ist er nun an einen bekannten Raum und konkrete Personen der unmittelbaren Umgebung geknĂŒpft. Dass es sich um eine TraumerzĂ€hlung handelt, wird erst durch den Nachsatz deutlich, denn die ErzĂ€hlung reiht sich ein in seine Berichte von Schmerz, körperlicher Dissoziation und den vermeintlich auslösenden Faktoren. Wie im zuvor beschriebenen Halbschlaf werden die Grenzen der Wahrnehmung verwischt. Der Kopf „erdrĂŒckte alles“, hat aber „nicht die Kraft, das Gasthaus zu sprengen“, und bleibt mit dem Traum-Ich verbunden: „Über mein Gesicht rann der Saft der Menschen, die mein Kopf schlagartig ausgelöscht hat, zerquetscht hat. GegenstĂ€nde und Menschen zu einem Brei“ (F 305). Sein Körper wird „fĂŒrchterlich eingezwĂ€ngt“ und hat „keine Möglichkeit mehr, zu atmen“ (F 306). Wie in der Halbschlaf-ErzĂ€hlung ist erneut das Motiv der Atemlosigkeit zentral, das in Bernhards Werk hĂ€ufig mit Krankheit und Tod, in den autobiographischen Texten aber auch mit (literarischer) Subjektwerdung verbunden wird.
  
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Neben der eigenen Bedrohung empfindet das Traum-Ich eine starke Trauer um die getöteten Menschen: „Da weinte ich, weil ich alle getötet hatte“ (F 306). Der Traum endet allerdings nicht mit dem Tod, sondern der ursprĂŒngliche Zustand wird wieder hergestellt: „So wurde ich wahnsinnig. Da schrumpfte der Kopf plötzlich auf seine ursprĂŒngliche GrĂ¶ĂŸe zusammen. [...] Alle saßen auf ihren PlĂ€tzen und tranken und aßen und bestellten und zahlten. [...] Ich wachte erschöpft auf und sah, daß ich meine Wolldecke verloren hatte“ (F 306). Indem das Traum-Ich durch die Trauer um die Mitmenschen seinen Widerstand aufgibt und sich dem Wahnsinn ĂŒberlĂ€sst, kehrt die Ordnung zurĂŒck. Die Bedrohung der Umgebung durch seinen anwachsenden Kopf kann nicht nur beendet werden, auch die bereits verursachte Zerstörung wird wieder rĂŒckgĂ€ngig gemacht. Bozzi deutet diese TraumerzĂ€hlung als einen Alptraum, der den „Körper als Überschuss“ inszeniere: „Der Bernhardsche Traumtext thematisiert in diesem Sinne die Last des Leibes, den Sturz in die amorphe Tiefe und die hassenswerte und furchtgebietende Macht der Auflösung“ (Bozzi 2002, 136). Allerdings ist es in dieser TraumerzĂ€hlung eben nicht die „Flut des Unter- und Unbewussten“, in der das „strukturierende Bewusstsein versinkt“ (ebd., 136). Der Text fĂŒhrt vielmehr die psychoanalytische Deutung ad absurdum, da gerade das Wahnsinnigwerden dem alptraumhaften Geschehen Einhalt gebietet. Dieser Schritt in den Wahnsinn, der in den vorangehenden Passagen als Konsequenz der nicht auszuhaltenden (Kopf-)Schmerzen der Existenz hergeleitet wird, erscheint im Traum als Erlösung. Eine solche VerknĂŒpfung lĂ€sst sich auch hinsichtlich der Selbstmordgedanken des Malers feststellen, die ebenfalls mit Traummotivik illustriert werden. So Ă€ußert er sich ĂŒber die Option des Erfrierens, es „fĂŒhre in einem Traum, aus dem man nicht mehr herauskomme“ (F 51). Die Auflösung oder Aufgabe der eigenen Existenz in Wahnsinn oder Tod wird als möglicher Ausweg empfunden und im Traum durchaus positiv konnotiert.  
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Neben der eigenen Bedrohung empfindet das Traum-Ich eine starke Trauer um die getöteten Menschen: „Da weinte ich, weil ich alle getötet hatte“ (F 306). Der Traum endet allerdings nicht mit dem Tod, sondern der ursprĂŒngliche Zustand wird wieder hergestellt: „So wurde ich wahnsinnig. Da schrumpfte der Kopf plötzlich auf seine ursprĂŒngliche GrĂ¶ĂŸe zusammen. [
] Alle saßen auf ihren PlĂ€tzen und tranken und aßen und bestellten und zahlten. [
] Ich wachte erschöpft auf und sah, daß ich meine Wolldecke verloren hatte“ (F 306). Indem das Traum-Ich durch die Trauer um die Mitmenschen seinen Widerstand aufgibt und sich dem Wahnsinn ĂŒberlĂ€sst, kehrt die Ordnung zurĂŒck. Die Bedrohung der Umgebung durch seinen anwachsenden Kopf kann nicht nur beendet werden, auch die bereits verursachte Zerstörung wird wieder rĂŒckgĂ€ngig gemacht. Bozzi deutet diese TraumerzĂ€hlung als einen Alptraum, der den „Körper als Überschuss“ inszeniere: „Der Bernhardsche Traumtext thematisiert in diesem Sinne die Last des Leibes, den Sturz in die amorphe Tiefe und die hassenswerte und furchtgebietende Macht der Auflösung“ (Bozzi 2002, 136). Allerdings ist es in dieser TraumerzĂ€hlung eben nicht die „Flut des Unter- und Unbewussten“, in der das „strukturierende Bewusstsein versinkt“ (ebd., 136). Der Text fĂŒhrt vielmehr die psychoanalytische Deutung ad absurdum, da gerade das Wahnsinnigwerden dem alptraumhaften Geschehen Einhalt gebietet. Dieser Schritt in den Wahnsinn, der in den vorangehenden Passagen als Konsequenz der nicht auszuhaltenden (Kopf-)Schmerzen der Existenz hergeleitet wird, erscheint im Traum als Erlösung. Eine solche VerknĂŒpfung lĂ€sst sich auch hinsichtlich der Selbstmordgedanken des Malers feststellen, die ebenfalls mit Traummotivik illustriert werden. So Ă€ußert er sich ĂŒber die Option des Erfrierens, es „fĂŒhre in einem Traum, aus dem man nicht mehr herauskomme“ (F 51). Die Auflösung oder Aufgabe der eigenen Existenz in Wahnsinn oder Tod wird als möglicher Ausweg empfunden und im Traum durchaus positiv konnotiert.  
  
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====TrÀume und Philosophie====
 
Ein typisch Berhardsches ErzĂ€hlverfahren ist es, „Figuren durch von ihnen bevorzugte Autoren bzw. literarische oder philosophische Werke zu charakterisieren“ (GĂ¶ĂŸling 2018, 41). Diese Technik der intertextuellen VerknĂŒpfung wird in ''Frost'' mit den TrĂ€umen des Malers verbunden. Nach dem ersten Traum schreibt der Student: „Der Maler zog seinen Pascal aus der linken Rocktasche und steckte ihn in seine rechte Rocktasche“ (F 40). Nach dem bedrohlichen Traum im Halbschlaf ist dem Maler die LektĂŒre unmöglich geworden: „Auch meinen Pascal kann ich nicht mehr lesen“ (F 302). Und nach dem Traum, der in einer Wiederherstellung der NormalitĂ€t endet, findet der Maler zu einer schlaflosen Ruhe: „Jedenfalls hatte ich keinen Traum mehr. Vielleicht, weil ich still auf meinem Bett sitzen blieb und in meinem Pascal blĂ€tterte. Vielleicht“ (F 307). Diese Verweise auf den französischen Philosophen Blaise Pascal (1623-1662) sind auf dessen ''PenseĂ©s'' (1669) bezogen, die neben stilistischen Übereinstimmungen auch SinnwidersprĂŒche und Paradoxa als Reaktionen auf die Zerrissenheit der menschlichen Existenz mit Bernhards Protagonisten gemeinsam haben (Klug 1991, 46 f.). Zentral fĂŒr die Charakterisierung des Malers ist eine Technik, die Klug ausgehend von Bernhards TheaterstĂŒcken als „Dramatisierung von Gedanken Pascals ĂŒber die Unruhe des Daseins“ bezeichnet (ebd., 47). Ebenso wie auch der Maler gehört Pascal zu den „EinzelgĂ€ngern und Außenseitern der Philosophiegeschichte“ und philosophiert „nicht beruflich, sondern aus Berufung“ (ebd., 36 f.).  
 
Ein typisch Berhardsches ErzĂ€hlverfahren ist es, „Figuren durch von ihnen bevorzugte Autoren bzw. literarische oder philosophische Werke zu charakterisieren“ (GĂ¶ĂŸling 2018, 41). Diese Technik der intertextuellen VerknĂŒpfung wird in ''Frost'' mit den TrĂ€umen des Malers verbunden. Nach dem ersten Traum schreibt der Student: „Der Maler zog seinen Pascal aus der linken Rocktasche und steckte ihn in seine rechte Rocktasche“ (F 40). Nach dem bedrohlichen Traum im Halbschlaf ist dem Maler die LektĂŒre unmöglich geworden: „Auch meinen Pascal kann ich nicht mehr lesen“ (F 302). Und nach dem Traum, der in einer Wiederherstellung der NormalitĂ€t endet, findet der Maler zu einer schlaflosen Ruhe: „Jedenfalls hatte ich keinen Traum mehr. Vielleicht, weil ich still auf meinem Bett sitzen blieb und in meinem Pascal blĂ€tterte. Vielleicht“ (F 307). Diese Verweise auf den französischen Philosophen Blaise Pascal (1623-1662) sind auf dessen ''PenseĂ©s'' (1669) bezogen, die neben stilistischen Übereinstimmungen auch SinnwidersprĂŒche und Paradoxa als Reaktionen auf die Zerrissenheit der menschlichen Existenz mit Bernhards Protagonisten gemeinsam haben (Klug 1991, 46 f.). Zentral fĂŒr die Charakterisierung des Malers ist eine Technik, die Klug ausgehend von Bernhards TheaterstĂŒcken als „Dramatisierung von Gedanken Pascals ĂŒber die Unruhe des Daseins“ bezeichnet (ebd., 47). Ebenso wie auch der Maler gehört Pascal zu den „EinzelgĂ€ngern und Außenseitern der Philosophiegeschichte“ und philosophiert „nicht beruflich, sondern aus Berufung“ (ebd., 36 f.).  
  
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Strauchs RĂŒckgriff auf Pascal unmittelbar nach den verstörenden TrĂ€umen wirkt wie ein Versuch, wieder Halt in der Philosophie zu finden – mit dem Wissen, dass auch diese voller WidersprĂŒche und Unsicherheiten ist. So findet sich der Verweis auf Pascal ebenso in Verbindung mit seinen Selbstmordgedanken, denn am vierundzwanzigsten Tag berichtet der Student, dass der Maler immer wieder „das Wort Selbstmord“ verwende und die AlltĂ€glichkeit des Daseins beklage, die er auf seine TrĂ€ume bezieht: „Selbst meine TrĂ€ume sind alltĂ€glich. Und ich, ich hĂ€tte auf andere als auf alltĂ€gliche TrĂ€ume Anspruch“ (F 286). Im Anschluss kommentiert er den Umgang mit Pascal folgendermaßen: Der Maler versucht, „mit seinem Pascal alles zu beweisen [...] und weiß, daß nichts zu beweisen ist“ (F 287). Ebenso wie die TrĂ€ume die VerselbstĂ€ndigung der GeisteskrĂ€fte zeigen und die Entwicklung in Richtung Wahnsinn und Ich-Auflösung illustrieren, zeigt auch der Verweis auf Pascal die Unruhe des Daseins und die Unmöglichkeit, dem Prozess durch philosophisches Denken Einhalt zu gebieten.
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Strauchs RĂŒckgriff auf Pascal unmittelbar nach den verstörenden TrĂ€umen wirkt wie ein Versuch, wieder Halt in der Philosophie zu finden – mit dem Wissen, dass auch diese voller WidersprĂŒche und Unsicherheiten ist. So findet sich der Verweis auf Pascal ebenso in Verbindung mit seinen Selbstmordgedanken, denn am vierundzwanzigsten Tag berichtet der Student, dass der Maler immer wieder „das Wort Selbstmord“ verwende und die AlltĂ€glichkeit des Daseins beklage, die er auf seine TrĂ€ume bezieht: „Selbst meine TrĂ€ume sind alltĂ€glich. Und ich, ich hĂ€tte auf andere als auf alltĂ€gliche TrĂ€ume Anspruch“ (F 286). Im Anschluss kommentiert er den Umgang mit Pascal folgendermaßen: Der Maler versucht, „mit seinem Pascal alles zu beweisen [
] und weiß, daß nichts zu beweisen ist“ (F 287). Ebenso wie die TrĂ€ume die VerselbstĂ€ndigung der GeisteskrĂ€fte zeigen und die Entwicklung in Richtung Wahnsinn und Ich-Auflösung illustrieren, zeigt auch der Verweis auf Pascal die Unruhe des Daseins und die Unmöglichkeit, dem Prozess durch philosophisches Denken Einhalt zu gebieten.
  
 
===TrÀume des Studenten===
 
===TrÀume des Studenten===
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Da die Weltwahrnehmung des Malers im Fokus der Narration steht, nehmen die Reflexionen und Erlebnisse des Studenten deutlich weniger Raum ein – ebenso seine TrĂ€ume, von denen nur einer erzĂ€hlt und ein weiterer angedeutet wird. Der mögliche Traum bezieht sich auf ein Erlebnis in der Nacht zum zweiundzwanzigsten Tag, in der er GerĂ€usche hört und beobachtet, wie der Wasenmeister der Wirtin einen Rucksack bringt, in dem er Tierkadaver vermutet. Er schleicht aus dem Zimmer und wird Zeuge einer Unterhaltung der beiden, die seine Vermutung bestĂ€tigt: „Jetzt weiß ich, daß sie mit Hundefleisch kocht, dachte ich. Der Maler hat es ja gesagt. Es ist wahr“ (F 257). Am nĂ€chsten Morgen kommt ihm diese „Geschichte“ allerdings „immer wieder wie ein Traum“ (F 257) vor und er beschließt, niemandem davon zu erzĂ€hlen. Er reflektiert ĂŒber die Möglichkeit, so realistisch zu trĂ€umen: „Daß im Traum derartiges möglich ist, auch bei geistig gesunden Menschen – im Traum ist alles möglich –, weiß ich; aber es war kein Traum“ (F 258). Sollte es sich um einen Traum handeln, so bestĂ€tigt dieser die langsame Übernahme der Weltsicht des Malers. Die Andeutung, dass es eventuell kein Traum war, trĂ€gt zur albtraumhaften Kulisse des Dorfes bei, in der die Grenzen zwischen Traum und RealitĂ€t verwischt werden.
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Da die Weltwahrnehmung des Malers im Fokus der Narration steht, nehmen die Reflexionen und Erlebnisse des Studenten deutlich weniger Raum ein – ebenso seine TrĂ€ume, von denen nur einer erzĂ€hlt und ein weiterer angedeutet wird. Der mögliche Traum bezieht sich auf ein Erlebnis in der Nacht zum zweiundzwanzigsten Tag, in der er GerĂ€usche hört und beobachtet, wie der Wasenmeister der Wirtin einen Rucksack bringt, in dem er Tierkadaver vermutet. Er schleicht aus dem Zimmer und wird Zeuge einer Unterhaltung der beiden, die seine Vermutung bestĂ€tigt: „Jetzt weiß ich, daß sie mit Hundefleisch kocht, dachte ich. Der Maler hat es ja gesagt. Es ist wahr“ (F 257). Am nĂ€chsten Morgen kommt ihm diese „Geschichte“ allerdings „immer wieder wie ein Traum“ (F 257) vor und er beschließt, niemandem davon zu erzĂ€hlen. Er reflektiert ĂŒber die Möglichkeit, so realistisch zu trĂ€umen: „Daß im Traum derartiges möglich ist, auch bei geistig gesunden Menschen – im Traum ist alles möglich –, weiß ich; aber es war kein Traum“ (F 258). Sollte es sich um einen Traum handeln, so bestĂ€tigt dieser die langsame Übernahme der Weltsicht des Malers. Die Andeutung, dass es eventuell kein Traum war, trĂ€gt zur alptraumhaften Kulisse des Dorfes bei, in der die Grenzen zwischen Traum und RealitĂ€t verwischt werden.
  
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Am zehnten Tag berichtet der Student, der sich bisher „an keinen einzigen Traum in der letzten Zeit erinnern“ kann, dass er „von Strauch getrĂ€umt“ (F 106) hat. Sein Traum-Ich ist gefeierter Arzt, schreitet durch die Klink und die Patienten verneigen sich vor ihm. In einem „schlachthausĂ€hnlichen, weißgekachelten Raum“ befindet sich „Strauch auf dem Operationstisch angeschnallt“, der „sich dauernd halb rotierend bewegte“ (F 107). Aufgrund der Bewegung des Tischs möchte er nicht operieren, aber die Ärzteschaft fordert ihn dazu auf und insbesondere der Chirurg drĂ€ngt: „Schneiden Sie doch! [...] Sie sind meinem Bruder ''alles'' schuldig!“ (F 108). Das Traum-Ich des Studenten fĂ€ngt an und fĂŒhrt „eine Reihe von Operationen [...] gleichzeitig aus,“ bis ihm auffĂ€llt, dass er den Körper „vollkommen zerschnitten“ hat: „Der Körper war ĂŒberhaupt nicht mehr als Körper erkennbar. Es war wie ein Fleisch, das ich folgerichtig, tadellos, aber vollkommen verrĂŒckt zerschnitten hatte und jetzt wieder tadellos, aber wahnsinnig geworden zusammennĂ€hte“ (F 108). Die Ärzteschaft ist von dieser Operation begeistert, lobt seine „großartige Leistung“ und hebt ihn im Jubel hinauf. Von oben blickt er auf den Operationstisch und sieht „einen Haufen völlig zerstĂŒckelten Fleisches, das schlagweise Blut ausstieß, ununterbrochen Blut ausstieß, riesige Mengen Blutes und langsam alles in Blut ertrĂ€nkte, alles, die Ärzteschaft, alles“ (F 109). Nach dem Aufwachen erinnert sich der Student, dass alle Ärzte im Traum mit grotesken Kinderstimmen gesprochen haben.
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Am zehnten Tag berichtet der Student, der sich bisher „an keinen einzigen Traum in der letzten Zeit erinnern“ kann, dass er „von Strauch getrĂ€umt“ hat (F 106). Sein Traum-Ich ist gefeierter Arzt, schreitet durch die Klink und die Patienten verneigen sich vor ihm. In einem „schlachthausĂ€hnlichen, weißgekachelten Raum“ befindet sich „Strauch auf dem Operationstisch angeschnallt“, der „sich dauernd halb rotierend bewegte“ (F 107). Aufgrund der Bewegung des Tischs möchte er nicht operieren, aber die Ärzteschaft fordert ihn dazu auf und insbesondere der Chirurg drĂ€ngt: „Schneiden Sie doch! [
] Sie sind meinem Bruder ''alles'' schuldig!“ (F 108). Das Traum-Ich des Studenten fĂ€ngt an und fĂŒhrt „eine Reihe von Operationen [
] gleichzeitig aus,“ bis ihm auffĂ€llt, dass er den Körper „vollkommen zerschnitten“ hat: „Der Körper war ĂŒberhaupt nicht mehr als Körper erkennbar. Es war wie ein Fleisch, das ich folgerichtig, tadellos, aber vollkommen verrĂŒckt zerschnitten hatte und jetzt wieder tadellos, aber wahnsinnig geworden zusammennĂ€hte“ (F 108). Die Ärzteschaft ist von dieser Operation begeistert, lobt seine „großartige Leistung“ (F 108) und hebt ihn im Jubel hinauf. Von oben blickt er auf den Operationstisch und sieht „einen Haufen völlig zerstĂŒckelten Fleisches, das schlagweise Blut ausstieß, ununterbrochen Blut ausstieß, riesige Mengen Blutes und langsam alles in Blut ertrĂ€nkte, alles, die Ärzteschaft, alles“ (F 109). Nach dem Aufwachen erinnert sich der Student, dass alle Ärzte im Traum mit grotesken Kinderstimmen gesprochen haben.
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Bozzi bezieht sich in ihrer Deutung des Traums auf Jaques Lacan und sieht darin ein Zeichen von aggressiver Desintegration, da der Student in der feindlichen Umgebung dem Maler und seiner Gedankenwelt hilflos ausgeliefert sei. Auch lasse das Eindringen in das Fleisch und die Bewegung mĂ€nnliche SexualitĂ€t anklingen, die in einer Ejakulationsmetapher mĂŒnde und Auswirkung einer Angst vor sexueller AktivitĂ€t sei (Bozzi 2002, 134 f.) Ordnet man den Traum jedoch in das bereits skizzierte Denkschema des Studenten ein, wird er zum Symbol seiner Auseinandersetzung mit dem Beobachtungsobjekt und den Konsequenzen fĂŒr seine Vorstellung von Medizin. Im Traum folgt er den Anweisungen der anderen Ärzte, wie er zunĂ€chst der Anweisung des Chirurgen zur Beobachtung des Malers gefolgt ist. Er nimmt „ganz prĂ€zise Operationen“ (F 108) vor, die aber seinen Patienten zerstören. Daran wird deutlich, dass sich sein Untersuchungsgegenstand mit den herkömmlichen Methoden der Medizin nicht fassen lĂ€sst, da er sich in Rotation, also in permanenter geistiger Unruhe, befindet. Der Maler kann nicht operiert und geheilt werden, die chirurgischen Kompetenzen bringen ihn in diesem Fall nicht weiter. Der Traum zeugt von seinem Kontrollverlust und der Erkenntnis, dass er dem Maler als Arzt nicht helfen kann – der Ich-Zerfall des Malers lĂ€sst sich zwar beobachten, aber nicht aufhalten.  
 
  
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Bozzi bezieht sich in ihrer Deutung des Traums auf den französischen Psychoanalytiker Jaques Lacan (1901-1981) und sieht darin ein Zeichen von aggressiver Desintegration, da der Student in der feindlichen Umgebung dem Maler und seiner Gedankenwelt hilflos ausgeliefert sei. Auch lasse das Eindringen in das Fleisch und die Bewegung mĂ€nnliche SexualitĂ€t anklingen, die in einer Ejakulationsmetapher mĂŒnde und Auswirkung einer Angst vor sexueller AktivitĂ€t sei (Bozzi 2002, 134 f.) Ordnet man den Traum jedoch in das bereits skizzierte Denkschema des Studenten ein, wird er zum Symbol seiner Auseinandersetzung mit dem Beobachtungsobjekt und den Konsequenzen fĂŒr seine Vorstellung von Medizin. Im Traum folgt er den Anweisungen der anderen Ärzte, wie er zunĂ€chst der Anweisung des Chirurgen zur Beobachtung des Malers gefolgt ist. Er nimmt „ganz prĂ€zise Operationen“ (F 108) vor, die aber seinen Patienten zerstören. Daran wird deutlich, dass sich sein Untersuchungsgegenstand mit den herkömmlichen Methoden der Medizin nicht fassen lĂ€sst, da er sich in Rotation, also in permanenter geistiger Unruhe, befindet. Der Maler kann nicht operiert und geheilt werden, die chirurgischen Kompetenzen bringen den Studenten in diesem Fall nicht weiter. Der Traum zeugt von seinem Kontrollverlust und der Erkenntnis, dass er dem Maler als Arzt nicht helfen kann – der Ich-Zerfall des Malers lĂ€sst sich zwar beobachten, aber nicht aufhalten.
  
 
==Einordnung==
 
==Einordnung==
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Das VerhĂ€ltnis der Protagonisten zu den TrĂ€umen kann zunĂ€chst dem Bernhardschen Figurentypus des Geistesmenschen zugeordnet werden. So stellt auch Bozzi fest, dass fĂŒr diese Figuren „das dem Geist verpflichtete Leben als höchste Stufe des Daseins dargestellt“ (Bozzi 2002, 128) wird und die Verwendung des Traummotivs den Autor in die Lage versetze, „die Zwanghaftigkeit des Geistigen in Frage zu stellen und letztlich ad absurdum zu fĂŒhren“ (ebd., 131). Ihre psychoanalytische Deutung der Traumszenen folgt daher der Annahme, dass sich „Bernhards negatives VerstĂ€ndnis von Körperlichkeit“ (ebd., 128) in einem Dualismus von Körperlichkeit und Geist niederschlage, der bei den Figuren zu einer Verbannung des Körperlichen ins Unter- und Unbewusste fĂŒhre, was eine VerselbstĂ€ndigung des Körpers und der Triebe im Traum begĂŒnstige: „Der Nachttraum ist der andere Diskurs im Werk Thomas Bernhards: das subversive Potential, die anarchische Dimension, die durch die Vernunftform ersetzt worden ist, aber schattenhaft weiterlebt“ (ebd., 137). Dieser Deutung ist insofern zu widersprechen, dass der Dualismus von Körper und Geist, wie auch der Antagonismus von Verstand und Phantasie, in ''Frost'' nicht aufrechterhalten wird. Durch die Motivik des Schmerzes, des Verfalls und der Ich-Auflösung wird immer wieder deutlich, dass der Sieg des Körpers unausweichlich ist. Die stete Thematisierung des Schmerzes und der körperlichen Leiden des Malers widerspricht einer Verbannung des Körperlichen ins Unterbewusste. VergĂ€nglichkeit und Tod bedeuten fĂŒr ihn einerseits die Auslöschung des Geistes, stellen aber andererseits keine Bedrohung, sondern eine Erlösung dar: „Der Tod kann nur das Aufhören aller Schmerzen sein. Der Tod bedeutet Freisein von allem; vor allem von mir selbst“ (F 90).
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Das VerhĂ€ltnis der Protagonisten zu den TrĂ€umen kann zunĂ€chst dem Bernhardschen Figurentypus des ,Geistesmenschen‘ zugeordnet werden. So stellt auch Bozzi fest, dass fĂŒr diese Figuren „das dem Geist verpflichtete Leben als höchste Stufe des Daseins dargestellt“ wird (Bozzi 2002, 128) und die Verwendung des Traummotivs den Autor in die Lage versetze, „die Zwanghaftigkeit des Geistigen in Frage zu stellen und letztlich ad absurdum zu fĂŒhren“ (ebd., 131). Ihre psychoanalytische Deutung der Traumszenen folgt daher der Annahme, dass sich „Bernhards negatives VerstĂ€ndnis von Körperlichkeit“ (ebd., 128) in einem Dualismus von Körperlichkeit und Geist niederschlage, der bei den Figuren zu einer Verbannung des Körperlichen ins Unter- und Unbewusste fĂŒhre. Dies begĂŒnstige eine VerselbstĂ€ndigung des Körpers und der Triebe im Traum: „Der Nachttraum ist der andere Diskurs im Werk Thomas Bernhards: das subversive Potential, die anarchische Dimension, die durch die Vernunftform ersetzt worden ist, aber schattenhaft weiterlebt“ (ebd., 137). Dieser Deutung ist insofern zu widersprechen, als der Dualismus von Körper und Geist, wie auch der Antagonismus von Verstand und Phantasie, in ''Frost'' nicht aufrechterhalten wird. Durch die Motivik des Schmerzes, des Verfalls und der Ich-Auflösung wird immer wieder deutlich, dass der Sieg des Körpers unausweichlich ist. Die stete Thematisierung des Schmerzes und der körperlichen Leiden des Malers widerspricht einer Verbannung des Körperlichen ins Unterbewusste. VergĂ€nglichkeit und Tod bedeuten fĂŒr ihn einerseits die Auslöschung des Geistes, stellen aber andererseits keine Bedrohung, sondern eine Erlösung dar: „Der Tod kann nur das Aufhören aller Schmerzen sein. Der Tod bedeutet Freisein von allem; vor allem von mir selbst“ (F 90).
  
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Die TrĂ€ume zeigen zwar eine radikalisierte Körperlichkeit in grotesken oder bedrohlichen Szenarien, symbolisieren jedoch hauptsĂ€chlich das VerhĂ€ltnis des Ichs zu seiner Umwelt beziehungsweise im Falle des Studenten zu seinem Beobachtungsobjekt, und deuten seinen Kontrollverlust an. Hierbei ist wichtig, dass die Traumwelten zwar albtraumhaft ĂŒbersteigert sind, aber in ihrer Bedrohlichkeit kaum einen Unterschied zur Wirklichkeit der Protagonisten ausmachen. Sie greifen zentrale Motive der Narration, wie beispielsweise die Schlachthausmetaphorik, die PrĂ€senz von körperlicher Versehrtheit und Tod, die empfundene Hilflosigkeit sowie den Kontrollverlust, auf. GĂ¶ĂŸling bezeichnet daher ''Frost'' in GĂ€nze „als Alptraum der ,Auflösung‘“ (GĂ¶ĂŸling 1987, 15) und deutet die fiktive Welt in Anlehnung an Freudsche Traumkategorien, indem „die objektivierte Landschaft zugleich als Bewußtseinslandschaft erkennbar [wird], d.h. als Traum- oder Wunschtraumwelt, in der sich – in verdichteten, ĂŒberdeterminierten Zeichen – die psychische Problematik des imaginierenden Subjekts niederschlĂ€gt“ (GĂ¶ĂŸling 1987, 11).
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Die TrĂ€ume zeigen zwar eine radikalisierte Körperlichkeit in grotesken oder bedrohlichen Szenarien, symbolisieren jedoch hauptsĂ€chlich das VerhĂ€ltnis des Ichs zu seiner Umwelt - beziehungsweise, im Falle des Studenten, zu seinem Beobachtungsobjekt - und deuten seinen Kontrollverlust an. Hierbei ist wichtig, dass die Traumwelten zwar alptraumhaft ĂŒbersteigert sind, aber in ihrer Bedrohlichkeit kaum einen Unterschied zur Wirklichkeit der Protagonisten ausmachen. Sie greifen zentrale Motive der Narration auf, wie beispielsweise die Schlachthausmetaphorik, die PrĂ€senz von körperlicher Versehrtheit und Tod, die empfundene Hilflosigkeit sowie den Kontrollverlust. GĂ¶ĂŸling bezeichnet daher ''Frost'' in GĂ€nze „als Alptraum der ,Auflösung‘“ (GĂ¶ĂŸling 1987, 15) und deutet die fiktive Welt in Anlehnung an Freudsche Traumkategorien, indem „die objektivierte Landschaft zugleich als Bewußtseinslandschaft erkennbar [wird], d.h. als Traum- oder Wunschtraumwelt, in der sich – in verdichteten, ĂŒberdeterminierten Zeichen – die psychische Problematik des imaginierenden Subjekts niederschlĂ€gt“ (GĂ¶ĂŸling 1987, 11).
  
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Nicht die Trennung zwischen Körper und Geist, sondern andere Prozesse sind es, die eine Interpretation der TrĂ€ume mit dem Figurentypus des Geistesmenschen nahelegen. So definiert sich dieser ĂŒber eine stĂ€ndige Reflexion, die sich jedoch verselbstĂ€ndigt: „Der Geist bzw. die Geistigkeit manifestieren sich dabei in einem permanenten Reflexionsprozess, der sich verabsolutiert hat und der auch von dem Subjekt, das ihn trĂ€gt, nicht mehr zu kontrollieren ist“ (Jahraus 2018, 368). Die fĂŒr den Geistesmenschen bestimmende Reflexion folgt also einer Traumlogik, indem sie dem Verstand und seiner Kontrolle entgleitet. Dies zeigt sich im Roman an der bereits erwĂ€hnten PrĂ€senz von Themen und Motiven der vorherigen Reflexion im Traum. Der Übergang zwischen Traum und Reflexion wirkt fließend, ihre Elemente werden im Traum aufgegriffen, weiterentwickelt, abstrahiert und radikalisiert. Dabei erweist sich auch die NĂ€he zum Wahnsinn als bereits im Figurentypus des Geistesmenschen angelegt: „Permanent droht ihn der geistige Prozess von Reflexion und Autoreflexion zu ĂŒberfordern, konkret in Form des VerrĂŒcktwerdens [...] und der endgĂŒltigen A-Sozialisierung insbesondere durch Gewalt entweder gegen sich selbst im Selbstmord oder gegen andere im Mord“ (Jahraus 2018, 369).
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Nicht die Trennung zwischen Körper und Geist, sondern andere Prozesse sind es, die eine Interpretation der TrĂ€ume mit dem Figurentypus des Geistesmenschen nahelegen. So definiert sich dieser ĂŒber eine stĂ€ndige Reflexion, die sich jedoch verselbstĂ€ndigt: „Der Geist bzw. die Geistigkeit manifestieren sich [
] in einem permanenten Reflexionsprozess, der sich verabsolutiert hat und der auch von dem Subjekt, das ihn trĂ€gt, nicht mehr zu kontrollieren ist“ (Jahraus 2018, 368). Die fĂŒr den Geistesmenschen bestimmende Reflexion folgt also einer Traumlogik, indem sie dem Verstand und seiner Kontrolle entgleitet. Dies zeigt sich im Roman an der bereits erwĂ€hnten PrĂ€senz von Themen und Motiven der vorherigen Reflexion im Traum. Der Übergang zwischen Traum und Reflexion wirkt fließend, ihre Elemente werden im Traum aufgegriffen, weiterentwickelt, abstrahiert und radikalisiert. Dabei erweist sich auch die NĂ€he zum Wahnsinn als bereits im Figurentypus des Geistesmenschen angelegt: „Permanent droht ihn der geistige Prozess von Reflexion und Autoreflexion zu ĂŒberfordern, konkret in Form des VerrĂŒcktwerdens [
] und der endgĂŒltigen A-Sozialisierung insbesondere durch Gewalt entweder gegen sich selbst im Selbstmord oder gegen andere im Mord“ (Jahraus 2018, 369).
 
   
 
   
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Der Maler Strauch entspricht also diesem Grundtypus der Bernhardschen Prosa, in dessen Wahrnehmung die Grenzen zwischen Traum und dem (Wieder-)Erleben traumatischer Erlebnisse verschwimmen (Bombitz 2012, 58). Gleichzeitig ist sein Ringen mit sich und der Welt, das sich in seinen TrĂ€umen manifestiert und auch zunehmend die Reflexionen des Studenten bestimmt, exemplarisch fĂŒr das WeltverhĂ€ltnis vieler Protagonisten Bernhards: „Die jeweiligen Lebensgeschichte des besonderen Subjektes ist ein Sinnbild fĂŒr allgemein-existenzielle Schrecknisse, die sich in AlptrĂ€umen wie traumatisierten Situationen wiederholen“ (ebd., 59). Allerdings ist die fĂŒr Bernhards Prosa ebenfalls typische Komik der Übertreibung in ''Frost'' weniger prĂ€sent als in den spĂ€teren Prosatexten. In den TraumerzĂ€hlungen des Malers sind zwar groteske Elemente vorhanden, diese tragen jedoch eher zur beklemmend ausweglosen Szenerie bei. Ebenso scheint es, als nehme der narrative Einsatz von TrĂ€umen in den spĂ€teren Prosatexten Bernhards tendenziell ab. Bozzi verweist auf einzelne Traumszenen in ''Verstörung'' (1967) sowie ''Auslöschung'' (1986) (Bozzi 2002, ###), aber Bennholdt-Thomsen konstatiert in ihrer Untersuchung der gleichen, autobiographisch lesbaren, Traumszene in ''Auslöschung'', dass die TraumerzĂ€hlung in Bernhards Romanwerk „selten und von auffĂ€lliger Relevanz“ (Bennholdt-Thomsen 2001, 44) sei. Die dichte VerknĂŒpfung von Narration und TraumerzĂ€hlungen, die auf thematischer und motivischer Ebene ineinander ĂŒbergehen und von der albtraumhaften Kulisse potenziert werden, macht die besondere AtmosphĂ€re von ''Frost'' aus.
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Der Maler Strauch entspricht also diesem Grundtypus der Bernhardschen Prosa, in dessen Wahrnehmung die Grenzen zwischen Traum und dem (Wieder-)Erleben traumatischer Erlebnisse verschwimmen (Bombitz 2012, 58). Gleichzeitig ist sein Ringen mit sich und der Welt, das sich in seinen TrĂ€umen manifestiert und auch zunehmend die Reflexionen des Studenten bestimmt, exemplarisch fĂŒr das WeltverhĂ€ltnis vieler Protagonisten Bernhards: „Die jeweiligen Lebensgeschichte des besonderen Subjektes ist ein Sinnbild fĂŒr allgemein-existenzielle Schrecknisse, die sich in AlptrĂ€umen wie traumatisierten Situationen wiederholen“ (ebd., 59). Allerdings ist die fĂŒr Bernhards Prosa ebenfalls typische Komik der Übertreibung in ''Frost'' noch weniger prĂ€sent als in den spĂ€teren Prosatexten. In den TraumerzĂ€hlungen des Malers sind zwar groteske Elemente vorhanden, diese tragen jedoch eher zur beklemmend ausweglosen Szenerie bei. Ebenso scheint es, als nehme der narrative Einsatz von TrĂ€umen in den spĂ€teren Prosatexten Bernhards tendenziell ab. Bozzi verweist auf einzelne Traumszenen in ''Verstörung'' (1967) sowie ''Auslöschung'' (1986) (vgl. Bozzi 2002, 137-148), aber Bennholdt-Thomsen konstatiert in ihrer Untersuchung der gleichen, autobiographisch lesbaren, Traumszene in ''Auslöschung'', dass die TraumerzĂ€hlung in Bernhards Romanwerk „selten und von auffĂ€lliger Relevanz“ (Bennholdt-Thomsen 2001, 44) sei. Die dichte VerknĂŒpfung von Narration und TraumerzĂ€hlungen, die auf thematischer und motivischer Ebene ineinander ĂŒbergehen und von der albtraumhaften Kulisse potenziert werden, macht die besondere AtmosphĂ€re von ''Frost'' aus.
  
  
 
<div style="text-align: right;">[[Autoren|Stephanie Blum]]</div>
 
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==Literatur==
 
==Literatur==
Zeile 87: Zeile 86:
 
[[Kategorie:20._Jahrhundert]]
 
[[Kategorie:20._Jahrhundert]]
  
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[[Kategorie:Gegenwart]]
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[[Kategorie:Nachkriegszeit]]
  
 
[[Kategorie:Literatur]]
 
[[Kategorie:Literatur]]

Aktuelle Version vom 24. Oktober 2022, 12:02 Uhr

Thomas Bernhards (1931-1989) DebĂŒtroman Frost (1963) enthĂ€lt mehrere TraumerzĂ€hlungen, die als SchlĂŒsselszenen zur Thematik des Ich-Verlusts und -Zerfalls beitragen, indem sie zentrale Motive des Romans aufgreifen und metaphorisch verdichten. Ein junger (namenlos bleibender) Medizinstudent wird wĂ€hrend seiner Famulatur von einem Assistenzarzt beauftragt, dessen Bruder, den Maler Strauch, zu beobachten. Er reist in den (fiktiven) abgelegenen österreichischen Gebirgsort Weng, macht dort die Bekanntschaft des Malers sowie der Dorfbewohner und zeichnet seine Beobachtungen auf. Sowohl der Maler Strauch als auch der Famulant berichten von ihren TrĂ€umen, in denen sich die jeweilige Situation, das WeltverhĂ€ltnis der Protagonisten und auch das VerhĂ€ltnis der beiden zueinander spiegeln.


ErzÀhlstruktur und Perspektive

Der Roman ist in Kapitel untergliedert, die anhand der Aufenthaltstage in Weng durchlaufend nummeriert ĂŒberschrieben sind. Sie wirken wie Tagebuchaufzeichnungen des Studenten, der seine Gedanken, GesprĂ€che und Erlebnisse mit dem Maler Strauch dokumentiert; zwischen dem sechsundzwanzigsten und siebenundzwanzigsten Tag erfolgt der Einschub von sechs Briefen des Studenten an den Assistenzarzt. Der Roman endet mit einer Zeitungsnotiz, die nach der Abreise des ErzĂ€hlers ĂŒber das anschließende Verschwinden des Malers informiert. Ab dem zehnten Tag werden in unregelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden neun ErzĂ€hlungen des Malers eingefĂŒgt und mit eigenen Überschriften von den Aufzeichnungen abgehoben.

Der Roman prĂ€sentiert keine Entwicklung oder Handlung im konventionellen Sinne, sondern nebeneinander gestellte ErzĂ€hleinheiten, die ein Gesamtbild der Weltsicht und Befindlichkeit des Malers ergeben. Laut Mittermayer wird der Roman „ausdrĂŒcklich als Krankengeschichte ausgewiesen“ (Mittermayer 1995, 30), die sich jedoch laut der eröffnenden Reflexion des Studenten „mit außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten“ (F 7) befasst, also auf psychischer Ebene anzusiedeln ist. Der Student berichtet als autodiegetische Instanz von seinen GesprĂ€chen mit dem Maler, die aufgrund der hohen Redeanteile Strauchs wie Monologe wirken. Diese werden sowohl in direkter als auch in indirekter Rede wiedergegeben, wodurch dem Studenten zunĂ€chst die Rolle eines Berichterstatters und Vermittlers zukommt, der das ErzĂ€hlte bestĂ€tigen kann: „Ohne die PrĂ€senz eines Ich-ErzĂ€hlers wĂŒrde der Leser die fiktive Frost-Welt schlichtweg als halluzinierte Wahnwelt des Malers wahrnehmen. Der formale ,Auftrag‘ des Famulanten besteht also nicht zuletzt darin, das phantastisch-albtraumhafte Setting als real zu beglaubigen“ (GĂ¶ĂŸling 2018, 40). Im monologischen Redefluss berichtet der Maler vorgefallene Ereignisse, aber auch aus zweiter oder dritter Hand NacherzĂ€hltes und reflektiert seinen körperlichen und geistigen Zustand, wobei „das Wortfeld von Auflösung und Zerfall dominiert“ (Mittermayer 1995, 30). Zwar gewĂ€hrt der Bericht des Studenten Einblicke in das Innenleben des Malers, aber er formuliert mehrfach VerstĂ€ndnisprobleme oder thematisiert seinen subjektiven Blick auf das GegenĂŒber. Besonderen Reiz gewinnt die Narration durch die NĂ€he, die zwischen dem Studenten und dem Maler entsteht - denn dieser kann sich dessen GedankengĂ€ngen immer weniger entziehen: „Das fĂ€llt mir ein, wenn ich mich tief in GedankengĂ€nge verrannt habe, die ihren Ursprung im Maler habe, wenn ich weit weg von mir bin“ (F 136). Zunehmend ĂŒbernimmt er dessen Wahrnehmung: „Auf dem ganzen Weg hatte ich nichts anderes gedacht und ĂŒberhaupt nichts gesehen, immer nur gedacht, daß der Maler von mir Besitz ergriffen hat. Mich in seine Bilder, mich in seine Vorstellungswelt hineingezwĂ€ngt hat“ (F 298 f.) Dieser Prozess verstĂ€rkt die „rezeptionssteuernde QualitĂ€t“ (GĂ¶ĂŸling 2018, 41) des ErzĂ€hlers, dessen Distanzlosigkeit sich in den Leser:innen fortsetzt und ein GefĂŒhl der „Ohnmacht“ (GĂ¶ĂŸling 2018, 39) erzeugt.


TrÀume in Frost

VerhÀltnis der Protagonisten zum Traum

Das Motiv des Traums wird in Frost zur Charakterisierung der beiden BrĂŒder und des Studenten eingesetzt. So vergleicht der Student die BrĂŒder miteinander, indem er den Chirurgen als „Erfolgsmensch“ charakterisiert, der „Tag und Nacht“ von seiner Arbeit bestimmt ist und als „ein Feind des Zwischenreichs, der Kunst“ (F 212 f.) gilt: „Ästhetik haßt er. Ebenso TrĂ€ume“. In dieser Ablehnung ist der zentrale Gegensatz zu seinem Bruder als Maler angelegt: „Was sein Bruder gemacht hat, war ihm immer ein Greuel“ (F 213). Laut GĂ¶ĂŸling ist dieser Antagonismus typisch fĂŒr viele Werke Bernhards, wobei die Pole von Naturwissenschaft und Kunst, von Verstand und Phantasie nur auf den ersten Blick einander entgegengesetzt sind (GĂ¶ĂŸling 2018, 41) – auch in Frost. So lehnt auch der Maler mittlerweile die Kunst und das TrĂ€umen ab: „Die furchtbaren TrĂ€ume, die ich habe, das sind die furchtbaren TrĂ€ume meiner Kindheit. Schauerlich, wenn sie ein alter Mann trĂ€umen muss“ (F 286). Und laut einem Brief des Studenten an den Chirurgen, auf den Bozzi hinweist, arbeitet dieser an einer Schrift mit dem Titel „Der trĂ€umende und der politische Mensch“, weshalb er ihm den Maler als exemplarischen Vertreter dieser menschlichen Spezies beschreibt. Allerdings zeugt das Forschungsvorhaben weniger von einer „allnĂ€chtlichen Wandlung des Chirurgen“ (Bozzi 2002, 137), sondern von dessen Versuch, das ihm UnzugĂ€ngliche zu analysieren und sich zu erschließen – worin vermutlich auch der Auftrag des Studenten begrĂŒndet liegt. Der Student versucht daher, ĂŒber dieses Interesse den abgebrochenen Kontakt zwischen den beiden BrĂŒdern wieder herzustellen (F 323).

Diese vermittelnde Position des Studenten lĂ€sst sich auch in seinem VerhĂ€ltnis zu Traum und Schlaf ausmachen. Bozzi charakterisiert ihn als „Bewohner jenes „Zwischenreichs“, der ins Medizinstudium „Elemente unbewußter Dunkelheit hinein“ trage und dem das Leben als ein Traum erscheine, „aus dem er entgegen seiner Behauptung niemals erwachen“ werde (Bozzi 2002, 132). Gegen diese Deutung spricht, dass sie anhand weit auseinanderliegender Textstellen belegt wird, die in keinem narrativen Zusammenhang stehen. Auch ist dem Studenten schon zu Beginn klar, dass er sich durch seinen Auftrag mit „außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten“ auseinandersetzen wird und versuchen muss, „etwas Unerforschliches zu erforschen“ (F 7). WĂ€hrend ihm im Medizinstudium „eigentlich immer alles wie im Schlaf gegangen“ ist (F 53), wird er durch die zunehmende NĂ€he zum Maler und zu dessen auswegloser Verzweiflung mit der RealitĂ€t der menschlichen Existenz konfrontiert. Dies fĂŒhrt am neunten Tag zur Infragestellung seiner Berufswahl: „Ich und Arzt? Mit kommt das Ganze vor, als wĂ€re ich gerade aus einem Traum aufgewacht, und jetzt soll ich mit dem weißen Mantel, den ich anhabe, ich weiß nicht warum, fertig werden“ (F 95). Er gelangt jedoch am Ende zur Erkenntnis, dass es sich bei dem Medizinischen um eine „methodisch ineinandergreifende Folge von Dunkelheiten“ handle (F 326), in der die beiden Ebenen von Verstand und Phantasie miteinander verschmelzen. Um dem Chirurgen diese Verbindung deutlich zu machen, zitiert er seinen Bruder: „Die Wissenschaft von den Krankheiten ist die poetischste aller Wissenschaften“ (F 326). Der Student vermittelt also zwischen den beiden scheinbar antagonistischen Prinzipien, beendet nach seiner Abreise die Famulatur und setzt das Studium in der Hauptstadt fort – mit diesen Informationen endet der Roman.

TraumerzÀhlungen des Malers

1. Traum

Am spĂ€ten Nachmittag des fĂŒnften Tages berichtet der Maler von einem Traum, den er als etwas Besonderes ankĂŒndigt: „Ein ungewöhnlicher Traum, keiner der hoffnungslosen, wie ich sie sonst immer trĂ€ume“ (F 39). ZunĂ€chst stellt sich eine VerĂ€nderung der Landschaft ein, sie wechselt immer wieder schnell die Farbe entgegen „menschlichem Ermessen“. Das Ganze wird begleitet von einer „Musik, die aus allen Musikepochen zusammengesetzt war“ (F 39). Sein Traum-Ich sitzt „in dieser Landschaft, auf einer Wiese“ und nimmt, wie auch die anderen Menschen, die wechselnden Farben der Umgebung an. Aufgrund der Farben sind die Menschen in dieser „Menschenlandschaft“ nur anhand „ihrer Stimmen zu erkennen“ (F 39). Diese zuerst mit Faszination beschriebene Stimmung wandelt sich, die Harmonie des Traum-Ichs mit der Umgebung wird gestört: „Plötzlich aber geschah etwas Grauenhaftes: Mein Kopf blĂ€hte sich auf, und zwar so, daß die Landschaft sich um einige Grade verfinsterte und die Menschen in Wehlaute ausbrachen“ (F 39 f.) Der große Kopf verselbstĂ€ndigt sich, er rollt „von dem HĂŒgel hinunter [
] und erdrĂŒckte viele der blauen BĂ€ume und viele der Menschen“ (F 40). Er zerstört die Landschaft und bringt Tod: „Plötzlich bemerkte ich, daß hinter mit alles abgestorben war. Abgestorben, tot. Mein großer Kopf lag in einem toten Land“ (F 40). Der Traum endet in „Finsternis“, was vom Maler als „fĂŒrchterlich“ (F 40) bewertet wird.

AuffĂ€llig ist, dass der Traum von einer zunĂ€chst harmonisch wirkenden Einheit des Traum-Ichs mit der Welt ausgeht. Die Farben wechseln zwar, aber das Ich und die Menschen sind dabei an die Landschaft angepasst. Auch die Musik und die Stimmen der Menschen werden als Einheit empfunden. Als Störfaktor tritt der Kopf auf, der sich verselbstĂ€ndigt und die Welt zerstört. Bozzi deutet diesen Prozess als „VerselbstĂ€ndigung der Teile gegenĂŒber dem Ganzen“, die im Zusammenhang mit einer „Verwirrung, Unordnung und Aufregung“ des Körpers stehe und eine Auflösung des Ichs einleite (Bozzi 2002, 133 f.). Zwar ist die Zersetzung und Auslöschung der Existenz ein zentrales Thema des Romans, doch der Traum beschreibt diesen Auflösungsprozess genauer: Er geht vom Kopf aus, der fĂŒr das Denken steht, das hier jedoch in Kopflosigkeit mĂŒndet. Interessant ist, dass die TraumerzĂ€hlung durch eine Feststellung des Malers eingeleitet wird: „Die Phantasie ist der Tod des Menschen“ (F 39). Der Kopf ist sowohl Sitz des Denkens als auch der Phantasie, die in der Passage vor der TraumerzĂ€hlung thematisiert wird. Dort Ă€ußert sich der Maler, dass „die Phantasie [
] ein Ausdruck von Unordnung“ sei: „Ich bin mir sicher, daß Phantasie eine Krankheit ist“ (F 38). Der Traum greift diese Überlegung auf, denn die harmonische Phantasiewelt, die ja eine Kopfgeburt des Malers darstellt, wird durch eben den sie hervorbringenden Kopf zerstört. Der Traum symbolisiert also eine VerselbstĂ€ndigung der Phantasie und der GeisteskrĂ€fte, durch die die Kluft zwischen Ich und Landschaft sowie zwischen Ich und anderen Menschen vergrĂ¶ĂŸert wird.

2. Traum

Dieser erste Traum etabliert Motive, die sich in den spĂ€teren TrĂ€umen des Malers wiederfinden. So berichtet er am sechzehnten Tag von einem Traum, der laut eigener Aussage mit seinen bisherigen TrĂ€umen „nicht das geringste gemeinsam hatte“ (F 187). Er beschreibt, dass der Traum, wie alle seine TrĂ€ume, mit einer Farbe beginnt – eine Gemeinsamkeit mit der ersten TraumerzĂ€hlung. Allerdings entwickelt sich die Farbe „in das ZwischenverhĂ€ltnis aller Farben zu allen Farben“ und dann „bis in die Dunkelheit der Farben hinein“. ZunĂ€chst ist der Traum noch „tonlos“, doch „dann plötzlich, sich steigernd, zu einem GerĂ€usch werdend“ - und „plötzlich war dieser Traum [
] nur mehr GerĂ€usch“ (F 187). Dieses wird von dem TrĂ€umenden als unangenehm und bedrohlich wahrgenommen, es entwickelt sich „zu einem unheimlich geltungsbedĂŒrftigen Infernalischen“ (F 187) und wird als „ein ungeheurer LĂ€rm“ (F 188) bezeichnet. Dieser erzeugt einen unendlichen Raum, in dem zwei oder drei Polizisten „in dem schamlosen, erdachten, alles umfassenden SchnĂŒrboden der Unendlichkeit“ „taumelten“ oder „schwebten“ (F 188). Trotz des vergleichsweise hohen Grades der Abstraktion sind die Farben und die Musik durchaus Konstanten, die bereits im ersten Traum des Malers prĂ€sent waren. Auch die Verzerrung der rĂ€umlichen Dimensionen ins Unendliche sowie das Kippen einer optischen oder akustischen Wahrnehmung ins Bedrohliche sind wiederkehrende Elemente. In der abstrakten Traumwelt wird kraft der Phantasie die eigentliche Ordnung ausgehebelt - und das Traum-Ich schreckt vor der unendlichen Macht des Erdachten zurĂŒck.

3. Traum

WĂ€hrend im ersten Traum das Motiv des anwachsenden Kopfes noch als Element der Groteske wahrgenommen werden kann, gewinnt es im weiteren Verlauf des Romans an Bedrohlichkeit. So beschreibt der Maler am sechsundzwanzigsten Tag, wie er nachts auf seinem Zimmerboden liegt und sich KĂ€lte in ihm ausbreitet: „Da wurde mein Kopf wieder so groß, blĂ€hte sich auf: alles wickelte sich in einer Art Halbschlaf ab: der große Kopf atmete und erdrĂŒckte fast meine Brust“ (F 301). WĂ€hrend im ersten Traum noch die Menschen und die Landschaft von dem Kopf getötet werden und das Traum-Ich allein in Finsternis zurĂŒckbleibt, wendet sich nun der eigene Kopf gegen das Ich. Er erdrĂŒckt das Ich, sodass es nicht mehr atmen kann. Dazu kommt, dass sich dieser Vorgang im Halbschlaf abspielt; er wird nicht mehr eindeutig als Traum markiert und ĂŒberschreitet die Grenze zwischen Traumwelt und Wachzustand. Das Bedrohungspotenzial nimmt daher zu, das Ich ist dabei von „Schmerzen“ und insbesondere „Kopfschmerzen“ (F 302) geplagt. Auch schon an frĂŒherer Stelle erklĂ€rt der Maler die Ausmaße seiner Kopfschmerzen mit dem Bild eines anschwellenden Kopfes: „Jetzt habe ich das GefĂŒhl, dieser Kopf hat nirgends mehr Platz, nicht einmal in der Landschaft. Nur Schmerzen. Nur Finsternis“ (F 48), Das Motiv wird also vom Wachzustand in den Traum ĂŒberfĂŒhrt und dort weiterentwickelt.

4. Traum

Wenige AbsĂ€tze spĂ€ter berichtet der Maler erneut von einem Traum mit anwachsendem Kopf, der alle Menschen erdrĂŒckt: „Plötzlich hatte mein Kopf die Leute, die im Gastzimmer waren, auch die Leute am Extratisch, alle, den Wasenmeister, den Gendarm, den Ingenieur, alle, die Wirtin und ihre Töchter auch, an die Wand gedrĂŒckt. Im Traum, wissen Sie“ (F 305). WĂ€hrend der erste Traum in einer abstrakten Landschaft mit nicht weiter benannten Menschen stattfindet, ist er nun an einen bekannten Raum und konkrete Personen der unmittelbaren Umgebung geknĂŒpft. Dass es sich um eine TraumerzĂ€hlung handelt, wird erst durch den Nachsatz deutlich, denn die ErzĂ€hlung reiht sich ein in seine Berichte von Schmerz, körperlicher Dissoziation und den vermeintlich auslösenden Faktoren. Wie im zuvor beschriebenen Halbschlaf werden die Grenzen der Wahrnehmung verwischt. Der Kopf „erdrĂŒckte alles“, hat aber „nicht die Kraft, das Gasthaus zu sprengen“, und bleibt mit dem Traum-Ich verbunden: „Über mein Gesicht rann der Saft der Menschen, die mein Kopf schlagartig ausgelöscht hat, zerquetscht hat. GegenstĂ€nde und Menschen zu einem Brei“ (F 305). Sein Körper wird „fĂŒrchterlich eingezwĂ€ngt“ und hat „keine Möglichkeit mehr, zu atmen“ (F 306). Wie in der Halbschlaf-ErzĂ€hlung ist erneut das Motiv der Atemlosigkeit zentral, das in Bernhards Werk hĂ€ufig mit Krankheit und Tod, in den autobiographischen Texten aber auch mit (literarischer) Subjektwerdung verbunden wird.

Neben der eigenen Bedrohung empfindet das Traum-Ich eine starke Trauer um die getöteten Menschen: „Da weinte ich, weil ich alle getötet hatte“ (F 306). Der Traum endet allerdings nicht mit dem Tod, sondern der ursprĂŒngliche Zustand wird wieder hergestellt: „So wurde ich wahnsinnig. Da schrumpfte der Kopf plötzlich auf seine ursprĂŒngliche GrĂ¶ĂŸe zusammen. [
] Alle saßen auf ihren PlĂ€tzen und tranken und aßen und bestellten und zahlten. [
] Ich wachte erschöpft auf und sah, daß ich meine Wolldecke verloren hatte“ (F 306). Indem das Traum-Ich durch die Trauer um die Mitmenschen seinen Widerstand aufgibt und sich dem Wahnsinn ĂŒberlĂ€sst, kehrt die Ordnung zurĂŒck. Die Bedrohung der Umgebung durch seinen anwachsenden Kopf kann nicht nur beendet werden, auch die bereits verursachte Zerstörung wird wieder rĂŒckgĂ€ngig gemacht. Bozzi deutet diese TraumerzĂ€hlung als einen Alptraum, der den „Körper als Überschuss“ inszeniere: „Der Bernhardsche Traumtext thematisiert in diesem Sinne die Last des Leibes, den Sturz in die amorphe Tiefe und die hassenswerte und furchtgebietende Macht der Auflösung“ (Bozzi 2002, 136). Allerdings ist es in dieser TraumerzĂ€hlung eben nicht die „Flut des Unter- und Unbewussten“, in der das „strukturierende Bewusstsein versinkt“ (ebd., 136). Der Text fĂŒhrt vielmehr die psychoanalytische Deutung ad absurdum, da gerade das Wahnsinnigwerden dem alptraumhaften Geschehen Einhalt gebietet. Dieser Schritt in den Wahnsinn, der in den vorangehenden Passagen als Konsequenz der nicht auszuhaltenden (Kopf-)Schmerzen der Existenz hergeleitet wird, erscheint im Traum als Erlösung. Eine solche VerknĂŒpfung lĂ€sst sich auch hinsichtlich der Selbstmordgedanken des Malers feststellen, die ebenfalls mit Traummotivik illustriert werden. So Ă€ußert er sich ĂŒber die Option des Erfrierens, es „fĂŒhre in einem Traum, aus dem man nicht mehr herauskomme“ (F 51). Die Auflösung oder Aufgabe der eigenen Existenz in Wahnsinn oder Tod wird als möglicher Ausweg empfunden und im Traum durchaus positiv konnotiert.

TrÀume und Philosophie

Ein typisch Berhardsches ErzĂ€hlverfahren ist es, „Figuren durch von ihnen bevorzugte Autoren bzw. literarische oder philosophische Werke zu charakterisieren“ (GĂ¶ĂŸling 2018, 41). Diese Technik der intertextuellen VerknĂŒpfung wird in Frost mit den TrĂ€umen des Malers verbunden. Nach dem ersten Traum schreibt der Student: „Der Maler zog seinen Pascal aus der linken Rocktasche und steckte ihn in seine rechte Rocktasche“ (F 40). Nach dem bedrohlichen Traum im Halbschlaf ist dem Maler die LektĂŒre unmöglich geworden: „Auch meinen Pascal kann ich nicht mehr lesen“ (F 302). Und nach dem Traum, der in einer Wiederherstellung der NormalitĂ€t endet, findet der Maler zu einer schlaflosen Ruhe: „Jedenfalls hatte ich keinen Traum mehr. Vielleicht, weil ich still auf meinem Bett sitzen blieb und in meinem Pascal blĂ€tterte. Vielleicht“ (F 307). Diese Verweise auf den französischen Philosophen Blaise Pascal (1623-1662) sind auf dessen PenseĂ©s (1669) bezogen, die neben stilistischen Übereinstimmungen auch SinnwidersprĂŒche und Paradoxa als Reaktionen auf die Zerrissenheit der menschlichen Existenz mit Bernhards Protagonisten gemeinsam haben (Klug 1991, 46 f.). Zentral fĂŒr die Charakterisierung des Malers ist eine Technik, die Klug ausgehend von Bernhards TheaterstĂŒcken als „Dramatisierung von Gedanken Pascals ĂŒber die Unruhe des Daseins“ bezeichnet (ebd., 47). Ebenso wie auch der Maler gehört Pascal zu den „EinzelgĂ€ngern und Außenseitern der Philosophiegeschichte“ und philosophiert „nicht beruflich, sondern aus Berufung“ (ebd., 36 f.).

Strauchs RĂŒckgriff auf Pascal unmittelbar nach den verstörenden TrĂ€umen wirkt wie ein Versuch, wieder Halt in der Philosophie zu finden – mit dem Wissen, dass auch diese voller WidersprĂŒche und Unsicherheiten ist. So findet sich der Verweis auf Pascal ebenso in Verbindung mit seinen Selbstmordgedanken, denn am vierundzwanzigsten Tag berichtet der Student, dass der Maler immer wieder „das Wort Selbstmord“ verwende und die AlltĂ€glichkeit des Daseins beklage, die er auf seine TrĂ€ume bezieht: „Selbst meine TrĂ€ume sind alltĂ€glich. Und ich, ich hĂ€tte auf andere als auf alltĂ€gliche TrĂ€ume Anspruch“ (F 286). Im Anschluss kommentiert er den Umgang mit Pascal folgendermaßen: Der Maler versucht, „mit seinem Pascal alles zu beweisen [
] und weiß, daß nichts zu beweisen ist“ (F 287). Ebenso wie die TrĂ€ume die VerselbstĂ€ndigung der GeisteskrĂ€fte zeigen und die Entwicklung in Richtung Wahnsinn und Ich-Auflösung illustrieren, zeigt auch der Verweis auf Pascal die Unruhe des Daseins und die Unmöglichkeit, dem Prozess durch philosophisches Denken Einhalt zu gebieten.

TrÀume des Studenten

Da die Weltwahrnehmung des Malers im Fokus der Narration steht, nehmen die Reflexionen und Erlebnisse des Studenten deutlich weniger Raum ein – ebenso seine TrĂ€ume, von denen nur einer erzĂ€hlt und ein weiterer angedeutet wird. Der mögliche Traum bezieht sich auf ein Erlebnis in der Nacht zum zweiundzwanzigsten Tag, in der er GerĂ€usche hört und beobachtet, wie der Wasenmeister der Wirtin einen Rucksack bringt, in dem er Tierkadaver vermutet. Er schleicht aus dem Zimmer und wird Zeuge einer Unterhaltung der beiden, die seine Vermutung bestĂ€tigt: „Jetzt weiß ich, daß sie mit Hundefleisch kocht, dachte ich. Der Maler hat es ja gesagt. Es ist wahr“ (F 257). Am nĂ€chsten Morgen kommt ihm diese „Geschichte“ allerdings „immer wieder wie ein Traum“ (F 257) vor und er beschließt, niemandem davon zu erzĂ€hlen. Er reflektiert ĂŒber die Möglichkeit, so realistisch zu trĂ€umen: „Daß im Traum derartiges möglich ist, auch bei geistig gesunden Menschen – im Traum ist alles möglich –, weiß ich; aber es war kein Traum“ (F 258). Sollte es sich um einen Traum handeln, so bestĂ€tigt dieser die langsame Übernahme der Weltsicht des Malers. Die Andeutung, dass es eventuell kein Traum war, trĂ€gt zur alptraumhaften Kulisse des Dorfes bei, in der die Grenzen zwischen Traum und RealitĂ€t verwischt werden.

Am zehnten Tag berichtet der Student, der sich bisher „an keinen einzigen Traum in der letzten Zeit erinnern“ kann, dass er „von Strauch getrĂ€umt“ hat (F 106). Sein Traum-Ich ist gefeierter Arzt, schreitet durch die Klink und die Patienten verneigen sich vor ihm. In einem „schlachthausĂ€hnlichen, weißgekachelten Raum“ befindet sich „Strauch auf dem Operationstisch angeschnallt“, der „sich dauernd halb rotierend bewegte“ (F 107). Aufgrund der Bewegung des Tischs möchte er nicht operieren, aber die Ärzteschaft fordert ihn dazu auf und insbesondere der Chirurg drĂ€ngt: „Schneiden Sie doch! [
] Sie sind meinem Bruder alles schuldig!“ (F 108). Das Traum-Ich des Studenten fĂ€ngt an und fĂŒhrt „eine Reihe von Operationen [
] gleichzeitig aus,“ bis ihm auffĂ€llt, dass er den Körper „vollkommen zerschnitten“ hat: „Der Körper war ĂŒberhaupt nicht mehr als Körper erkennbar. Es war wie ein Fleisch, das ich folgerichtig, tadellos, aber vollkommen verrĂŒckt zerschnitten hatte und jetzt wieder tadellos, aber wahnsinnig geworden zusammennĂ€hte“ (F 108). Die Ärzteschaft ist von dieser Operation begeistert, lobt seine „großartige Leistung“ (F 108) und hebt ihn im Jubel hinauf. Von oben blickt er auf den Operationstisch und sieht „einen Haufen völlig zerstĂŒckelten Fleisches, das schlagweise Blut ausstieß, ununterbrochen Blut ausstieß, riesige Mengen Blutes und langsam alles in Blut ertrĂ€nkte, alles, die Ärzteschaft, alles“ (F 109). Nach dem Aufwachen erinnert sich der Student, dass alle Ärzte im Traum mit grotesken Kinderstimmen gesprochen haben.

Bozzi bezieht sich in ihrer Deutung des Traums auf den französischen Psychoanalytiker Jaques Lacan (1901-1981) und sieht darin ein Zeichen von aggressiver Desintegration, da der Student in der feindlichen Umgebung dem Maler und seiner Gedankenwelt hilflos ausgeliefert sei. Auch lasse das Eindringen in das Fleisch und die Bewegung mĂ€nnliche SexualitĂ€t anklingen, die in einer Ejakulationsmetapher mĂŒnde und Auswirkung einer Angst vor sexueller AktivitĂ€t sei (Bozzi 2002, 134 f.) Ordnet man den Traum jedoch in das bereits skizzierte Denkschema des Studenten ein, wird er zum Symbol seiner Auseinandersetzung mit dem Beobachtungsobjekt und den Konsequenzen fĂŒr seine Vorstellung von Medizin. Im Traum folgt er den Anweisungen der anderen Ärzte, wie er zunĂ€chst der Anweisung des Chirurgen zur Beobachtung des Malers gefolgt ist. Er nimmt „ganz prĂ€zise Operationen“ (F 108) vor, die aber seinen Patienten zerstören. Daran wird deutlich, dass sich sein Untersuchungsgegenstand mit den herkömmlichen Methoden der Medizin nicht fassen lĂ€sst, da er sich in Rotation, also in permanenter geistiger Unruhe, befindet. Der Maler kann nicht operiert und geheilt werden, die chirurgischen Kompetenzen bringen den Studenten in diesem Fall nicht weiter. Der Traum zeugt von seinem Kontrollverlust und der Erkenntnis, dass er dem Maler als Arzt nicht helfen kann – der Ich-Zerfall des Malers lĂ€sst sich zwar beobachten, aber nicht aufhalten.

Einordnung

Das VerhĂ€ltnis der Protagonisten zu den TrĂ€umen kann zunĂ€chst dem Bernhardschen Figurentypus des ,Geistesmenschen‘ zugeordnet werden. So stellt auch Bozzi fest, dass fĂŒr diese Figuren „das dem Geist verpflichtete Leben als höchste Stufe des Daseins dargestellt“ wird (Bozzi 2002, 128) und die Verwendung des Traummotivs den Autor in die Lage versetze, „die Zwanghaftigkeit des Geistigen in Frage zu stellen und letztlich ad absurdum zu fĂŒhren“ (ebd., 131). Ihre psychoanalytische Deutung der Traumszenen folgt daher der Annahme, dass sich „Bernhards negatives VerstĂ€ndnis von Körperlichkeit“ (ebd., 128) in einem Dualismus von Körperlichkeit und Geist niederschlage, der bei den Figuren zu einer Verbannung des Körperlichen ins Unter- und Unbewusste fĂŒhre. Dies begĂŒnstige eine VerselbstĂ€ndigung des Körpers und der Triebe im Traum: „Der Nachttraum ist der andere Diskurs im Werk Thomas Bernhards: das subversive Potential, die anarchische Dimension, die durch die Vernunftform ersetzt worden ist, aber schattenhaft weiterlebt“ (ebd., 137). Dieser Deutung ist insofern zu widersprechen, als der Dualismus von Körper und Geist, wie auch der Antagonismus von Verstand und Phantasie, in Frost nicht aufrechterhalten wird. Durch die Motivik des Schmerzes, des Verfalls und der Ich-Auflösung wird immer wieder deutlich, dass der Sieg des Körpers unausweichlich ist. Die stete Thematisierung des Schmerzes und der körperlichen Leiden des Malers widerspricht einer Verbannung des Körperlichen ins Unterbewusste. VergĂ€nglichkeit und Tod bedeuten fĂŒr ihn einerseits die Auslöschung des Geistes, stellen aber andererseits keine Bedrohung, sondern eine Erlösung dar: „Der Tod kann nur das Aufhören aller Schmerzen sein. Der Tod bedeutet Freisein von allem; vor allem von mir selbst“ (F 90).

Die TrĂ€ume zeigen zwar eine radikalisierte Körperlichkeit in grotesken oder bedrohlichen Szenarien, symbolisieren jedoch hauptsĂ€chlich das VerhĂ€ltnis des Ichs zu seiner Umwelt - beziehungsweise, im Falle des Studenten, zu seinem Beobachtungsobjekt - und deuten seinen Kontrollverlust an. Hierbei ist wichtig, dass die Traumwelten zwar alptraumhaft ĂŒbersteigert sind, aber in ihrer Bedrohlichkeit kaum einen Unterschied zur Wirklichkeit der Protagonisten ausmachen. Sie greifen zentrale Motive der Narration auf, wie beispielsweise die Schlachthausmetaphorik, die PrĂ€senz von körperlicher Versehrtheit und Tod, die empfundene Hilflosigkeit sowie den Kontrollverlust. GĂ¶ĂŸling bezeichnet daher Frost in GĂ€nze „als Alptraum der ,Auflösung‘“ (GĂ¶ĂŸling 1987, 15) und deutet die fiktive Welt in Anlehnung an Freudsche Traumkategorien, indem „die objektivierte Landschaft zugleich als Bewußtseinslandschaft erkennbar [wird], d.h. als Traum- oder Wunschtraumwelt, in der sich – in verdichteten, ĂŒberdeterminierten Zeichen – die psychische Problematik des imaginierenden Subjekts niederschlĂ€gt“ (GĂ¶ĂŸling 1987, 11).

Nicht die Trennung zwischen Körper und Geist, sondern andere Prozesse sind es, die eine Interpretation der TrĂ€ume mit dem Figurentypus des Geistesmenschen nahelegen. So definiert sich dieser ĂŒber eine stĂ€ndige Reflexion, die sich jedoch verselbstĂ€ndigt: „Der Geist bzw. die Geistigkeit manifestieren sich [
] in einem permanenten Reflexionsprozess, der sich verabsolutiert hat und der auch von dem Subjekt, das ihn trĂ€gt, nicht mehr zu kontrollieren ist“ (Jahraus 2018, 368). Die fĂŒr den Geistesmenschen bestimmende Reflexion folgt also einer Traumlogik, indem sie dem Verstand und seiner Kontrolle entgleitet. Dies zeigt sich im Roman an der bereits erwĂ€hnten PrĂ€senz von Themen und Motiven der vorherigen Reflexion im Traum. Der Übergang zwischen Traum und Reflexion wirkt fließend, ihre Elemente werden im Traum aufgegriffen, weiterentwickelt, abstrahiert und radikalisiert. Dabei erweist sich auch die NĂ€he zum Wahnsinn als bereits im Figurentypus des Geistesmenschen angelegt: „Permanent droht ihn der geistige Prozess von Reflexion und Autoreflexion zu ĂŒberfordern, konkret in Form des VerrĂŒcktwerdens [
] und der endgĂŒltigen A-Sozialisierung insbesondere durch Gewalt entweder gegen sich selbst im Selbstmord oder gegen andere im Mord“ (Jahraus 2018, 369).

Der Maler Strauch entspricht also diesem Grundtypus der Bernhardschen Prosa, in dessen Wahrnehmung die Grenzen zwischen Traum und dem (Wieder-)Erleben traumatischer Erlebnisse verschwimmen (Bombitz 2012, 58). Gleichzeitig ist sein Ringen mit sich und der Welt, das sich in seinen TrĂ€umen manifestiert und auch zunehmend die Reflexionen des Studenten bestimmt, exemplarisch fĂŒr das WeltverhĂ€ltnis vieler Protagonisten Bernhards: „Die jeweiligen Lebensgeschichte des besonderen Subjektes ist ein Sinnbild fĂŒr allgemein-existenzielle Schrecknisse, die sich in AlptrĂ€umen wie traumatisierten Situationen wiederholen“ (ebd., 59). Allerdings ist die fĂŒr Bernhards Prosa ebenfalls typische Komik der Übertreibung in Frost noch weniger prĂ€sent als in den spĂ€teren Prosatexten. In den TraumerzĂ€hlungen des Malers sind zwar groteske Elemente vorhanden, diese tragen jedoch eher zur beklemmend ausweglosen Szenerie bei. Ebenso scheint es, als nehme der narrative Einsatz von TrĂ€umen in den spĂ€teren Prosatexten Bernhards tendenziell ab. Bozzi verweist auf einzelne Traumszenen in Verstörung (1967) sowie Auslöschung (1986) (vgl. Bozzi 2002, 137-148), aber Bennholdt-Thomsen konstatiert in ihrer Untersuchung der gleichen, autobiographisch lesbaren, Traumszene in Auslöschung, dass die TraumerzĂ€hlung in Bernhards Romanwerk „selten und von auffĂ€lliger Relevanz“ (Bennholdt-Thomsen 2001, 44) sei. Die dichte VerknĂŒpfung von Narration und TraumerzĂ€hlungen, die auf thematischer und motivischer Ebene ineinander ĂŒbergehen und von der albtraumhaften Kulisse potenziert werden, macht die besondere AtmosphĂ€re von Frost aus.


Stephanie Blum

Literatur

PrimÀrliteratur

  • Bernhard, Thomas: Frost. Frankfurt/M.: Insel 1963.
  • Bernhard, Thomas: Frost. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972 (Suhrkamp Taschenbuch 47).
  • Bernhard, Thomas: Werke in 22 BĂ€nden. Hg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Band 1: Frost. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003; zitiert als F.

Forschungsliteratur

  • Bennholdt-Thomsen, Anke: Das Traum-Zitat als Medium imaginĂ€rer Biographik bei Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann. In: Querelles. Jahrbuch fĂŒr Frauenforschung 6 (2001), 43-54.
  • Bombitz, Attila: Ist es ein Traum? Ist es ein Trauma? Beispielhaftes im Werk von Bachmann, Bernhard, Handke, Ransmayr und Kehlmann. In: Arnulf Knafl (Hg.): Traum und Trauma. Kulturelle Figurationen in der österreichischen Literatur. Wien: Praesens 2012, 56-64.
  • Bozzi, Paola: Der Traum als Wiederkehr des Körpers. Zum anderen Diskurs im Werk Thomas Bernhards. In: Hanne Castein/RĂŒdiger Görner (Hg.): Dream Images in German, Austrian and Swiss Literature and Culture. MĂŒnchen: iudicium 2002, 128-148.
  • GĂ¶ĂŸling, Andreas: Thomas Bernhards frĂŒhe Prosakunst. Entfaltung und Zerfall seines Ă€sthetischen Verfahrens in den Romanen Frost, Verstörung, Korrektur. Berlin: de Gruyter 1987.
  • GĂ¶ĂŸling, Andreas: Frost. In: Martin Huber/Manfred Mittermayer (Hg.): Bernhard-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler 2018, 37-46.
  • Jahraus, Oliver: Geistesmensch. In: Martin Huber/Manfred Mittermayer (Hg.): Bernhard-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: Metzler 2018, 368-372.
  • Klug, Christian: Thomas Bernhards TheaterstĂŒcke. Stuttgart: Metzler 1991.
  • Mittermayer, Manfred: Thomas Bernhard. Stuttgart: Metzler 1995.


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Blum, Stephanie: "Frost" (Thomas Bernhard). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2022; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Frost%22_(Thomas_Bernhard).