"Heinrich von Ofterdingen" (Novalis)

Aus Lexikon Traumkultur
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Novalis

"Heinrich von Ofterdingen" ist ein posthum veröffentlichter, unvollendeter Roman von Novalis. Thema des Werkes ist die "Apotheose der Poësie" (HKA IV,322), die am Beispiel der Figur Heinrich von Ofterdingen dargestellt wird. Der Roman prägte mit der blauen Blume nicht nur das zentrale Symbol der Romantik, sondern anhand seiner Traumdarstellungen, die als vorbildhaft empfunden wurden, auch die romantische Traumpoetik insgesamt.


Autor

Der heute vor allem unter seinem Pseudonym Novalis bekannte Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg wird am 02. Mai 1772 als zweites von elf Kindern auf dem Gut  Oberwiederstedt geboren. 1786 zieht die Familie nach Weißenfels um, ab 1788 sind erste literarische Versuche Friedrichs (so der Rufname) überliefert. 1790 besucht er als Studienvorbereitung das Gymnasium in Eisleben, um sich anschließend in Jena als Student der Jurisprudenz zu immatrikulieren. Hier kommt es zum ersten Kontakt mit Friedrich Schlegel. Später erfolgt der Wechsel nach Leipzig (1791) und Wittenberg (1793), wo Novalis das Studium 1794 mit dem Ersten Staatsexamen abschließt.

Im März 1795 verlobt Novalis sich mit Sophie von Kühn Es folgen Anstellungen im Staatsdienst als Aktuarius (1794, Tennstedt) und Akzessist (1796, Salinendirektorium Weißenfels), nach dem Besuch der Bergakademie in Freiberg (1797–1799) erhält er die erwünschte Ernennung zum Salinen-Asessor. Der frühe Tod der Verlobten (1797) wurde später von Tieck als Ausgangspunkt einer biographischen Leitlinie verwendet, die aus ihm einen schwindsüchtigen, am Grab der verstobenen Geliebten dahinsiechenden, Jüngling machte. Dabei verlobte Novalis sich noch 1798 mit Julie von Charpentier und strebt eine berufliche Position an, die ihm die Gründung und den Unterhalt einer Familie erlauben würde. Im Dezember 1800 gelingt dies, er wird zum Supernumerar-Amtshauptmann (entspricht dem heutigen Landrat) für den Thüringer Kreis berufen. Im Jahr der Verlobung zeigten sich allerdings bereits erste Anzeichen einer tuberkulösen Erkrankung, die im März 1801 zu seinem Tod führt.


Entstehungs- und Druckgeschichte

Im November 1799 beginnen die Arbeiten am Roman Heinrich von Ofterdingen, im Januar 1800 entstehen erste Entwürfe zu Klingsohrs Märchen (9. Kapitel). In einem Brief an Tieck äußert Novalis sich umfassend zur Konzeption des Romans:

„Mein Roman ist im vollen Gange. 12 gedruckte Bogen sind ohngefähr fertig. Der ganze Plan ruht ziemlich ausgeführt in meinem Kopfe. Es werden 2 Bände werden – der Erste ist in 3 Wochen hoffentlich fertig. Er enthält die Andeutungen und das Fußgestell des 2ten Theils. Das Ganze soll eine Apotheose der Poësie seyn. Heinrich von Afterdingen wird im 1sten Theile zum Dichter reif – und im Zweyten, als Dichter verklärt. Es wird mancherley Aehnlichkeiten mit dem Sternbald haben ­­– nur nicht die Leichtigkeit. Doch wird dieser Mangel vielleicht dem Inhalt nicht ungünstig" Novalis an Tieck, 23.02.1800 (HKA IV, 322).

Im April 1800 erfolgt dann der Abschluss der Arbeiten am ersten Teil des Heinrich von Ofterdingen, von Juli bis September entwirft Novalis Pläne zur Fortsetzung des 2. Teils. Dazu entstehen Gedichte, darunter Astralis, das Lied der Toten und Die Vermählung der Jahreszeiten. Am 18.06. schreibt er an Schlegel, der zweite Teil werde "der Commentar des Ersten" (HKA IV, 333).

Der Roman erscheint, posthum und unvollendet, erstmals 1802 unter dem Titel Heinrich von Ofterdingen. Ein nachgelassener Roman von Novalis. Zwei Theile. Herbert Uerlings verweist darauf, dass dieser Titel irreführend ist, da die Ausgabe nur den ersten Teil enthält (vgl. Uerlings 177). Erst mit den von Schlegel und Tieck Ende 1802 herausgegebenen Schriften standen einer interessierten Leserschaft der fertige Anfang des zweiten Teils, zahlreiche Paralipomena sowie ein umstrittener Fortsetzungsbericht von Tieck zur Verfügung. Einen ausführlichen Überblick über die zahlreichen Ausgaben der Werke Novalis’ hat Herbert Uerlings erstellt: http://www.novalis-gesellschaft.de/index.php/bibliografie-129/quellen/werk-und-einzelausgaben. Textgrundlage der Forschung war jahrzehntelang die historisch-kritische Novalis-Ausgabe. Band 1, der den Ofterdingen enthält, wurde zuletzt 1977 überarbeitet. 2015 hat Alexander Knopf eine neue Ausgabe des Werkes herausgegeben. Heinrich von Afterdingen ist den editionstechnischen Prinzipien Roland Reuß’ verpflichtet und macht dem Leser alle erhaltenen Handschriften „zum ersten Mal zugänglich“ (Knopf, 111). Knopfs Ausgabe ist von besonderem Interesse  was die Erforschung des zweiten, unvollendeten Romanteils angeht. Allerdings baut die Edition im Vergleich zur HKA „auf einer nur geringfügig veränderten Materialbasis“ auf (Knopf 112), was insbesondere für den ersten Teil gilt, zu dem keine Handschriften vorliegen, sondern lediglich verschiedene Drucke (vgl. Knopf 113). Die hier besprochenen Träume finden sich alle im ersten Teil des Romans.


Aufbau und Thematik des Romans

Novalis’ Heinrich von Ofterdingen ist alles andere als ein realistischer Roman; weder die Handlung noch der Entwurf psychologisch differenzierter Charaktere scheinen für Novalis von großem Interesse gewesen zu sein. Herbert Uerlings fasst das Ziel des Romans, die Darstellung einer Apotheose der Poesie und der Rückkehr eines goldenen Zeitalters, folgendermaßen zusammen:

"Der Roman dient der Darstellung einer unendlichen Idee, in diesem Sinne geht es um 'Übergangs Jahre vom Unendlichen zum Endlichen' (HKA IV, 281). Diese Idee ist das absolute Ziel des Romans, das in Gestalt von Einlagen (Symbolen, Träumen, Liedern, Märchen u. a. m.) in sinnbildlicher Form immer wieder vorweggenommen wird, aber nur, um so den Prozeß unendlicher Annäherung in Bewegung zu halten und zu steigern" (Uerlings, 183). Diese symbolische Grundanlage des Textes steht in direktem Zusammenhang mit dem romantischen Projekt einer Neuen Mythologie (vgl. Mahoney 203). Novalis kannte sowohl die Schriften Friedrich Wilhelm Joseph Schelling als auch seines Freundes Friedrich Schlegel sehr gut. Beide veröffentlichten im Jahr 1800 Werke, die sich mit grundlegenden Problemen der neuen, romantischen Literatur auseinandersetzen. Schelling wirft in seinem System des transzendentalen Idealismus das Problem auf, dass eine neue Mythologie, welche "das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie sein werde", (Schelling 298) benötigt wird; Schlegel beantwortet die Frage, wie diese aussehen könnte, in seinem Gespräch über Poesie auf Basis der alten Mythologie:

"Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich. Alle Gedichte des Altertums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer größern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift in einander, und überall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedrückt. Und so ist es wahrlich kein leeres Bild, zu sagen: die alte Poesie sei ein einziges, unteilbares, vollendetes Gedicht. Warum sollte nicht wieder von neuem werden, was schon gewesen ist? Auf eine andre Weise versteht sich. Und warum nicht auf eine schönere, größere?" (Schlegel 313).

Ich gehe von der Annahme aus, dass Novalis seine Symbole nicht nur für den Ofterdingen entworfen hat, sondern im Sinne einer Forderung im Gespräch über die Poesie an einer 'Neuen Mythologie' mitgearbeitet hat, also eine praktische Umsetzung des von Schlegel und Schelling aufgeworfenen Problems bieten wollte. Deshalb wird im Ofterdingen und in den Lehrlingen, aber auch in anderen schriftlichen Äußerungen Novalis’ auf dieselbe Bildsprache und dieselben Symbole zurückgegriffen. In meiner Analyse der Träume werde ich skizzieren, wie diese am Aufbau des Symbolgeflechtes mitwirken, das den ganzen Roman durchzieht und ihn zum 'neu-mythologischen' Großprojekt einer Darstellung des 'Zusammenhanges der Dinge' am Beispiel der idealen, ins Mythische gesteigerten Entwicklungsgeschichte eines Individuums werden lässt.

Der erste Teil des Romans, Die Erwartung, besteht aus insgesamt neun Kapiteln ohne Titel, die fortlaufend nummeriert sind. Die Handlung dieses Teils ließe sich knapp als Aufbruch Heinrichs, Reise zu seinem Großvater und Ankunft bei diesem während eines Festes zusammenfassen, dessen Konsequenz die nicht mehr dargestellte Heirat Heinrichs mit Mathilde ist. Der zweite Teil Die Erfüllung beginnt nicht mit einer Kapitelnummer, sondern mit der Angabe Das Kloster, oder der Vorhof, dem sich ein Astralis genanntes Gedicht unmittelbar anschließt. Da es sich um das einzige zumindest größtenteils fertige Kapitel des zweiten Teils handelt, müssen Versuche, dessen Aufbau zu erschließen, spekulativ bleiben. Trotzdem ist das wenige überlieferte Material von essentieller Bedeutung bei der Interpretation des Romans, schrieb doch Novalis an Schlegel: "Der 2te Theil wird der Commentar des Ersten" ( HKA IV, 333).

Dem Gedicht Astralis folgen noch einige kleinere Episoden, der zweite Teil bricht dann schließlich während eines Gespräches zwischen Sylvester und Heinrich ab. Die drei Träume sind im ersten Teil des Romans angesiedelt, der berühmte Traum von der blauen Blume (I) und der Traum, den Heinrichs Vater in Italien hat (II), im ersten Kapitel. Dieses beginnt nach kurzen Reflexionen Heinrichs mit Traum I. Unmittelbar daran knüpft das Gespräch über den (Erkenntnis-)Wert von Träumen mit Heinrichs Eltern an. Als Reaktion darauf erzählt der Vater seinen Traum, der dem Heinrichs in vielerlei Hinsicht ähnelt. Somit bilden die beiden Träume einen Rahmen um das Gespräch, sie stehen am Anfang der Handlung. Traum III wird von Heinrich am Ende des sechsten Kapitels geträumt, nachdem die äußere Handlung des ersten Teils, Heinrichs Reise zum Großvater, bereits abgeschlossen ist. Diesem Traum geht ein Fest, auf welchem Heinrich erstmals dem Dichter Klingsohr und Mathilde begegnet, unmittelbar voraus. Reflexionen und Gespräche mit diesen beiden Figuren bilden den Rest der Handlung des ersten Teils, im zweiten Teil gibt es keine Träume. Sowohl I und II, als auch I und III rahmen also Handlungselemente und sind an zentralen Stellen des Romans positioniert.


Die Träume

Beschreibung

Die literarische Gestaltung der Träume erörtere ich exemplarisch anhand von I. Dieser lässt sich in drei Hauptteile untergliedern: den nur kurz geschilderten, verworrenen Nachttraum und die beiden durch Einschlafen und Erwachen getrennten Partien des Morgentraums. Der Aufbau des Rahmenteils, also Schilderung der Außen- und Innensicht, Vorhandensein eines Tagesrestes, Einschlafen des Protagonisten und anschließende Schilderung des Traumes ist, um Manfred Engel zu zitieren, „eine in der Traumdichtung geradezu prototypische Rahmenkonstruktion“ (Engel, GdpL, 157). Dabei enthält der Traum die gesamte Romanhandlung in nuce. Während der verworrene und unklare Nachttraum auf den noch in weiter Ferne liegenden zweiten Teil des Romans verweist, präfigurieren die beiden Partien des Morgentraumes den Inhalt des ersten Romanteils. Im Nachttraum heißt es etwa, Heinrich sei »bald im Kriege, in wildem Getümmel, in stillen Hütten. Er gerieth in Gefangenschaft und die schmählichste Noth« (I, 196). Dies entspricht den Schilderungen, die Tieck in seinem Fortsetzungsbericht für den zweiten Teil des Ofterdingen gibt (I, 357 ff.). Im Morgentraum erreicht Heinrich die blaue Blume: "Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte" (HKA I, 197). Im sechsten Kapitel trifft er dann Mathilde, die personifizierte Blume: "Ist mir nicht zu Muthe wie in jenem Traume, beym Anblick der blauen Blume? […] Jenes Gesicht, das aus dem Kelche sich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht" (HKA I, 277). Damit sind Heinrichs Träume insofern prophetisch, als dass sie zu Beginn des Romans die Handlung vorwegnehmen.


Formale Besonderheiten und Traumhaftigkeit

Die Konstruktion der Träume folgt außerdem, ebenso wie andere Einlagen des Romans, dem Prinzip des mise en abyme, das aus der Heraldik stammt. Diese Darstellung der Geschichte in der Geschichte, immer leicht variiert und alles miteinander verbindend, funktioniert vor allem aufgrund der dichten Symbolik und Motivik des Textes. Von den vielen Bildern des ersten Traums nenne ich nur eine Auswahl: Ferne, Meer, Krieg; Wald, Morgen, Strahl, Blau, Gold, Quelle usw. Sie durchziehen den ganzen Roman und erfüllen damit den Anspruch, den Allzusammenhang der Dinge zu zeigen. Obwohl der Roman aus zahlreichen unterschiedlichen Einlagen, wie Märchen, Träumen, Sagen und Geschichten besteht, die immer wieder durch Reflexionen unterbrochen werden, hängt aufgrund der all diesen Einlagen gemeinsamen Symbolik alles miteinander zusammen. In den Träumen treten diese Symbole in besonderer Dichte auf. Die Neuerung Novalis’ liegt nun nicht in der Idee, dass Träume Symbole verwenden (dieser Ansatz findet sich bereits in der Antike), sondern vielmehr darin, den Symbolen einen neuen Unterbau zu geben. Weil diese den Ideen der idealistischen Philosophie folgen oder bekannte Symbole in einen neuen Sinnzusammenhang gebracht werden (Neue Mythologie), sind sie für den Leser entschlüsselbar. Dieser Konstruktionscharakter steht nun den Eigenschaften entgegen, welche gemeinhin mit Träumen assoziiert werden. Zu nennen wären etwa: Zusammenhangslosigkeit, fehlende Logik, Aufhebung der Ordnung von Raum und Zeit, Novalis gleicht diesen Mangel an Traumeigenschaften jedoch durch sein Poesiekonzept aus. Mythen- und Märchenelemente verleihen den literarischen Träumen eine andere Art der Traumhaftigkeit: Dies äußert sich etwa durch das Auftreten von legendären Figuren – Heinrichs Vater trifft Friedrich Barbarossa im Traum –,durch das Einbinden religiöser Elemente, – Heinrich erlebt ein "unendlich buntes Leben" (HKA I, 196) und stirbt, er steht aber wie Jesus Christus von den Toten auf – , oder durch den Rückgriff auf die alte Mythologie; Mathilde sitzt in einer Barke auf dem Strom wie Charon. Dies sind nur drei von zahlreichen Beispielen im Text.


Interpretation

Auf dieser Basis lässt sich nun beantworten, welche Funktionen die Träume innerhalb des Romans übernehmen. Eine einfache Funktion, die sich aus der Anordnung der Träume ergibt, ist diejenige einer Ordnungseinheit. I und III dienen als Zäsur im Roman, sie grenzen innerhalb des arabesken Textes zwei Sinneinheiten ab, nämlich Heinrichs äußere und seine innere Reise. I steht vor der Reise zum Großvater, III träumt Heinrich, nachdem dieser erreicht ist. Damit ist die äußere Handlung des ersten Romanteils abgeschlossen. Zugleich bildet I aber den Ausgangspunkt, die Inspiration für Heinrichs Reifen zum Dichter. Dies ergibt sich aus der unmittelbar an I anschließenden Diskussion mit den Eltern: "Gewiß ist der Traum, den ich heute Nacht träumte, kein unwirksamer Zufall in meinem Leben gewesen, denn ich fühle es, daß er in meine Seele wie ein weites Rad hineingreift, und sie in mächtigem Schwunge forttreibt" (I, 199). Das Ende dieser Reise wird in III thematisiert: Zu Heinrichs Entwicklung gehört die Sehnsucht nach der blauen Blume, die durch Mathilde personifiziert wird. Das Zusammenkommen von Heinrich und Mathilde ist jedoch nicht das Ende der Handlung, sondern nur Teil der im Roman dargestellten unendlichen Annäherung. Daher wird in III, unmittelbar nachdem Heinrich Mathilde erreicht, deren Tod thematisiert. Mathilde ertrinkt im Traum im Fluss. Heinrich kommt bei dem Versuch, sie zu retten, ebenfalls ums Leben. Es heißt im Text lapidar: "das Herz schlug nicht mehr" (I, 278).26 Der Traum endet dann allerdings nicht mit dem Tod der beiden, sondern mit ihrem Wiedererwachen an einem anderen Ort. Damit verdeutlicht III, dass nun ein Handlungsfaden abgeschlossen ist. I und III begrenzen aber nicht nur, sie verbinden auch. I verweist auf den vor der Erzählzeit liegenden Besuch des Fremden, der die Handlung durch seine Erzählungen von der blauen Blume in Gang setzt; III verbindet den ersten mit dem zweiten Romanteil. Der Tod Mathildes wird im ersten Romanteil nämlich nicht geschildert, er ergibt sich aber aus III und den Ereignissen zu Beginn des zweiten Romanteils. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Funktion, die nur die Träume übernehmen können. Klingsohrs Märchen steht am Ende des ersten Romanteils und erfüllt damit eine ähnliche Funktion, denn es deutet auf die Rückkehr der Poesie voraus.

Eine weitere Funktion der Träume ist der Transport eines Subtextes, den der Leser entschlüsseln kann. Dessen Aussagekraft ist dabei sehr unterschiedlich. Ich erläutere dies an zwei Beispielen: Ein einfach aufzulösendes Symbol ist die Barke, in der sich Mathilde im dritten Traum befindet. Es handelt sich um eine Analogie zu Charons Totenbarke. Bestätigt wird dies durch die Tatsache, dass Mathilde sowohl im Traum, als auch – etwas später – in der Wachwelt stirbt. Dieses Symbol kann jeder Leser auflösen, der ein wenig mit der antiken Mythologie vertraut ist. Problematischer zu deuten ist das bekannte Symbol der blauen Blume. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Symbole auch auf die idealistische Naturphilosophie referieren. Johann Gottlieb Fichte ging in seiner Wissenschaftslehre von einem grundlegenden Gegensatz zwischen einem absoluten Ich und einem Nicht-Ich aus. Novalis setzte sich in seinen Fichte-Studien intensiv damit auseinander und entwickelte einen eigenen Ansatz: »Gegen Fichtes absolutes Ich, das Subjekt, dem alles andere zum bloßen Nicht-Ich wird, setzt Novalis: 'Statt N[icht] I[ch] – Du' (HKA III, 430: 820). Ein solches Subjekt-Objekt-Verhältnis aber kann als Liebe gedacht werden, und damit öffnet sich der Weg für eine Rezeption und Integration vorkantischer Philosophien und religiöser Überzeugungen« (Uerlings 63) so Herbert Uerlings zu Novalis’ individueller Weiterentwicklung von Fichte. Eben diesen gedanklichen Prozess hat Novalis nun in der Transformation der Blume zur Frau versteckt: "Die blaue Blume, die als Pflanze in der Symbolsprache der Naturphilosophie auf einen Zustand bewußtloser Natureinheit verweist, ist also Inbegriff des Nicht-Ich, das sich in seiner Metamorphose zur Frau vom entfremdeten Objekt zum liebenden und geliebten Du zu verwandeln beginnt" (Engel, NW 122). Diese Entschlüsselung kann allerdings nur jemand leisten, der sowohl mit Novalis’ Werk als auch mit den zeitgenössischen Diskursen vertraut ist. Damit verdeutlicht Novalis, was der literarische Traum leisten kann. Er enthält nicht nur, symbolisch verdichtet, die gesamte Romanhandlung in nuce – er kann Aussagen über den literarischen Text hinaus treffen. Auch hier muss jedoch einschränkend darauf verwiesen werden, dass es sich nicht um ein Alleinstellungsmerkmal des Traums handelt. Klingsohrs Märchen enthält ebenfalls einen komplexen Subtext, der grundlegende Aussagen transportiert.

Dass der Traum so wenig individuelle Eigenheiten aufweist, ist Novalis’ Märchenkonzept geschuldet. Diejenige Funktion, welche den Traum noch am ehesten als poetisches Verfahren im Text notwendig macht, ist die Verknüpfung mit der Figur Heinrich. Die Märchen, Sagen und Lieder im Text sind entindividualisiert. So lässt Novalis etwa im zweiten Kapitel die Kaufleute die Sage des Arion von Lesbos erzählen. Der Name wird jedoch nicht genannt. Aus dem Dichter Arion wird ein Dichter, denn die Geschichte, die hier erzählt wird, soll auf die Allgemeingültigkeit der Poesie verweisen. Wie sich durch die Gegenüberstellung von Heinrichs Traum und dem Traum seines Vaters zeigt, bleiben die Träume aber, auch wenn sich die Inhalte ähneln mögen, etwas Individuelles. Dabei geht es allerdings nicht darum, Figuren psychologisch glaubhaft zu machen, sondern lediglich ihren Typus zu bestimmen. So ergibt sich aus Traum II, dass Heinrichs Vater Vertreter einer empiristischen Welthaltung ist und deswegen scheitert, obwohl auch er zum Künstler begabt gewesen wäre. Heinrich hingegen ist noch ein unbeschriebenes Blatt und zur Poesie fähig, allerdings ist auch er nur eine mögliche Figur, die ein goldenes Zeitalter wiederbringen kann.

Christian Quintes

Ausgaben

Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs [HKA]. Hg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. 2. nach den Hs. erg., erw. und verb. Aufl. in 4 Bdn. und 2 Begl.-Bdn.

Bd. 1: Das dichterische Werk. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel unter Mitarbeit von Heinz Ritter und Gerhard Schulz. Stuttgart 1960. 3., erw. und verb. Aufl. 1977.

Bd. 2: Das philosophische Werk I. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1965. 3., erw. und verb. Aufl. 1981.

Bd. 3: Das philosophische Werk II. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1968. 3., von den Herausgebern durchgesehene und revidierte Aufl. 1983.

Bd. 4: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Hg. von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1975. 2. Aufl. 1998.

Bd. 5: Materialien und Register. Hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Stuttgart 1988.

Bd. 6: Der dichterische Jugendnachlaß (1788–1791) und Stammbucheintragungen (1791–1793). Hg. von Hans-Joachim Mähl in Zusammenarbeit mit Martina Eicheldinger. Bearb. der Stammbücher von Ludwig Rommel. Teilband 1: Text. Stuttgart 1998. Teilband 2: Kommentar. Stuttgart 1999.

Heinrich von Afterdingen. Textkritische Edition. Hg. von Alexander Knopf. Frankfurt a. M., Basel 2015 [zugl. Diss. Heidelberg 2013].


Sekundärliteratur

Engel, Manfred: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1: Anfänge in Klassik und Frühromantik. Transzendentale Geschichten. Stuttgart: Metzler 1993.

Engel, Manfred: Geburt der phantastischen Literatur aus dem Geiste des Traumes? Traum und Phantastik in der romantischen Literatur. [GdpL] In: Christine Lehmann/Jürgen Ivanović/Markus May (Hg.): Phantastik – Kult oder Kultur? Aspekte eines Phäno­mens in Kunst, Literatur und Film. Stuttgart: Metzler 2003, 153-170.

Engel, Manfred: Naturphilosophisches Wissen und romantische Literatur. Am Beispiel von Traumtheorie und Traumdichtung der Romantik. [NW] In: Vollhardt Lutz, Friedrich Danneberg u. a. (Hrsg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2002, 65-91.

Engel, Manfred: »Träumen und Nichtträumen zugleich«. Novalis’ Theorie und Poetik des Traums zwischen Aufklärung und Hochromantik. In: Herbert Uerlings (Hg.): Novalis und die Wissenschaften. Tübingen: Niemeyer 1997, 143-168.

Engel, Manfred: Traumtheorie und literarische Träume im 18. Jahrhundert. Eine Fallstu­die zum Verhältnis von Wissen und Literatur. In: Scientia Poetica 2 (1998), 97-128.

Knopf, Alexander: „Begeisterung der Sprache“. Poesie und Poetik in Novalis’ Heinrich von Afterdingen. Frankfurt/M., Basel 2015 [zugl. Diss.
Heidelberg 2013].

Leiteritz, Christiane: Zur poetischen Funktion des Traums bei Coleridge, Novalis und Nodier. In: Peter-André Alt/Christiane Leiteritz (Hg.): Traum-Diskurse der Ro­mantik. Berlin: de Gruyter 2005, 148-175.

Leroy, Roy: Der Traumbegriff des Novalis. In: Revue des langues vivantes 29 (1963), 232-237 u. 30 (1964), 26-34.

Mahoney, Dennis F.: The Myth of Death and Resurrection in Heinrich von Ofterdingen. In: Wolfgang Mieder (Hg.): From Goethe to Novalis. Studies in Classicism and Ro­manticism. Festschrift for Dennis F. Mahoney in Celebration of his sixty-fifth Birth­day. New York: Lang 2015, 203-214.

Quintes, Christian: Traumtheorien und Traumpoetiken der deutschen Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019.

Stadler, Ulrich: Der Traum bei Friedrich von Hardenberg (Novalis). In: Urs Viktor Kam­ber (Hg.): Farbige Träume aus durchsichtigen Gedanken. Jean Paul Romantik-Sym­posium 1994 in Mariastein. Solothurn: Zentralbibliothek 1996, 127-135.

Uerlings, Herbert: Novalis (Friedrich von Hardenberg). Stuttgart: Reclam 1998.

Weblinks

Biographie Novalis’

Werkgeschichte

Internationale Novalis-Bibliographie

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