"Heinrich von Ofterdingen" (Novalis): Unterschied zwischen den Versionen

Zeile 36: Zeile 36:
==Die Träume==
==Die Träume==
===Beschreibung===
===Beschreibung===
Die literarische Gestaltung der Träume erörtere ich exemplarisch anhand von I. Dieser lässt sich in drei Hauptteile untergliedern: den nur kurz geschilderten, verworrenen Nachttraum und die beiden durch Einschlafen und Erwachen getrennten Partien des Morgentraums. Der Aufbau des Rahmenteils, also Schilderung der Außen- und Innensicht, Vorhandensein eines Tagesrestes, Einschlafen des Protagonisten und anschließende Schilderung des Traumes ist, um Manfred Engel zu zitieren, „eine in der Traumdichtung geradezu prototypische Rahmenkonstruktion“ (Engel 2003, 157). Dabei enthält der Traum die gesamte Romanhandlung ''in nuce''. Während der verworrene und unklare Nachttraum auf den noch in weiter Ferne liegenden zweiten Teil des Romans verweist, präfigurieren die beiden Partien des Morgentraumes den Inhalt des ersten Romanteils. Im Nachttraum heißt es etwa, Heinrich sei „bald im Kriege, in wildem Getümmel, in stillen Hütten. Er gerieth in Gefangenschaft und die schmählichste Noth“ (HKA I, 196). Dies entspricht den Schilderungen, die Tieck in seinem Fortsetzungsbericht für den zweiten Teil des ''Ofterdingen'' gibt (HKA I, 357 ff.). Im Morgentraum erreicht Heinrich die blaue Blume:
==Traum I==
Heinrichs ‚Traum von der blauen Blume’, sowie die Ereignisse davor und danach werden von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler geschildert und sind stark intern fokalisiert. Auffällig ist vor allem, dass der Hauptteil des Traumes aus der Wahrnehmungsperspektive des Träumers erzählt wird. Es lassen sich drei Hauptteile des Traumes unterscheiden: Der nur kurz geschilderte, verworrene Nachttraum, der in der Erzählzeit lediglich mehrere Sätze umfasst, dessen erzählte Zeit jedoch mehr als ein Leben beinhaltet und die beiden durch Einschlafen und Erwachen getrennten Partien des Morgentraums, in denen (1) Heinrich sich zu einer Höhle begibt, in der er einen Springquell und ein Becken findet. Nachdem er in diesem gebadet hat, schwimmt er dem Strom nach, um erneut in „[e]ine Art von süßem Schlummer“ (HvO 197) zu fallen. Über diesen Traum im Traum  erfährt der Leser nichts Genaueres, nur dass Heinrich „unbeschreibliche Begebenheiten“ (ebd.) träumt vgl. dazu Engel 2002, 82 f.). (2) Der erwachte Protagonist findet sich dann neben einer Quelle wieder, wo er die blaue Blume erblickt. Diese Episode wird durch den Weckruf der Mutter jäh unterbrochen. Nach einem kurzen Wortwechsel mit den Eltern folgt eine Diskussion über den Wert der Träume (eine ausführliche Analyse des Traumes findet sich bei Quintes 2019, S. 50–69). Der Aufbau des Rahmenteils, also Schilderung der Außen- und Innensicht, Vorhandensein eines Tagesrestes, Einschlafen des Protagonisten und anschließende Schilderung des Traumes ist, wie Engel schreibt, „eine in der Traumdichtung geradezu prototypische Rahmenkonstruktion“ (Engel 2003, 157).  


: Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte (HKA I, 197).  
==Traum II==
T II knüpft unmittelbar an das Gespräch zwischen Heinrich und seinen Eltern über den (Erkenntnis-)Wert der Träume an. Die Nachbereitung von T I ist also gleichzeitig die Vorbereitung von T II. Der Traum, dem eine kurze Vorgeschichte vorangestellt wird (Aufenthalt des Vaters in Rom, Besuch im Landhaus, Gespräch mit einem alten, antikenkundigen Mann [=Sylvester], Unterkunft und Übernachtung in dessen Haus), lässt sich in vier Teile gliedern und ist intradiegetisch-autodiegetisch fokalisiert: Der Vater schildert seinen eigenen Traum, der in der Vergangenheit liegt.
* (1) Am Beginn steht eine Wanderung des Vaters, der sich analog zu Heinrich in eine Höhle begibt, dort findet er nach einer allegorischen Konfrontation mit seinen eigenen künstlerischen Fähigkeiten seinen Gastgeber Sylvester wieder, welcher ihn an einen neuen Ort mitnimmt.  
* (2) Während der Vater vorher sicher war, in der Heimat zu sein, ist nun „alles ganz anders, als in Thüringen“ (HvO 201). An diesem neuen Ort befinden sich zahlreiche Quellen und Blumen, von denen dem Vater „unter allen Blumen […] Eine ganz besonders“ (ebd.) gefiel. Er kann diese – auf eine Nachfrage Heinrichs hin, die den Traumbericht unterbricht – allerdings nicht mehr näher beschreiben.
* (3) Dieser Unterbrechung durch eingeschobene direkte Rede folgt dann wieder ein dritter Teil in der Erzählung des Vaters. Er und Sylvester finden sich nach einer Reise auf einem Berg wieder, wo Sylvester dem Vater eine Deutung des Traums verspricht, unter der Voraussetzung, dass dieser am Abend des Johannistages wiederkommt und ein blaues Blümchen abbricht.
* (4) Es folgt ein letzter, episodenhafter Teil der mit eine Art Marienerscheinung endet: Der Vater glaubt, seine zukünftige Frau, also Heinrichs Mutter, zu sehen. Sie hat ein Kind in den Armen, welches „sich endlich mit blendendweißen Flügeln“ (ebd.) über beide erhebt. Nachdem sich die Symbole Blume, Berg und Greis nochmals wiederholen, endet der Traum mit der Schilderung des Erwachens und einem kurzen abschließenden Fazit des Vaters, welches verdeutlicht, warum er die vom Begleiter versprochene Erfüllung seines Traumes niemals erhalten hat.  


Im sechsten Kapitel trifft Heinrich dann Mathilde, die personifizierte Blume: „Ist mir nicht zu Muthe wie in jenem Traume, beym Anblick der blauen Blume? […] Jenes Gesicht, das aus dem Kelche sich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht“ (HKA I, 277). Damit sind Heinrichs Träume insofern prophetisch, als sie zu Beginn des Romans die Handlung vorwegnehmen.
==Traum III==
Traum III unterscheidet sich in wichtigen Aspekten von den vorangegangenen Träumen. Dies betrifft seine Länge, seinen Aufbau und die Grundstimmung, welche im Traum vorherrscht. Auch für ihn gibt es eine – sogar sehr ausführliche – Vorgeschichte, nämlich Heinrichs Bekanntschaft mit Mathilde und seine Liebesschwüre für sie. Das Kennenlernen der beiden, die anfängliche Schüchternheit Heinrichs, die Versuchung durch die reizende Veronika und der erste Kuss sind Ereignisse, welche sich im sechsten Kapitel abspielen und so eine thematische Basis für den Traum schaffen. Noch wichtiger sind aber die Reflexionen Heinrichs, nachdem die Gesellschaft ‚tief in der Nacht’ auseinandergeht.  Angedeutet wird, dass Mathilde das ‚Du’ zu Heinrichs ‚Ich’ ist, wenn er sich fragt: „bin ich der Glückliche, dessen Wesen das Echo, der Spiegel des ihrigen seyn darf?“ (HvO 277). Bevor er sich zu Bette begibt, schwört Heinrich Mathilde die ewige Treue: „Ich zünde der aufgehenden Sonne mich selbst zum nieverglühenden Opfer an“ (HvO 278). Danach setzt der Traum ein, der sich in drei Teile untergliedern lässt. Der erste Teil findet auf dem Wasser statt, die anderen beiden darunter.
(1) Zuerst sieht Heinrich die auf einem Kahn befindliche Mathilde und will sich zu ihr begeben, weil er in Sorge um sie ist. Er kann sie aber nicht erreichen. Plötzlich passiert das Unglück, der Kahn geht unter und Mathilde ertrinkt. Heinrich stirbt ebenfalls und erwacht (2) an einem noch nicht näher bestimmten anderen Ort. Nachdem er diesen ein Stück weit durchwandert hat und den Klängen eines Liedes folgt, begegnet er (3) Mathilde wieder. Beide sprechen miteinander; nach erneuten Liebesschwüren sagt sie „ihm ein wunderbares geheimes Wort in den Mund“ (HvO 279), an das Heinrich sich aber nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern kann. So wie er aus T I durch die Mutter geweckt wird, weckt ihn aus T III der Großvater. Der Traum beschließt das Kapitel und wird nicht mehr weiter thematisiert.


===Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit===
===Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit===
58

Bearbeitungen