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Novalis’ ''Heinrich von Ofterdingen'' ist alles andere als ein realistischer Roman; weder die Handlung noch der Entwurf psychologisch differenzierter Charaktere scheinen für Novalis von großem Interesse gewesen zu sein. Herbert Uerlings fasst das Ziel des Romans, die Darstellung einer Apotheose der Poesie und der Rückkehr eines goldenen Zeitalters, folgendermaßen zusammen: „Der Roman dient der Darstellung einer unendlichen Idee, in diesem Sinne geht es um ‚Übergangs Jahre vom Unendlichen zum Endlichen‘“ (HKA IV, 281). Diese Idee ist das absolute Ziel des Romans, „ das in Gestalt von Einlagen (Symbolen, Träumen, Liedern, Märchen u.a.m.) in sinnbildlicher Form immer wieder vorweggenommen wird, aber nur, um so den Prozeß unendlicher Annäherung in Bewegung zu halten und zu steigern“ (Uerlings 1998, 183).  
 
Novalis’ ''Heinrich von Ofterdingen'' ist alles andere als ein realistischer Roman; weder die Handlung noch der Entwurf psychologisch differenzierter Charaktere scheinen für Novalis von großem Interesse gewesen zu sein. Herbert Uerlings fasst das Ziel des Romans, die Darstellung einer Apotheose der Poesie und der Rückkehr eines goldenen Zeitalters, folgendermaßen zusammen: „Der Roman dient der Darstellung einer unendlichen Idee, in diesem Sinne geht es um ‚Übergangs Jahre vom Unendlichen zum Endlichen‘“ (HKA IV, 281). Diese Idee ist das absolute Ziel des Romans, „ das in Gestalt von Einlagen (Symbolen, Träumen, Liedern, Märchen u.a.m.) in sinnbildlicher Form immer wieder vorweggenommen wird, aber nur, um so den Prozeß unendlicher Annäherung in Bewegung zu halten und zu steigern“ (Uerlings 1998, 183).  
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Diese symbolische Grundanlage des Textes steht in direktem Zusammenhang mit dem romantischen Projekt einer Neuen Mythologie (vgl. Mahoney 2015, 203). Novalis kannte sowohl die Schriften Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (1775-1854) als auch die seines Freundes Friedrich Schlegel sehr gut. Beide veröffentlichten im Jahr 1800 Werke, die sich mit grundlegenden Problemen der neuen romantischen Literatur auseinandersetzen. Schelling wirft in seinem ''System des transzendentalen Idealismus'' das Problem auf, dass eine neue Mythologie, welche „ das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie sein werde“, (Schelling 298) benötigt wird. Schlegel beantwortet die Frage, wie diese aussehen könnte, in seinem ''Gespräch über Poesie'' auf Basis der alten Mythologie:
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Diese symbolische Grundanlage des Textes steht in direktem Zusammenhang mit dem romantischen Projekt einer Neuen Mythologie (vgl. Mahoney 2015, 203). Novalis kannte sowohl die Schriften Friedrich Wilhelm Joseph Schellings (1775-1854) als auch die seines Freundes Friedrich Schlegel sehr gut. Beide veröffentlichten im Jahr 1800 Werke, die sich mit grundlegenden Problemen der neuen romantischen Literatur auseinandersetzen. Schelling wirft in seinem ''System des transzendentalen Idealismus'' das Problem auf, dass eine neue Mythologie, welche „ das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie sein werde“, (Schelling: System des transzendentalen Idealismus 298) benötigt wird. Schlegel beantwortet die Frage, wie diese aussehen könnte, in seinem ''Gespräch über Poesie'' auf Basis der alten Mythologie:
    
: Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich. Alle Gedichte des Altertums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer größern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift in einander, und überall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedrückt. Und so ist es wahrlich kein leeres Bild, zu sagen: die alte Poesie sei ein einziges, unteilbares, vollendetes Gedicht. Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andre Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schönere, größere? (Schlegel: Gespräch über Poesie, KFSA 1, Bd. 2, 313).
 
: Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich. Alle Gedichte des Altertums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer größern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift in einander, und überall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedrückt. Und so ist es wahrlich kein leeres Bild, zu sagen: die alte Poesie sei ein einziges, unteilbares, vollendetes Gedicht. Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andre Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schönere, größere? (Schlegel: Gespräch über Poesie, KFSA 1, Bd. 2, 313).
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==Die Träume==
 
==Die Träume==
 
===Beschreibung===
 
===Beschreibung===
Die literarische Gestaltung der Träume erörtere ich exemplarisch anhand von I. Dieser lässt sich in drei Hauptteile untergliedern: den nur kurz geschilderten, verworrenen Nachttraum und die beiden durch Einschlafen und Erwachen getrennten Partien des Morgentraums. Der Aufbau des Rahmenteils, also Schilderung der Außen- und Innensicht, Vorhandensein eines Tagesrestes, Einschlafen des Protagonisten und anschließende Schilderung des Traumes ist, um Manfred Engel zu zitieren, „eine in der Traumdichtung geradezu prototypische Rahmenkonstruktion“ (Engel 2003, 157). Dabei enthält der Traum die gesamte Romanhandlung ''in nuce''. Während der verworrene und unklare Nachttraum auf den noch in weiter Ferne liegenden zweiten Teil des Romans verweist, präfigurieren die beiden Partien des Morgentraumes den Inhalt des ersten Romanteils. Im Nachttraum heißt es etwa, Heinrich sei „bald im Kriege, in wildem Getümmel, in stillen Hütten. Er gerieth in Gefangenschaft und die schmählichste Noth“ (HKA I, 196). Dies entspricht den Schilderungen, die Tieck in seinem Fortsetzungsbericht für den zweiten Teil des ''Ofterdingen'' gibt (HKA I, 357 ff.). Im Morgentraum erreicht Heinrich die blaue Blume:
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====Traum I====
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Heinrichs ‚Traum von der blauen Blume’, sowie die Ereignisse davor und danach werden von einem extradiegetisch-heterodiegetischen Erzähler geschildert und sind stark intern fokalisiert. Auffällig ist vor allem, dass der Hauptteil des Traumes aus der Wahrnehmungsperspektive des Träumers erzählt wird. Es lassen sich drei Hauptteile des Traumes unterscheiden: Der nur kurz geschilderte, verworrene Nachttraum, der in der Erzählzeit lediglich mehrere Sätze umfasst, dessen erzählte Zeit jedoch mehr als ein Leben beinhaltet und die beiden durch Einschlafen und Erwachen getrennten Partien des Morgentraums, in denen (1) Heinrich sich zu einer Höhle begibt, in der er einen Springquell und ein Becken findet. Nachdem er in diesem gebadet hat, schwimmt er dem Strom nach, um erneut in „[e]ine Art von süßem Schlummer“ (HvO 197) zu fallen. Über diesen Traum im Traum  erfährt der Leser nichts Genaueres, nur dass Heinrich „unbeschreibliche Begebenheiten“ (ebd.) träumt vgl. dazu Engel 2002, 82 f.). (2) Der erwachte Protagonist findet sich dann neben einer Quelle wieder, wo er die blaue Blume erblickt. Diese Episode wird durch den Weckruf der Mutter jäh unterbrochen. Nach einem kurzen Wortwechsel mit den Eltern folgt eine Diskussion über den Wert der Träume (eine ausführliche Analyse des Traumes findet sich bei Quintes 2019, S. 50–69). Der Aufbau des Rahmenteils, also Schilderung der Außen- und Innensicht, Vorhandensein eines Tagesrestes, Einschlafen des Protagonisten und anschließende Schilderung des Traumes ist, wie Engel schreibt, „eine in der Traumdichtung geradezu prototypische Rahmenkonstruktion“ (Engel 2003, 157).
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: Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte (HKA I, 197).  
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====Traum II====
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T II knüpft unmittelbar an das Gespräch zwischen Heinrich und seinen Eltern über den (Erkenntnis-)Wert der Träume an. Die Nachbereitung von T I ist also gleichzeitig die Vorbereitung von T II. Der Traum, dem eine kurze Vorgeschichte vorangestellt wird (Aufenthalt des Vaters in Rom, Besuch im Landhaus, Gespräch mit einem alten, antikenkundigen Mann [=Sylvester], Unterkunft und Übernachtung in dessen Haus), lässt sich in vier Teile gliedern und ist intradiegetisch-autodiegetisch fokalisiert: Der Vater schildert seinen eigenen Traum, der in der Vergangenheit liegt.
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* (1) Am Beginn steht eine Wanderung des Vaters, der sich analog zu Heinrich in eine Höhle begibt, dort findet er nach einer allegorischen Konfrontation mit seinen eigenen künstlerischen Fähigkeiten seinen Gastgeber Sylvester wieder, welcher ihn an einen neuen Ort mitnimmt.  
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* (2) Während der Vater vorher sicher war, in der Heimat zu sein, ist nun „alles ganz anders, als in Thüringen“ (HvO 201). An diesem neuen Ort befinden sich zahlreiche Quellen und Blumen, von denen dem Vater „unter allen Blumen […] Eine ganz besonders“ (ebd.) gefiel. Er kann diese – auf eine Nachfrage Heinrichs hin, die den Traumbericht unterbricht – allerdings nicht mehr näher beschreiben.
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* (3) Dieser Unterbrechung durch eingeschobene direkte Rede folgt dann wieder ein dritter Teil in der Erzählung des Vaters. Er und Sylvester finden sich nach einer Reise auf einem Berg wieder, wo Sylvester dem Vater eine Deutung des Traums verspricht, unter der Voraussetzung, dass dieser am Abend des Johannistages wiederkommt und ein blaues Blümchen abbricht.
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* (4) Es folgt ein letzter, episodenhafter Teil der mit eine Art Marienerscheinung endet: Der Vater glaubt, seine zukünftige Frau, also Heinrichs Mutter, zu sehen. Sie hat ein Kind in den Armen, welches „sich endlich mit blendendweißen Flügeln“ (ebd.) über beide erhebt. Nachdem sich die Symbole Blume, Berg und Greis nochmals wiederholen, endet der Traum mit der Schilderung des Erwachens und einem kurzen abschließenden Fazit des Vaters, welches verdeutlicht, warum er die vom Begleiter versprochene Erfüllung seines Traumes niemals erhalten hat.
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Im sechsten Kapitel trifft Heinrich dann Mathilde, die personifizierte Blume: „Ist mir nicht zu Muthe wie in jenem Traume, beym Anblick der blauen Blume? […] Jenes Gesicht, das aus dem Kelche sich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht“ (HKA I, 277). Damit sind Heinrichs Träume insofern prophetisch, als sie zu Beginn des Romans die Handlung vorwegnehmen.
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====Traum III====
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Traum III unterscheidet sich in wichtigen Aspekten von den vorangegangenen Träumen. Dies betrifft seine Länge, seinen Aufbau und die Grundstimmung, welche im Traum vorherrscht. Auch für ihn gibt es eine – sogar sehr ausführliche – Vorgeschichte, nämlich Heinrichs Bekanntschaft mit Mathilde und seine Liebesschwüre für sie. Das Kennenlernen der beiden, die anfängliche Schüchternheit Heinrichs, die Versuchung durch die reizende Veronika und der erste Kuss sind Ereignisse, welche sich im sechsten Kapitel abspielen und so eine thematische Basis für den Traum schaffen. Noch wichtiger sind aber die Reflexionen Heinrichs, nachdem die Gesellschaft ‚tief in der Nacht’ auseinandergeht.  Angedeutet wird, dass Mathilde das ‚Du’ zu Heinrichs ‚Ich’ ist, wenn er sich fragt: „bin ich der Glückliche, dessen Wesen das Echo, der Spiegel des ihrigen seyn darf?“ (HvO 277). Bevor er sich zu Bette begibt, schwört Heinrich Mathilde die ewige Treue: „Ich zünde der aufgehenden Sonne mich selbst zum nieverglühenden Opfer an“ (HvO 278). Danach setzt der Traum ein, der sich in drei Teile untergliedern lässt. Der erste Teil findet auf dem Wasser statt, die anderen beiden darunter.
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(1) Zuerst sieht Heinrich die auf einem Kahn befindliche Mathilde und will sich zu ihr begeben, weil er in Sorge um sie ist. Er kann sie aber nicht erreichen. Plötzlich passiert das Unglück, der Kahn geht unter und Mathilde ertrinkt. Heinrich stirbt ebenfalls und erwacht (2) an einem noch nicht näher bestimmten anderen Ort. Nachdem er diesen ein Stück weit durchwandert hat und den Klängen eines Liedes folgt, begegnet er (3) Mathilde wieder. Beide sprechen miteinander; nach erneuten Liebesschwüren sagt sie „ihm ein wunderbares geheimes Wort in den Mund“ (HvO 279), an das Heinrich sich aber nach dem Aufwachen nicht mehr erinnern kann. So wie er aus T I durch die Mutter geweckt wird, weckt ihn aus T III der Großvater. Der Traum beschließt das Kapitel und wird nicht mehr weiter thematisiert.
    
===Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit===
 
===Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit===
Die Konstruktion der Träume folgt außerdem, ebenso wie die der anderen Einlagen im Romans, dem Prinzip des ''mise en abyme'', das aus der Heraldik stammt. Diese verkürzte Darstellung der Geschichte in der Geschichte, immer leicht variiert und alles miteinander verbindend, funktioniert vor allem aufgrund der dichten Symbolik und Motivik des Textes. Von den vielen Bildern des ersten Traums nenne ich nur eine Auswahl: Ferne, Meer, Krieg, Wald, Morgen, Strahl, Blau, Gold, Quelle usw. Sie durchziehen den ganzen Roman und erfüllen damit den Anspruch, den Allzusammenhang der Dinge zu zeigen. Obwohl der Roman aus zahlreichen unterschiedlichen Einlagen, wie Märchen, Träumen, Sagen und Geschichten besteht, die immer wieder durch Reflexionen unterbrochen werden, hängt aufgrund der all diesen Einlagen gemeinsamen Symbolik alles miteinander zusammen. In den Träumen treten diese Symbole in besonderer Dichte auf.  
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Die Konstruktion der Träume folgt, ebenso wie die der anderen Einlagen im Romans, dem Prinzip des mise en abyme, das aus der Heraldik stammt. Diese verkürzte Darstellung der Geschichte in der Geschichte, immer leicht variiert und alles miteinander verbindend, funktioniert vor allem aufgrund der dichten Symbolik und Motivik des Textes: Wassersymbole wie der Strahl, der Strom und die Quelle, die beiden Farben Blau, Gold, Natursymbole wie der Wald, die Blume, der Mond, um nur einige Beispiele zu nennen, durchziehen den ganzen Roman und erfüllen damit den Anspruch, den Allzusammenhang der Dinge zu zeigen. Obwohl der Roman aus zahlreichen unterschiedlichen Einlagen, wie Märchen, Träumen, Sagen und Geschichten besteht, die immer wieder durch Reflexionen unterbrochen werden, hängt aufgrund der all diesen Einlagen gemeinsamen Symbolik alles miteinander zusammen. In den Träumen treten diese Symbole in besonderer Dichte auf.  
 
   
Die Neuerung von Novalis’ Werk liegt nun nicht in der Idee, dass Träume Symbole verwenden (dieser Ansatz findet sich bereits in der Antike), sondern vielmehr darin, den Symbolen einen neuen Unterbau zu geben. Weil diese den Ideen der idealistischen Philosophie folgen oder bekannte Symbole in einen neuen Sinnzusammenhang bringen (Neue Mythologie), sind sie für den Leser entschlüsselbar. Dieser Konstruktionscharakter steht nun den Eigenschaften entgegen, welche gemeinhin mit Träumen assoziiert werden. Zu nennen wären etwa: Zusammenhangslosigkeit, fehlende Logik, Aufhebung der Ordnung von Raum und Zeit. Novalis gleicht diesen Mangel an Traumeigenschaften jedoch durch sein Poesiekonzept aus. Mythen- und Märchenelemente verleihen den literarischen Träumen eine andere, „sekundäre“ Art der Traumhaftigkeit (Engel 2017, 40 f.): Dies äußert sich etwa durch das Auftreten von legendären Figuren (Heinrichs Vater trifft Friedrich Barbarossa im Traum), durch das Einbinden religiöser Elemente (Heinrich erlebt ein „unendlich buntes Leben“ (HKA I, 196) und stirbt, steht aber wie Jesus Christus von den Toten auf) oder durch den Rückgriff auf die alte Mythologie (Mathilde sitzt in einer Barke auf dem Strom wie Charon). Dies sind nur drei von zahlreichen Beispielen im Text.
 
Die Neuerung von Novalis’ Werk liegt nun nicht in der Idee, dass Träume Symbole verwenden (dieser Ansatz findet sich bereits in der Antike), sondern vielmehr darin, den Symbolen einen neuen Unterbau zu geben. Weil diese den Ideen der idealistischen Philosophie folgen oder bekannte Symbole in einen neuen Sinnzusammenhang bringen (Neue Mythologie), sind sie für den Leser entschlüsselbar. Dieser Konstruktionscharakter steht nun den Eigenschaften entgegen, welche gemeinhin mit Träumen assoziiert werden. Zu nennen wären etwa: Zusammenhangslosigkeit, fehlende Logik, Aufhebung der Ordnung von Raum und Zeit. Novalis gleicht diesen Mangel an Traumeigenschaften jedoch durch sein Poesiekonzept aus. Mythen- und Märchenelemente verleihen den literarischen Träumen eine andere, „sekundäre“ Art der Traumhaftigkeit (Engel 2017, 40 f.): Dies äußert sich etwa durch das Auftreten von legendären Figuren (Heinrichs Vater trifft Friedrich Barbarossa im Traum), durch das Einbinden religiöser Elemente (Heinrich erlebt ein „unendlich buntes Leben“ (HKA I, 196) und stirbt, steht aber wie Jesus Christus von den Toten auf) oder durch den Rückgriff auf die alte Mythologie (Mathilde sitzt in einer Barke auf dem Strom wie Charon). Dies sind nur drei von zahlreichen Beispielen im Text.
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===Übergreifende Funktion der Träume – der Prototyp des triadischen Traumes===
 
===Übergreifende Funktion der Träume – der Prototyp des triadischen Traumes===
In der Forschung wurde vor allem Traum I, der mit der blauen Blume scheinbar das zentrale Symbol des Romans enthält, Beachtung geschenkt. Traum II wurde weitaus weniger berücksichtigt, Traum III kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei liegt die besondere Leistung Novalis’ darin eine Konstruktion erfunden zu haben, die in der gesamten literarischen Romantik als vorbildhaft empfunden wurde und die sich als triadischer Traum bezeichnen lässt. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Traumdarstellungen, deren Prototyp die beiden Träume Heinrichs sind und deren verbindendes Element vor allem das ihnen zugrundeliegende Konstruktionsprinzip ist. Diese Darstellung des Traumes orientiert sich nämlich an (1) dem triadischen Geschichtsmodell und (2) dem Prinzip der Mise en abyme. Das Modell des goldenen Zeitalters soll hier zur Erinnerung nochmals dargestellt werden: (I) Vergangenes goldenes Zeitalter, (II) (negativ konnotierte) Gegenwart, zugleich Übergangsphase zu einem neuen goldenen Zeitalter, (III) Wiederkehr eines neuen, höheren goldenen Zeitalters. Das Modell ist eigentlich progressiv gedacht: Immer wieder enden goldene Zeitalter, immer wieder kommen nach einer Übergangsphase neue goldene Zeitalter.
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In der Forschung wurde vor allem Traum I, der mit der blauen Blume scheinbar das zentrale Symbol des Romans enthält, berücksichtigt. Traum II wurde weitaus weniger berücksichtigt, Traum III kaum Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Quintes 2019, 34f.). Dabei liegt die besondere Leistung Novalis’ darin, eine Konstruktion erfunden zu haben, die in der gesamten literarischen Romantik als vorbildhaft empfunden wurde und die sich als triadischer Traum bezeichnen lässt (vgl. Quintes 2019, S. 305–324). Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Traumdarstellungen, deren Prototyp die beiden Träume Heinrichs sind und deren verbindendes Element vor allem das ihnen zugrundeliegende Konstruktionsprinzip ist. Diese Darstellung des Traumes orientiert sich nämlich an (1) dem triadischen Geschichtsmodell und (2) dem Prinzip der Mise en abyme. Das Modell des goldenen Zeitalters soll hier zur Erinnerung nochmals dargestellt werden:
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Die beiden Träume Heinrichs bilden gemeinsam eine Triade. Der Traum von der blauen Blume, Traum I, steht am Anfang von Heinrichs äußerer Reise, Heinrichs zweiter Traum, Traum III, an deren Ende. Beide Träume, insbesondere der erste, lassen sich, wie bereits gezeigt wurde, nochmals weiter unterteilen, nur zusammen ergeben sie aber die Triade. Der erzähltechnische Clou liegt darin, dass der erste Traum den Anfang der Triade erzählt, vergangenes goldenes Zeitalter, der zweite Traum auf die Zukunft verweist, künftiges goldenes Zeitalter, und die Handlung dazwischen, welche in der Wachwelt angesiedelt ist, die Gegenwart zwischen den goldenen Zeitaltern abbildet. Wie aber kann man ein goldenes Zeitalter, in dem das Konzept ‚Zeit‘ keine Rolle mehr spielt, literarisch umsetzen? Wie gestaltet sich der Weg in das neue goldene Zeitalter?
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* (I) Vergangenes goldenes Zeitalter
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* (II) (negativ konnotierte) Gegenwart, zugleich Übergangsphase zu einem neuen goldenen Zeitalter
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* (III) Wiederkehr eines neuen, höheren goldenen Zeitalters.
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Der Raum, in den Heinrich sich zu Beginn seiner Reise in Traum I begibt, ist ein Spiegel der idealistischen Philosophie: Er macht eine Reise zurück zum Ursprung des Seins, nämlich unmittelbar an den Punkt, an dem sich Betrachtung und Reflexion getrennt haben. Diese Reise spiegelt sich auch in der ihn umgebenden Landschaft wider, die die Entwicklung der Natur abbildet. Am Beginn von Heinrichs Entwicklung steht also der Ausblick auf die erste Stufe der Triade. Heinrichs Reise, die nach dem Erwachen (und dem Gespräch mit den Eltern) beginnt, orientiert sich an der Symbolik des Traumes; aus der Quelle ist im zweiten Traum ein Strom geworden. Nach dem missglückten Versuch, Mathilde zu retten, findet Heinrich sich mit dieser unter dem Strom wieder und trinkt dort aus einer Quelle. Der zweite Teil der Triade beinhaltet also einen Wechsel von einem real existierenden Raum (über den Fluss), in einen mythischen Raum (unter dem Fluss). Die Raumdarstellung trägt damit zur Verdeutlichung der grundlegenden Aussage des Traumes bei, sie verweist auf die bevorstehende Rückkehr des goldenen Zeitalters und die anstehende Poetisierung der Welt.
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Das Modell ist eigentlich progressiv gedacht: Immer wieder enden goldene Zeitalter, immer wieder kommen nach einer Übergangsphase neue goldene Zeitalter. Das christliche Geschichtsbild hingegen besteht eigentlich nur aus drei Teilen: Paradiesischer Urzustand, Vertreibung aus dem Paradies, Wiederkehr des Reiches Gottes auf Erden. Diese Teile lassen sich noch weiter untergliedern, darunter fällt etwa die Ankunft Christi auf Erden, dessen Wiederauferstehung als Heilsversprechen usw. Klar ist aber, dass die Heilsgeschichte ein Ende hat, sie wird eines Tages abgeschlossen sein. Die idealistische Philosophie hingegen sieht das triadische Modell als einen Prozess der unendlichen Annäherung, der niemals abgeschlossen sein wird.
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Die beiden Träume Heinrichs bilden gemeinsam eine Triade. Der Traum von der blauen Blume, Traum I, steht am Anfang von Heinrichs äußerer Reise, Heinrichs zweiter Traum, Traum III, an deren Ende. Beide Träume, insbesondere der erste, lassen sich nochmals weiter unterteilen, nur zusammen ergeben sie aber die Triade. Der erzähltechnische Clou liegt darin, dass der erste Traum den Anfang der Triade erzählt, vergangenes goldenes Zeitalter, der zweite Traum auf die Zukunft verweist, künftiges goldenes Zeitalter, und die Handlung dazwischen, welche in der Wachwelt angesiedelt ist, die Gegenwart zwischen den goldenen Zeitaltern abbildet. Wie aber kann man ein goldenes Zeitalter, in dem das Konzept ‚Zeit‘ keine Rolle mehr spielt, literarisch umsetzen? Wie gestaltet sich der Weg in das neue goldene Zeitalter?
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Der Raum, in den Heinrich sich zu Beginn seiner Reise in Traum I begibt, ist ein Spiegel der idealistischen Philosophie: Er macht eine Reise zurück zum Ursprung des Seins, nämlich unmittelbar an den Punkt, an dem sich Betrachtung und Reflexion getrennt haben. Diese Reise spiegelt sich auch in der ihn umgebenden Landschaft wider, die die Entwicklung der Natur abbildet (vgl. Engel 2002, 83). Am Beginn von Heinrichs Entwicklung steht also der Ausblick auf die erste Stufe der Triade. Heinrichs Reise, die nach dem Erwachen (und dem Gespräch mit den Eltern) beginnt, orientiert sich an der Symbolik des Traumes; aus der Quelle ist im zweiten Traum ein Strom geworden. Nach dem missglückten Versuch, Mathilde zu retten, findet Heinrich sich mit dieser unter dem Strom wieder und trinkt dort aus einer Quelle. Der zweite Teil der Triade beinhaltet also einen Wechsel von einem real existierenden Raum (über den Fluss), in einen mythischen Raum (unter dem Fluss). Die Raumdarstellung trägt damit zur Verdeutlichung der grundlegenden Aussage des Traumes bei, sie verweist auf die bevorstehende Rückkehr des goldenen Zeitalters und die anstehende Poetisierung der Welt.
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Diese Interpretation stützt auch die Symbolik der Traumdarstellungen. Ich erläutere dies anhand der beiden Symbole Strom und Barke: Ersterer hat innerhalb des Romans in beiden Träumen Heinrichs eine zentrale Funktion inne. Für Schelling war Wasser das Element, "von dem alle Produktivität ausgeht, und in das sie zurückläuft" (Schelling: Von der Weltseele, W 468), es ist also quasi ein Spiegel des Verhältnisses von reeller und ideeller Tätigkeit. Dieses Bild des Wassers hatte Novalis in den Lehrlingen und im Ofterdingen aufgegriffen; es ist der Schlüssel zum Verständnis der beiden Traumdarstellungen. Der Weg Heinrichs von der Quelle aus dem ersten Traum hin zum fertigen Strom, dann unter den Strom, wo eine neue Quelle entspringt und darüber hinaus, spiegelt die zentrale Vorstellung des idealistischen Denkens wider. Alles geht von der (absoluten) Quelle aus, alles geht wieder dorthin zurück, in einem unendlichen Prozess, der im Ofterdingen am Beispiel Heinrichs abgebildet wird. Die Barke wiederum verweist nicht nur, wie bereits ausgeführt, textintern auf Mathildes Tod, sondern als Attribut Charons, des Fährmanns, der die Toten über den Fluss Acheron bringt auch auf den symbolischen Übergang von einer Welt in die nächste. Dies hat Novalis im Ofterdingen im Sinne einer Neuen Mythologie auf Heinrich übertragen. Das Durchqueren des Flusses – Heinrich gelangt unter den Fluss – ist der Übergang in die nächste Welt. Damit vermitteln die beiden Träume Heinrichs in ihrer Gesamtheit als triadischer Traum ein Wissen, das über die Figur Heinrichs hinausgeht und sich direkt an den Leser richtet, sie sind metareflexiv.
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Diese Interpretation stützt auch die Symbolik der Traumdarstellungen. Ich erläutere dies anhand der beiden Symbole Strom und Barke: Ersterer hat Innerhalb des Romans in beiden Träumen Heinrichs eine zentrale Funktion inne. Für Schelling war Wasser das Element, „von dem alle Produktivität ausgeht, und in das sie zurückläuft“, es ist also quasi ein Spiegel des Verhältnisses von reeller und ideeller Tätigkeit. Dieses Bild des Wassers hatte Novalis in den Lehrlingen und im Ofterdingen aufgegriffen; es ist der Schlüssel zum Verständnis der beiden Traumdarstellungen. Der Weg Heinrichs von der Quelle aus dem ersten Traum hin zum fertigen Strom, dann unter den Strom, wo eine neue Quelle entspringt und darüber hinaus, spiegelt die zentrale Vorstellung des idealistischen Denkens wider. Alles geht von der (absoluten) Quelle aus, alles geht wieder dorthin zurück, in einem unendlichen Prozess, der im Ofterdingen am Beispiel Heinrichs abgebildet wird. Die Barke wiederum ist eigentlich das Attribut Charons, des Fährmanns, der die Toten über den Fluss Acheron bringt. Diesen symbolischen Übergang von einer Welt in die nächste hat Novalis im Ofterdingen im Sinne einer Neuen Mythologie auf Heinrich übertragen. Das Durchqueren des Flusses – Heinrich gelangt unter den Fluss – ist der Übergang in die nächste Welt. Damit vermitteln die beiden Träume Heinrichs in ihrer Gesamtheit als triadischer Traum ein Wissen, das über die Figur Heinrichs hinausgeht und sich direkt an den Leser richtet, sie sind metareflexiv. 
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==Bezugstexte==
 
==Bezugstexte==
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* Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: System des transzendentalen Idealismus (1800). Hg. v. Walter Schulz. Hamburg 1962 (Meiner Phil. Bibl. 254). 
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* Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke [W]. Auswahl in drei Bänden. Hg. v. Otto Weis. Leipzig 1907. Band 1.
 
* Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie. In: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe [KFSA]. 1. Abt. Bd. 2
 
* Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie. In: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe [KFSA]. 1. Abt. Bd. 2
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: Charakteristiken und Kritiken I. 1796–1801. Hg. v. Ernst Behler. München, Paderborn, Wien 1967.
 
: Charakteristiken und Kritiken I. 1796–1801. Hg. v. Ernst Behler. München, Paderborn, Wien 1967.
  
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