"Il cardillo addolorato" (Anna Maria Ortese): Unterschied zwischen den Versionen

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Der 1993 veröffentlichte Roman ''Il cardillo addolorato'' (''Die Klage des Distelfinken'', wörtlich „Der untröstliche Distelfink") von Anna Maria Ortese (1914-1998) ist ein "phantastisch-historischer Roman“ (Brunner 2009, 8) mit vier wegweisenden Träumen oder Traumvisionen. Die Autorin gesteht: "Scivolo sul ghiaccio dell’invenzione e cado dove non c’è più invenzione" ("Ich gleite über das Eis der Erfindung und falle, wo die Erfindung aufhört"; Clerici 2002, 584). Ihre im fortgeschrittenen Alter entstandenen Werke seien alle als moderne Märchen zu verstehen, deren Hauptfiguren auch als Erwachsene noch "Kindsköpfe" seien, weil sie den Gefahren und der Sterilität der herrschenden Sitten trotzten, zu Scherzen aufgelegt seien und das Spiel der unbegrenzten Möglichkeiten ausreizten, darin ihr als Autorin durchaus ähnlich, so verteidigt eine übermütige A. M. Ortese ihre besonders fruchtbare Schaffensperiode in den Siebziger und Achtziger Jahren (Clerici 2002, 585). Sie bezieht sich mit dieser Aussage auf eine Reihe von Manuskripten, darunter die zwei Romane ihrer späteren Jahre "Alonso e i visionari" und "Il cardillo addolorato". Noch ein weiteres Zitat bietet einen sicheren Zugang zu Orteses Verständnis vom "magischen Realismus": "L’ovvio, il comune, il parlato, il comprensibile mi sembrano cose sempre più prive di vita, come le mode, e vorrei perciò scrivere in modo antico o antichissimo, proprio per raggiungere un accento di verità (e anche attualità)" ("Alles Banale, Gewöhnliche, Dahergeredete, Selbstverständliche erscheint mir immer mehr als etwas Lebensfremdes, wie die Moden, und darum möchte ich auf eine veraltete Art schreiben, so veraltet wie möglich, um einen Hauch von Wahrheit zu erzeugen (und auch von Aktualität)"; Clerici 2002, 586).
Der 1993 veröffentlichte Roman ''Il cardillo addolorato'' (''Die Klage des Distelfinken'', wörtlich „Der untröstliche Distelfink") von Anna Maria Ortese (1914-1998) ist ein "phantastisch-historischer Roman“ (Brunner 2009, 8) mit vier wegweisenden Träumen oder Traumvisionen. Die Autorin gesteht: "Scivolo sul ghiaccio dell’invenzione e cado dove non c’è più invenzione" ("Ich gleite über das Eis der Erfindung und falle, wo die Erfindung aufhört"; Clerici 2002, 584). Ihre im fortgeschrittenen Alter entstandenen Werke seien alle als moderne Märchen zu verstehen, deren Hauptfiguren auch als Erwachsene noch "Kindsköpfe" seien, weil sie den Gefahren und der Sterilität der herrschenden Sitten trotzten, zu Scherzen aufgelegt seien und das Spiel der unbegrenzten Möglichkeiten ausreizten, darin ihr als Autorin durchaus ähnlich - so verteidigt eine übermütige A.M. Ortese ihre besonders fruchtbare Schaffensperiode in den 1970er und 1980er Jahren (Clerici 2002, 585). Sie bezieht sich mit dieser Aussage auf eine Reihe von Manuskripten, darunter die zwei Romane ihrer späteren Jahre "Alonso e i visionari" (1996) und "Il cardillo addolorato". Noch ein weiteres Zitat bietet einen Zugang zu Orteses Verständnis vom "magischen Realismus": "L’ovvio, il comune, il parlato, il comprensibile mi sembrano cose sempre più prive di vita, come le mode, e vorrei perciò scrivere in modo antico o antichissimo, proprio per raggiungere un accento di verità (e anche attualità)" ("Alles Banale, Gewöhnliche, Dahergeredete, Selbstverständliche erscheint mir immer mehr als etwas Lebensfremdes, wie die Moden, und darum möchte ich auf eine veraltete Art schreiben, so veraltet wie möglich, um einen Hauch von Wahrheit zu erzeugen (und auch von Aktualität)"; Clerici 2002, 586).




==Zur Autorin==
==Zur Autorin==
Anna Maria Ortese ist eine der wichtigen, allerdings lange Zeit verkannten italienischen Autorinnen des Novecento. Sie ist 1914 in Rom geboren und in Neapel aufgewachsen. Noch ein halbes Kind, verweigerte sie mit vierzehn Jahren die Schule, weil sie dort nichts lerne. "Io ho avuto il vantaggio di una famiglia che mi lasciava libera di camminare e di leggere: sono state queste due possibilità a formarmi" ("Ich hatte den Vorteil, eine Familie zu haben, die mir die Freiheit ließ, umherzugehen und zu lesen: Darin bestand meine Bildung"; Clerici 2002, 62). In der Folgezeit begann sie – als Autodidaktin – zu schreiben. Ausgestattet mit einem Hang zu Isolation und Selbstaufopferung – oft saß sie um drei Uhr nachts am Schreibtisch – sowie mit einer großen Eigenwilligkeit, experimentierte A.M. Ortese viel mit der italienischen Sprache. Dabei feilte sie so lange an jedem ihrer Sätze, bis er ihren hohen poetischen Anforderungen entsprach. Niemals ordnete sie sich einer gerade gängigen literarischen Mode unter. Erste Bekanntheit erlangte sie 1953 mit dem Erzählband ''Il mare non bagna Napoli'' (''Neapel liegt nicht am Meer''). Eine Erzählung daraus erregte unter den von ihr namentlich zitierten Intellektuellen eine so heftige Polemik, dass sie Neapel schließlich verließ. Seitdem fühlte sie sich weder im privaten Leben noch im Kulturbetrieb zu Hause, obwohl sie weiterhin viele literarische Werke produzierte. A. M. Ortese blieb ihrer Heimatstadt stets in schmerzvoller Liebe verbunden. In einem Interview gestand sie, sie habe es beim Schreiben von ''Il cardillo addolorato'' als Glück empfunden, in eine Welt zurückzukehren, an der sie mit ganzer Seele hängt: Neapel.  Diesem Roman gebührt der Ruhm als „erfolgreichstem Werk ihrer letzten Schaffensphase“ (Brunner 2009, 184). Ein Jahr vor ihrem Tod 1998 schrieb sie einer Freundin: "Vorrei dirLe tante più cose. Di quelle che si pensano di notte e sono molte luminose, però sfuggono subito. Al risveglio, non c’è nulla" ("Gern würde ich Ihnen noch viel mehr sagen. Von Nachtgedanken, die sehr einleuchtend sind, aber auch sofort wieder verschwinden. Beim Aufwachen ist alles weg"); Clerici 2002, 639). A. M. Ortese starb mit 84 Jahren in Rapallo in Ligurien, ihrer Wahlheimat für lange zwanzig Jahre.
Anna Maria Ortese ist eine der wichtigen, allerdings lange Zeit verkannten italienischen Autorinnen des Novecento. Sie ist 1914 in Rom geboren und in Neapel aufgewachsen. Noch ein halbes Kind, verweigerte sie mit vierzehn Jahren die Schule, weil sie dort nichts lerne. "Io ho avuto il vantaggio di una famiglia che mi lasciava libera di camminare e di leggere: sono state queste due possibilità a formarmi" ("Ich hatte den Vorteil, eine Familie zu haben, die mir die Freiheit ließ, umherzugehen und zu lesen: Darin bestand meine Bildung"; Clerici 2002, 62). In der Folgezeit begann sie – als Autodidaktin – zu schreiben. Ausgestattet mit einem Hang zu Isolation und Selbstaufopferung – oft saß sie um drei Uhr nachts am Schreibtisch – sowie mit einer großen Eigenwilligkeit, experimentierte Ortese viel mit der italienischen Sprache. Dabei feilte sie so lange an jedem ihrer Sätze, bis er ihren hohen poetischen Anforderungen entsprach. Niemals ordnete sie sich einer gerade gängigen literarischen Mode unter. Erste Bekanntheit erlangte sie 1953 mit dem Erzählband ''Il mare non bagna Napoli'' (''Neapel liegt nicht am Meer''). Eine Erzählung daraus erregte unter den von ihr namentlich zitierten Intellektuellen eine so heftige Polemik, dass sie Neapel schließlich verließ. Seitdem fühlte sie sich weder im privaten Leben noch im Kulturbetrieb zu Hause, obwohl sie weiterhin viele literarische Werke produzierte. Ortese blieb ihrer Heimatstadt stets in schmerzvoller Liebe verbunden. In einem Interview gestand sie, sie habe es beim Schreiben von ''Il cardillo addolorato'' als Glück empfunden, in eine Welt zurückzukehren, an der sie mit ganzer Seele hängt: Neapel.  Diesem Roman gebührt der Ruhm, das „erfolgreichste Werk ihrer letzten Schaffensphase“ zu sein (Brunner 2009, 184). Ein Jahr vor ihrem Tod 1998 schrieb sie einer Freundin: "Vorrei dirLe tante più cose. Di quelle che si pensano di notte e sono molte luminose, però sfuggono subito. Al risveglio, non c’è nulla" ("Gern würde ich Ihnen noch viel mehr sagen. Von Nachtgedanken, die sehr einleuchtend sind, aber auch sofort wieder verschwinden. Beim Aufwachen ist alles weg"; Clerici 2002, 639). Ortese starb mit 84 Jahren in Rapallo in Ligurien, ihrer Wahlheimat für zwanzig lange Jahre.




==Entstehungskontext==
==Entstehungskontext==
Zusammen mit ihren großen Romanen ''L’Iguana'' (''Iguana: ein romantisches Märchen''), ''Il porto di Toledo'' (''Der Hafen von Toledo'') und ''Alonso e i visionari'' (####) erschuf A. M. Ortese auch in ''Il cardillo addolorato'' ungewöhnliche und fast magische Figuren, Dialoge und Handlungen, die die Schwerelosigkeit eines fliegenden Teppichs haben, mit dem Ziel, etwas Wahres zu verfassen - und da die Wahrheit ihrer Ansicht nach der einzige Weg war, Probleme zu lösen, auch einen Akutalitätsbezug herzustellen (Brunner 2009, 160). Nach Ansicht des Literaturkritikers und Essayisten Goffredo Fofi hat A. M. Ortese "mit ihren beiden letzten Romanen [dem ''Distelfinken'' und ''Alonso''] ihre wahre Dimension erreicht und sich unter den größten Schriftstellerinnen dieses Jahrhunderts einen Platz gesichert". "In essi si perfeziona, trovando una liberissima misura narrativa dentro la metamorfosi e il movimento, dentro il cambiamento ingannevole delle apparenze e delle sostanze, l’acquisizione di una sempre più profonda verità essenzialmente religiosa " ("In ihnen zeigt sich immer deutlicher, indem sie in der Verwandlung und Bewegung, im trügerischen Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Täuschung ihren ganz eigenen Erzählstil findet, die Errungenschaft einer immer tieferen, im Wesentlichen religiösen Wahrheit"; Fofi 1999, 283 f.).
Zusammen mit ihren großen Romanen ''L’Iguana'' (''Iguana. Ein romantisches Märchen'', 1965), ''Il porto di Toledo'' (''Der Hafen von Toledo'', 1975) und ''Alonso e i visionari'' (Alsonso und die Seher, 1996) erschuf A. M. Ortese auch in ''Il cardillo addolorato'' ungewöhnliche und fast magische Figuren, Dialoge und Handlungen, die die Schwerelosigkeit eines fliegenden Teppichs haben, mit dem Ziel, etwas Wahres zu verfassen - und da die Wahrheit ihrer Ansicht nach der einzige Weg ist, Probleme zu lösen, auch einen Akutalitätsbezug herzustellen (Brunner 2009, 160). Nach Ansicht des Literaturkritikers und Essayisten Goffredo Fofi hat Ortese sich mit ihren beiden letzten Romanen, dem ''Distelfinken'' und ''Alonso'', ihren Platz unter den größten Schriftstellerinnen dieses Jahrhunderts: "In essi si perfeziona, trovando una liberissima misura narrativa dentro la metamorfosi e il movimento, dentro il cambiamento ingannevole delle apparenze e delle sostanze, l’acquisizione di una sempre più profonda verità essenzialmente religiosa " ("In ihnen zeigt sich immer deutlicher, indem sie in der Verwandlung und Bewegung, im trügerischen Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Täuschung ihren ganz eigenen Erzählstil findet, die Errungenschaft einer immer tieferen, im Wesentlichen religiösen Wahrheit"; Fofi 1999, 283 f.).




==Vier Träume bzw. Traumvisionen im Roman Il cardillo addolorato==
==Vier Träume bzw. Traumvisionen in ''Il cardillo addolorato''==


===Gedanken sind Träume, und Träume sind Eingebungen (1.Traum)===
===Gedanken sind Träume, und Träume sind Eingebungen (1.Traum)===
"Immer wenn es sich um Elmina drehte, träumte er. Und wenn er träumte, war er unberechenbar." Dieser Satz steht exakt in der Mitte des 415 Seiten langen Romans ''Il cardillo addolorato'' (Ortese 1993: 209). Er ist eigentlich nur auf einen Mann gemünzt – den launenhaften und auch rachsüchtigen, aber im Grunde keineswegs böswilligen Prinz Ingmar Neville. Doch der Roman beginnt, dass nicht er, sondern ein anderer von Elmina träumt und sich zu einer vorschnellen und unvorsichtigen Handlung hinreißen lässt.  
"Immer wenn es sich um Elmina drehte, träumte er. Und wenn er träumte, war er unberechenbar" Dieser Satz steht exakt in der Mitte des 415 Seiten langen Romans (KS 209). Er ist eigentlich nur auf einen Mann gemünzt – den launenhaften und auch rachsüchtigen, aber im Grunde keineswegs böswilligen Prinz Ingmar Neville. Doch der Roman beginnt damit, dass nicht der Prinz, sondern ein anderer von Elmina träumt und sich zu einer vorschnellen und unvorsichtigen Handlung hinreißen lässt.  
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: <span style="color: #7b879e;>Bellerophon wachte aus einem wunderbaren Traum auf. Elmina lag in seinen Armen, auf ihrem Antlitz der Abglanz tiefen Glücks und bräutlicher Demut. Tränen, rührend wie wahre Liebesbriefe, gaben ihren Goldaugen einen weichen Ausdruck, sie schaute mit Zuversicht in eine strahlende Zukunft. Hinter ihr stand die kleine Teresa mit einem Weidenkäfig in der Hand. In dem Käfig saß ein Vogel, der am Vortag gestorbene Distelfink. Er war vom Tode auferstanden und lebte, das Böse auf Erden war nichts als ein Traum. Mit ihrem hübschen Gesicht nah am Käfig und mit schelmischem Blick auf die beiden Verliebten spitzte Teresa ihre Lippen zum Kuss, und der Distelfink näherte sich ihr zutraulich mit zwei Hüpfern. "Er lebt! Das Böse ist ein Trugschluss! Der Tod eine Lüge, und Elmina liebt mich!", jubelte der Künstler. Er erblickte hinter dem Käfig einen großen rosigen Schein. Es war die aufgehende Sonne! Und die frühe Morgensonne, die durch den zum Meer hin offenen Balkon hereinschien, weckte ihn. Noch traumverfangen freute sich Albert, kaum war er wach, über den offen auf dem Tisch liegenden Brief, den die ersten Sonnenstrahlen streiften, und beschloss, ihn auf der Stelle, ohne ihn noch einmal zu lesen, zum Haus des Handschuhmachers zu bringen. (Ortese 1993, 33 f., übers. von S.K.)</span>
: <span style="color: #7b879e;>Bellerophon wachte aus einem wunderbaren Traum auf. Elmina lag in seinen Armen, auf ihrem Antlitz der Abglanz tiefen Glücks und bräutlicher Demut. Tränen, rührend wie wahre Liebesbriefe, gaben ihren Goldaugen einen weichen Ausdruck, sie schaute mit Zuversicht in eine strahlende Zukunft. Hinter ihr stand die kleine Teresa mit einem Weidenkäfig in der Hand. In dem Käfig saß ein Vogel, der am Vortag gestorbene Distelfink. Er war vom Tode auferstanden und lebte, das Böse auf Erden war nichts als ein Traum. Mit ihrem hübschen Gesicht nah am Käfig und mit schelmischem Blick auf die beiden Verliebten spitzte Teresa ihre Lippen zum Kuss, und der Distelfink näherte sich ihr zutraulich mit zwei Hüpfern. "Er lebt! Das Böse ist ein Trugschluss! Der Tod eine Lüge, und Elmina liebt mich!", jubelte der Künstler. Er erblickte hinter dem Käfig einen großen rosigen Schein. Es war die aufgehende Sonne! Und die frühe Morgensonne, die durch den zum Meer hin offenen Balkon hereinschien, weckte ihn. Noch traumverfangen freute sich Albert, kaum war er wach, über den offen auf dem Tisch liegenden Brief, den die ersten Sonnenstrahlen streiften, und beschloss, ihn auf der Stelle, ohne ihn noch einmal zu lesen, zum Haus des Handschuhmachers zu bringen (KS 33 f.)</span>
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: <span style="color: #7b879e;>Albert [...] war der Stern des apollinischen Wagens, der aus diesen drei jungen Reisenden bestand, er war der wahre Bellerophon der Gruppe; und als der Wagen losfuhr, beflügelt vom feurigen Pegasos – d.h. der europäischen Romantik –, überquerte man in Windeseile erst das von den Jakobinern schon viel weniger überlaufene Frankreich, dann die im Azur schwimmenden Alpen; anschließend fuhr man in euphorischer Stimmung das himmelblaue Italien runter und immer weiter runter, um endlich nach einem gewagten Sprung durch den rosafarbenen Feuerreifen der ersten mediterranen Morgenröte in Neapel zu landen;  Neville will sich später daran erinnern können, dass bei ihrer Ankunft viele kleine Wellen hinter den Felsbrocken hervorgelugt hätten, oder dass noch andere luftgeborene Wesen des Frühlings die grünen Türen der am durchsichtigen Meer liegenden Fischerhütten, in deren Nähe das Haus von don Mariano Civile stand, einen Spalt weit geöffnet hätten, um lachend nach ihnen Ausschau zu halten… Don Mariano wohnte bekannterweise hier; und genau hier, wo er seine prachtvolle, mit dorischen Säulen geschmückte Villa wie eine Chimäre oder einen Traum angrenzend an das farbige und einfältige Fischerdorf mit seinen Fischernetzen und Fischerbooten errichtet hatte, war er in jungen Jahren zu viel Berühmtheit, vielen Kindern und einem unglaublichen Reichtum und Wohlstand gekommen, von dem man in Neapel und Umgebung nur so schwärmte [...] (Ortese 1993, 17 f., übers. von S.K.).</span>
: <span style="color: #7b879e;>Albert [...] war der Stern des apollinischen Wagens, der aus diesen drei jungen Reisenden bestand, er war der wahre Bellerophon der Gruppe; und als der Wagen losfuhr, beflügelt vom feurigen Pegasos – d.h. der europäischen Romantik –, überquerte man in Windeseile erst das von den Jakobinern schon viel weniger überlaufene Frankreich, dann die im Azur schwimmenden Alpen; anschließend fuhr man in euphorischer Stimmung das himmelblaue Italien runter und immer weiter runter, um endlich nach einem gewagten Sprung durch den rosafarbenen Feuerreifen der ersten mediterranen Morgenröte in Neapel zu landen;  Neville will sich später daran erinnern können, dass bei ihrer Ankunft viele kleine Wellen hinter den Felsbrocken hervorgelugt hätten, oder dass noch andere luftgeborene Wesen des Frühlings die grünen Türen der am durchsichtigen Meer liegenden Fischerhütten, in deren Nähe das Haus von don Mariano Civile stand, einen Spalt weit geöffnet hätten, um lachend nach ihnen Ausschau zu halten… Don Mariano wohnte bekannterweise hier; und genau hier, wo er seine prachtvolle, mit dorischen Säulen geschmückte Villa wie eine Chimäre oder einen Traum angrenzend an das farbige und einfältige Fischerdorf mit seinen Fischernetzen und Fischerbooten errichtet hatte, war er in jungen Jahren zu viel Berühmtheit, vielen Kindern und einem unglaublichen Reichtum und Wohlstand gekommen, von dem man in Neapel und Umgebung nur so schwärmte (KS 17 f.).</span>
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'''Nachher'''
'''Nachher'''
Gleich am frühen Morgen berichtet Albert Dupré dem Prinzen Ingmar Neville vertrauensselig von seinem Traum und was dieser ausgelöst habe. Er gibt zu, sich noch am selben Abend ihrer Ankunft in das Mädchen Elmina verliebt zu haben und bereits bei Sonnenaufgang einen Brief zum Haus des Handschuhmachers gebracht zu haben: Darin bittet er Herrn Mariano Civile um die Hand seiner Tochter. Der Prinz ist eifersüchtig - besonders auf Duprés Traum. Und er traut dem Glück nicht, das dem jungen Künstler den Verstand zu rauben scheint. Elmina kann aus dem Fenster beobachten, wie sich Neville kurzentschlossen den Brief wieder aushändigen lässt und damit den Heiratsantrag aus der Welt schafft. Seitdem ist sie ihm feindlich gesinnt.
Schon am frühen Morgen berichtet Albert Dupré dem Prinzen Ingmar Neville vertrauensselig von seinem Traum und was dieser ausgelöst habe. Er gibt zu, sich noch am Abend ihrer Ankunft in das Mädchen Elmina verliebt und bereits bei Sonnenaufgang einen Brief zum Haus des Handschuhmachers gebracht zu haben: Darin bat er Herrn Mariano Civile um die Hand seiner Tochter. Der Prinz ist eifersüchtig - besonders auf Duprés Traum. Und er traut dem Glück nicht, das dem jungen Künstler den Verstand zu rauben scheint. Elmina kann aus dem Fenster beobachten, wie sich Neville kurzentschlossen den Brief wieder aushändigen lässt und damit den Heiratsantrag aus der Welt schafft. Seitdem ist sie ihm feindlich gesinnt.




===Von Trotz und Träumen (2. Traum)===
===Von Trotz und Träumen (2. Traum)===
"Solo sogni e dispetti" (Nur Träume und Trotzreaktionen): A. M. Ortese verbindet diese beiden Begriffe, um das Verhalten von "principi e fanciulli" (Prinzen und Kindern) zu beschreiben. Sie seien die „ammanettati dal Sogno“ (mit Handschellen vom Traum Gefesselten) – und sie laufen Gefahr, sich selbst und anderen zu schaden.  
"Solo sogni e dispetti" (Nur Träume und Trotzreaktionen; KD ###): Ortese verbindet diese beiden Begriffe, um das Verhalten von "principi e fanciulli" (Prinzen und Kindern; KD ###) zu beschreiben. Sie seien die „ammanettati dal Sogno“ (mit Handschellen vom Traum Gefesselten; KS ###) – und sie liefen Gefahr, sich selbst und anderen zu schaden.  


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: <span style="color: #7b879e;>Neville ging nicht sofort schlafen. Er stand noch eine gute Stunde lang auf dem Balkon und lauschte den Geräuschen der zartblauen, zwar bewölkten, aber doch immer blauen Nacht über Neapel. Ihn ärgerte der glückliche Singsang Nodiers hinter der Wand. Der war bestimmt in Gedanken bei Teresella. Ingmar aber war die Lust auf jede Art von Kritik vergangen. Er ging hinein und schlief endlich ein, wobei er von einem gewissen Poussin träumte, der zu ihm wollte, "um sich Geld zu leihen", dem er aber ins Gesicht sagen ließ, "er solle ein andermal wiederkommen, dafür sei ihm seine Zeit wirklich zu schade". Einfach so, ohne ein schlechtes Gewissen. Doch so sind nun mal unsere Träume: Da verliert oder vergisst man schnell seine gute Erziehung, deren einziges Ziel es ist, dass man sich der Welt anpasst. Ihrerseits aber zeigt sich diese Welt gerade Prinzen und Kindern gegenüber kein bisschen aufgeschlossen, sondern unnachsichtig und gehässig und begegnet allen im Traum Gefangenen mit Spottlust und Drohgebärden. In den frühen Morgenstunden kann man sie übrigens nach einer durchwachten Nacht vorbeilaufen sehen, die mit Handschellen vom Traum Gefesselten, eine Ahnung von Sonnenaufgang in den Augen, ihre Schritte hallen in den leeren Straßen wider. (Ortese 1993, 335, übers. von S.K.)</span>
: <span style="color: #7b879e;>Neville ging nicht sofort schlafen. Er stand noch eine gute Stunde lang auf dem Balkon und lauschte den Geräuschen der zartblauen, zwar bewölkten, aber doch immer blauen Nacht über Neapel. Ihn ärgerte der glückliche Singsang Nodiers hinter der Wand. Der war bestimmt in Gedanken bei Teresella. Ingmar aber war die Lust auf jede Art von Kritik vergangen. Er ging hinein und schlief endlich ein, wobei er von einem gewissen Poussin träumte, der zu ihm wollte, "um sich Geld zu leihen", dem er aber ins Gesicht sagen ließ, "er solle ein andermal wiederkommen, dafür sei ihm seine Zeit wirklich zu schade". Einfach so, ohne ein schlechtes Gewissen. Doch so sind nun mal unsere Träume: Da verliert oder vergisst man schnell seine gute Erziehung, deren einziges Ziel es ist, dass man sich der Welt anpasst. Ihrerseits aber zeigt sich diese Welt gerade Prinzen und Kindern gegenüber kein bisschen aufgeschlossen, sondern unnachsichtig und gehässig und begegnet allen im Traum Gefangenen mit Spottlust und Drohgebärden. In den frühen Morgenstunden kann man sie übrigens nach einer durchwachten Nacht vorbeilaufen sehen, die mit Handschellen vom Traum Gefesselten, eine Ahnung von Sonnenaufgang in den Augen, ihre Schritte hallen in den leeren Straßen wider (KD 335).</span>
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A. M. Ortese hat bei der Charakterisierung der Figur des Prinzen, indem sie das Bild der im Morgengrauen in Handschellen durch die Straßen abgeführten Menschengruppe zeichnet, ausdrücklich die politischen Häftlinge des beginnenden 19. Jahrhunderts - der Roman spielt in jener Epoche - vor Augen. Sie waren jung und unverbesserlich, und kein Verbot oder Gefängnis, keine Folter oder sogar Todesstrafe konnte sie abschrecken. Durch ihren Trotz und ihre Träume unterscheidet sich diese Art von Menschen einerseits von den Freien, die wie der Kaufmann Nodier niemals gegen den eigenen Vorteil handeln würden. Doch liegen auch Welten zwischen ihnen und den Abhängigen, die sich wie der Künstler Albert Dupré zum eigenen Leidwesen oder aus Bequemlichkeit zeitlebens anderen unterordnen.
Ortese hat bei der Charakterisierung der Figur des Prinzen ausdrücklich die politischen Häftlinge des beginnenden 19. Jahrhunderts - der Roman spielt in jener Epoche - vor Augen, wenn sie das Bild der im Morgengrauen in Handschellen durch die Straßen abgeführten Menschengruppe zeichnet. Sie waren jung und unverbesserlich, und kein Verbot oder Gefängnis, keine Folter oder sogar Todesstrafe konnte sie abschrecken. Durch ihren Trotz und ihre Träume unterscheidet sich diese Art von Menschen einerseits von den Freien, die wie der Kaufmann Nodier niemals gegen den eigenen Vorteil handeln würden. Doch liegen auch Welten zwischen ihnen und den Abhängigen, die sich wie der Künstler Albert Dupré zum eigenen Leidwesen oder aus Bequemlichkeit zeitlebens anderen unterordnen.


===Ein wenig mehr Licht (3.Traum)===
===Ein wenig mehr Licht (3.Traum)===
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===Ausgaben===
===Ausgaben===
* Ortese, Anna Maria: ''Il cardillo addolorato''. Milano: Adelphi 1993.
* Ortese, Anna Maria: ''Il cardillo addolorato''. Milano: Adelphi 1993; zitiert als KD in der Übersetzung von S. Kunzemann.
* Ortese, Anna Maria: Die Klage des Distelfinken. Übers. von Sigrid Vagt. München: Hanser 1995.
* Ortese, Anna Maria: Die Klage des Distelfinken. Übers. von Sigrid Vagt. München: Hanser 1995.