"Immer noch Sturm" (Peter Handke): Unterschied zwischen den Versionen

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''Immer noch Sturm ''ist ein im Jahr 2010 erschienenes TheaterstĂŒck von Peter Handke (*1946), in dem ein Traum sowohl erzĂ€hlt als auch gleichzeitig gespielt wird. Das StĂŒck handelt von einer im Traum stattfindenden Begegnung eines ‚Ich‘ mit seinen bereits verstorbenen Vorfahren und ist thematisch eng verknĂŒpft mit der Geschichte KĂ€rntens und dem Widerstand der KĂ€rntner Slowenen wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs. Die UrauffĂŒhrung fand im August 2011 im Rahmen der Salzburger Festspiele als Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg auf der Perner Insel in Hallein statt. Regie fĂŒhrte Dimiter Gotscheff.
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''Immer noch Sturm ''ist ein im Jahr 2010 erschienenes TheaterstĂŒck von Peter Handke (*1942), in dem ein Traum sowohl erzĂ€hlt als auch gleichzeitig gespielt wird. Das StĂŒck handelt von einer im Traum stattfindenden Begegnung eines ‚Ich‘ mit seinen bereits verstorbenen Vorfahren und ist thematisch eng verknĂŒpft mit der Geschichte KĂ€rntens und dem Widerstand der KĂ€rntner Slowenen wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs. Die UrauffĂŒhrung fand im August 2011 im Rahmen der Salzburger Festspiele als Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg auf der Perner Insel in Hallein statt. Regie fĂŒhrte Dimiter Gotscheff.
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==Autor==
 
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Der österreichische Schriftsteller Peter Handke wurde am 6. Dezember 1949 in Griffen (KĂ€rnten) geboren. Sein umfangreiches literarisches Werk umfasst sowohl ErzĂ€hl- als auch Theatertexte, aber auch Lyrik, Hörspiele sowie DrehbĂŒcher DarĂŒber hinaus ist er auch als Übersetzter tĂ€tig. In Handkes gesamten Werk ist der Traum ein wichtiges und wiederkehrendes Moment, sowohl in seinen Texten in Form von TraumerzĂ€hlungen oder Traumsequenzen als auch als Inspirationsquelle fĂŒr Texte. Diese NĂ€he zum Traum wurde in der Forschung bislang noch nicht tiefergehend untersucht. Handke selbst misst dem Traum fĂŒr die Literatur generell, vor allem aber auch fĂŒr sein eigenes Schreiben eine große Bedeutung bei: „Und natĂŒrlich spielen TrĂ€ume eine Rolle. Die TrĂ€ume sind ja verschwunden aus der Literatur, dabei sind sie ihr Ursprung. Bei den meisten Schriftstellern sehe ich keinen Traum mehr. Ich komme aus dem Traum.“ (Greiner / Handke 2006) Mit Blick auf seine TheaterstĂŒcke spricht er davon, dass das Traumspiel „immer mit dabeisein [muß]“ (Handke / Oberender 2014, 124).
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Der österreichische Schriftsteller Peter Handke wurde am 6. Dezember 1942 in Griffen (KĂ€rnten) geboren. Sein umfangreiches literarisches Werk umfasst sowohl ErzĂ€hl- als auch Theatertexte, aber auch Lyrik, Hörspiele sowie DrehbĂŒcher. DarĂŒber hinaus ist er auch als Übersetzer tĂ€tig. In Handkes Werk ist der Traum ein wichtiges und wiederkehrendes Moment, sowohl in seinen Texten in Form von TraumerzĂ€hlungen oder Traumsequenzen als auch als Inspirationsquelle fĂŒr Texte. Diese NĂ€he zum Traum wurde in der Forschung bislang noch nicht tiefergehend untersucht. Handke selbst misst dem Traum fĂŒr die Literatur generell, vor allem aber auch fĂŒr sein eigenes Schreiben eine große Bedeutung bei: „Und natĂŒrlich spielen TrĂ€ume eine Rolle. Die TrĂ€ume sind ja verschwunden aus der Literatur, dabei sind sie ihr Ursprung. Bei den meisten Schriftstellern sehe ich keinen Traum mehr. Ich komme aus dem Traum“ (Greiner/Handke 2006). Mit Blick auf seine TheaterstĂŒcke spricht er davon, dass das Traumspiel „immer mit dabeisein [muß]“ (Handke/Oberender 2014, 124).
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==Der Traum==
 
==Der Traum==
 
===Beschreibung===
 
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''Immer noch Sturm ''stellt als Ganzes die PrĂ€sentation eines Traumgeschehens dar. Das StĂŒck beginnt mit einer erzĂ€hlerischen Erkundung der entstehenden Traumlandschaft: „Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann. Was ist da zu sehen? Eine Sitzbank, eine eher zeitlose, im Mittelgrund, und daneben oder dahinter oder sonst wo ein Apfelbaum, behĂ€ngt mit etwa 99 Äpfeln, FrĂŒhĂ€pfeln, fast weißen, oder SpĂ€tĂ€pfeln, dunkelroten. Sanft abschĂŒssig erscheint mir diese Heide, heimelig. Wem zeigt sie sich? Wem erscheint sie so? Mir hier, im Augenblick.“ (Handke 2010, 7) WĂ€hrend sich die im Traum herrschende Zeit nicht eindeutig bestimmen lĂ€sst, wird die Heidesteppe im Verlauf des Traumgeschehens noch genauer verortet und als KĂ€rntner Jaunfeld bezeichnet. Dort erscheinen dem trĂ€umenden ErzĂ€hler-‚Ich‘ seine bereits verstorbenen Vorfahren: die Mutter, die Großeltern, die vier Geschwister der Mutter. Die Traumlandschaft und das Auftauchen seiner toten Ahnen im Traum hat das ‚Ich‘ in einem hohen Maße selbst evoziert, wie einer der herbeigetrĂ€umten Vorfahren ausspricht: „Zimmert aus seinem Daher- und DahingetrĂ€umten WeltenrĂ€ume. TrĂ€umt, und bestimmt, daß wir Toten nicht tot sind.“ (Handke 2010, 155) Als ein ‚Ich im Traum‘ kommt das ‚Ich‘ mit seinen Vorfahren auf der Heidesteppe zusammen und erfĂ€hrt von diesen allerhand ĂŒber die Zeit und ihr Schicksal wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs. Berichtet wird von der UnterdrĂŒckung der KĂ€rntner Slowenen durch das NS-Regime, der stĂ€ndigen Bedrohung durch eine mögliche Aussiedlung, dem Verbot, Slowenisch zu sprechen sowie dem Versuch, aktiv, aber dennoch vergeblich, Widerstand gegen die Nationalsozialisten zu leisten. Das ‚Ich‘ erfĂ€hrt außerdem, wie zwei der Geschwister seiner Mutter, Benjamin und Valentin, an der Front ums Leben kommen; wie zwei weitere Geschwister, Ursula und Gregor, sich dem bewaffneten Partisanenkampf anschließen; wie Gregor zum Kommandanten der WiderstandskĂ€mpfer aufsteigt; wie Ursula von denselben zu Tode gefoltert wird; und wie seine Mutter auf der Suche nach seinem Vater ihre Heimat verlĂ€sst. Der Traum endet mit dem erneuten Erscheinen aller Vorfahren zum gemeinsamen Singen einer Weltverdrußpolka und dem Auftritt „jene[r] vielen, [
] die vorher zeitweise im Hintergrund vorbeigezogen waren. Jetzt drĂ€ngen sie nach vorn und wĂŒrfeln uns mir nichts, dir nichts, als gĂ€be es uns gar nicht, auseinander, so daß unsererseits wir bei unserem Abgesang sachte in den Hintergrund geraten, und beim Ausklang des Lieds zwischen und hinter den andern mehr oder weniger verschwunden sein werden, erkenntlich höchstens an den Handzeichen, mit denen wir einander noch zuwinken.“ (Handke 2010,167)
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''Immer noch Sturm ''stellt als Ganzes die PrĂ€sentation eines Traumgeschehens dar. Das StĂŒck beginnt mit einer erzĂ€hlerischen Erkundung der entstehenden Traumlandschaft: „Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann. Was ist da zu sehen? Eine Sitzbank, eine eher zeitlose, im Mittelgrund, und daneben oder dahinter oder sonst wo ein Apfelbaum, behĂ€ngt mit etwa 99 Äpfeln, FrĂŒhĂ€pfeln, fast weißen, oder SpĂ€tĂ€pfeln, dunkelroten. Sanft abschĂŒssig erscheint mir diese Heide, heimelig. Wem zeigt sie sich? Wem erscheint sie so? Mir hier, im Augenblick“ (InS 7). WĂ€hrend sich die im Traum herrschende Zeit nicht eindeutig bestimmen lĂ€sst, wird die Heidesteppe im Verlauf des Traumgeschehens noch genauer verortet und als KĂ€rntner Jaunfeld bezeichnet. Dort erscheinen dem trĂ€umenden ErzĂ€hler-‚Ich‘ seine bereits verstorbenen Vorfahren: die Mutter, die Großeltern, die vier Geschwister der Mutter. Die Traumlandschaft und das Auftauchen seiner toten Ahnen im Traum hat das ‚Ich‘ in einem hohen Maße selbst evoziert, wie einer der herbeigetrĂ€umten Vorfahren ausspricht: „Zimmert aus seinem Daher- und DahingetrĂ€umten WeltenrĂ€ume. TrĂ€umt, und bestimmt, daß wir Toten nicht tot sind“ (InS 155).
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Als ein ‚Ich im Traum‘ kommt das ‚Ich‘ mit seinen Vorfahren auf der Heidesteppe zusammen und erfĂ€hrt von diesen allerhand ĂŒber die Zeit und ihr Schicksal wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs. Berichtet wird von der UnterdrĂŒckung der KĂ€rntner Slowenen durch das NS-Regime, der stĂ€ndigen Bedrohung durch eine mögliche Aussiedlung, dem Verbot, Slowenisch zu sprechen sowie dem Versuch, aktiv, aber dennoch vergeblich, Widerstand gegen die Nationalsozialisten zu leisten. Das ‚Ich‘ erfĂ€hrt außerdem, wie zwei der Geschwister seiner Mutter, Benjamin und Valentin, an der Front ums Leben kommen; wie zwei weitere Geschwister, Ursula und Gregor, sich dem bewaffneten Partisanenkampf anschließen; wie Gregor zum Kommandanten der WiderstandskĂ€mpfer aufsteigt; wie Ursula gefangen genommen und zu Tode gefoltert wird; und wie seine Mutter auf der Suche nach seinem Vater ihre Heimat verlĂ€sst.
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Der Traum endet mit dem erneuten Erscheinen aller Vorfahren zum gemeinsamen Singen einer Weltverdrußpolka und dem Auftritt „jener vielen, [
] die vorher zeitweise im Hintergrund vorbeigezogen waren. Jetzt drĂ€ngen sie nach vorn und wĂŒrfeln uns mir nichts, dir nichts, als gĂ€be es uns gar nicht, auseinander, so daß unsererseits wir bei unserem Abgesang sachte in den Hintergrund geraten, und beim Ausklang des Lieds zwischen und hinter den andern mehr oder weniger verschwunden sein werden, erkenntlich höchstens an den Handzeichen, mit denen wir einander noch zuwinken“ (InS 167).
  
 
===Analyse und Interpretation===
 
===Analyse und Interpretation===
 
Der Traumcharakter des StĂŒcks ist zum einen auf die nur im Traum mögliche Begegnung des ‚Ich‘ mit seinen verstorbenen Vorfahren zurĂŒckzufĂŒhren. Zum anderen kommen beide – der Traumcharakter sowie die traumhafte Begegnung – vor allem durch eine ganze Reihe sogenannter Ko-PrĂ€senzen zustande, die sowohl auf formaler Ebene als auch innerhalb der Traumdiegese bestehen.
 
Der Traumcharakter des StĂŒcks ist zum einen auf die nur im Traum mögliche Begegnung des ‚Ich‘ mit seinen verstorbenen Vorfahren zurĂŒckzufĂŒhren. Zum anderen kommen beide – der Traumcharakter sowie die traumhafte Begegnung – vor allem durch eine ganze Reihe sogenannter Ko-PrĂ€senzen zustande, die sowohl auf formaler Ebene als auch innerhalb der Traumdiegese bestehen.
  
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Die Vermittlung des Traumgeschehens betreffend, zeichnet sich das StĂŒck auf formaler Ebene durch die Ko-PrĂ€senz eines dramatischen und eines narrativen Darstellungsmodus aus. Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich besonders deutlich in der ‚Ich‘-Figur, die zum einen als ein ‚Ich im Traum‘, d.h. eine Gestalt im Traum, auftritt und als solches mit seinen Vorfahren auf der Heidesteppe zusammentrifft. Zum anderen ist die ‚Ich‘-Figur aber auch das trĂ€umende ‚Ich‘, das diese Begegnung nicht nur trĂ€umt, sondern seinen Traum auch unmittelbar im Moment des TrĂ€umens erzĂ€hlt. Mit Blick auf die besondere Darstellungsweise des Traums kann mit Thomas Oberender von einer „stĂ€ndige[n] Pendelbewegung von der Betrachtung zur Involviertheit.“ (Handke / Oberender 75) gesprochen werden, d.h. das ‚Ich‘ betrachtet als trĂ€umende ErzĂ€hlinstanz den Traum, in den es gleichzeitig als ein ‚Ich im Traum‘ involviert ist. Sowohl die ‚Ich‘-Figur als auch das StĂŒck selbst bewegen sich daher permanent an bzw. auf der Grenze zwischen ErzĂ€hlen des Traums und Spielen des Traums.
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Die Vermittlung des Traumgeschehens betreffend zeichnet sich das StĂŒck auf formaler Ebene durch die Ko-PrĂ€senz eines dramatischen und eines narrativen Darstellungsmodus aus. Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich besonders deutlich in der ‚Ich‘-Figur, die zum einen als ein ‚Ich im Traum‘, d.h. eine Gestalt im Traum, auftritt und als solches mit seinen Vorfahren auf der Heidesteppe zusammentrifft. Zum anderen ist die ‚Ich‘-Figur aber auch das trĂ€umende ‚Ich‘, das diese Begegnung nicht nur trĂ€umt, sondern seinen Traum auch unmittelbar im Moment des TrĂ€umens erzĂ€hlt. Mit Blick auf die besondere Darstellungsweise des Traums kann mit Thomas Oberender von einer „stĂ€ndigen Pendelbewegung von der Betrachtung zur Involviertheit“ gesprochen werden (Handke/Oberender 2014, 75), d.h. das ‚Ich‘ betrachtet als trĂ€umende ErzĂ€hlinstanz den Traum, in den es gleichzeitig als ein ‚Ich im Traum‘ involviert ist. Sowohl die ‚Ich‘-Figur als auch das StĂŒck selbst bewegen sich daher permanent an bzw. auf der Grenze zwischen ErzĂ€hlen und Spielen des Traums.
  
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Diese Ko-PrĂ€senz des narrativen und des dramatischen Darstellungsmodus ist vor allem hinsichtlich des ErzĂ€hl- bzw. Dargestellt-Werdens des Traums interessant. Üblicherweise können TrĂ€ume erst im Nachhinein, also nach dem Erwachen, erzĂ€hlt werden. Gerade fĂŒr dramatische Texte ist jedoch die Unmittelbarkeit des Geschehens ein charakteristisches Merkmal, sodass sich der Traum im Drama – im Gegensatz zu einem nachtrĂ€glich erzĂ€hlten Traum – unmittelbar szenisch ereignen kann. In ''Immer noch Sturm ''löst das bestĂ€ndige Ineinandergreifen der beiden Darstellungsmodi diese Grenze zwischen ErzĂ€hlen und Spielen des Traums auf: Der Traum ereignet sich nicht nur unmittelbar, sondern er wird auch unmittelbar im Moment des TrĂ€umens erzĂ€hlt. Hinsichtlich der Vermittlung des Traumgeschehens kann ob der Gleichzeitigkeit von ErzĂ€hlen und Spielen daher von einem performativen TraumerzĂ€hlen gesprochen werden.
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Diese Ko-PrĂ€senz des narrativen und des dramatischen Darstellungsmodus ist vor allem hinsichtlich des ErzĂ€hlt- bzw. Dargestellt-Werdens des Traums interessant. Üblicherweise können TrĂ€ume erst im Nachhinein, also nach dem Erwachen, erzĂ€hlt werden. Gerade fĂŒr dramatische Texte ist jedoch die Unmittelbarkeit des Geschehens ein charakteristisches Merkmal, sodass sich der Traum im Drama – im Gegensatz zu einem nachtrĂ€glich erzĂ€hlten Traum – unmittelbar szenisch ereignen kann. In ''Immer noch Sturm'' löst das bestĂ€ndige Ineinandergreifen der beiden Darstellungsmodi diese Grenze zwischen ErzĂ€hlen und Spielen des Traums auf: Der Traum ereignet sich nicht nur unmittelbar, sondern er wird auch unmittelbar im Moment des TrĂ€umens erzĂ€hlt. Hinsichtlich der Vermittlung des Traumgeschehens kann ob der Gleichzeitigkeit von ErzĂ€hlen und Spielen daher von einem performativen TraumerzĂ€hlen gesprochen werden.
  
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Auf der Ebene der Traumdiegese besteht eine Gleichzeitigkeit von Zeiten, die insbesondere aufgrund des Aussehens und Alters der Figuren deutlich wird: Das ‚Ich‘ sieht sich selbst als eine „heutige Allerweltsfigur, eine von Millionen, im dazugehörigen Interkontinentalaufzug, schon auf den ersten Blick im Gegensatz zu dem zeitlosen lĂ€ndlichen Feiertagsgewand meiner Vorfahren. AuffĂ€llig an mir auch, wieder im Gegensatz zu den anderen, daß ich als einer erscheine, der schon in den Jahren ist, Ă€lter gar als das Großelternpaar.“ (Handke 2010, 10) Im Traum kommen zum einen das als ‚heute‘ zu bezeichnenden Moment des TrĂ€umens, zum anderen das ‚damals‘, dem die Vorfahren entstammen und von dem sie erzĂ€hlen, zusammen und lösen sich in einem unbestimmten ‚hier und jetzt‘ auf, in dem sich das Traumgeschehen ereignet. Der Traum stellt somit einen Rahmen fĂŒr das Erscheinen der verstorbenen Vorfahren dar und ermöglicht dem ‚Ich‘ das (erneute) Zusammentreffen und den Dialog mit ihnen. Er ist ein Begegnungsraum fĂŒr Lebende und Tote, in dem fĂŒr die Dauer des Traums die toten Vorfahren kurzeitig wieder lebendig erscheinen und Erinnerungen und Geschichte gegenwĂ€rtig und erfahrbar werden können.
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Auf der Ebene der Traumdiegese besteht eine Gleichzeitigkeit von Zeiten, die insbesondere aufgrund des Aussehens und Alters der Figuren deutlich wird: Das ‚Ich‘ sieht sich selbst als eine „heutige Allerweltsfigur, eine von Millionen, im dazugehörigen Interkontinentalaufzug, schon auf den ersten Blick im Gegensatz zu dem zeitlosen lĂ€ndlichen Feiertagsgewand meiner Vorfahren. AuffĂ€llig an mir auch, wieder im Gegensatz zu den anderen, daß ich als einer erscheine, der schon in den Jahren ist, Ă€lter gar als das Großelternpaar“ (InS 10). Im Traum kommen zum einen der als ‚heute‘ zu bezeichnende Moment des TrĂ€umens, zum anderen das ‚damals‘, dem die Vorfahren entstammen und von dem sie erzĂ€hlen, zusammen und lösen sich in einem unbestimmten ‚hier und jetzt‘ auf, in dem sich das Traumgeschehen ereignet. Der Traum stellt somit einen Rahmen fĂŒr das Erscheinen der verstorbenen Vorfahren dar und ermöglicht dem ‚Ich‘ das (erneute) Zusammentreffen und den Dialog mit ihnen. Er ist ein Begegnungsraum fĂŒr Lebende und Tote, in dem fĂŒr die Dauer des Traums die toten Vorfahren kurzzeitig wieder lebendig erscheinen und Erinnerungen und Geschichte gegenwĂ€rtig und erfahrbar werden können.
  
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Der Höhepunkt des Traumgeschehens ist ein GesprĂ€ch des ‚Ich‘ mit seinem Onkel und Taufpaten Gregor. Diese Figur erinnert an viele weitere Gregor-Figuren im Werk Handkes und ist wie diese nach dem Vorbild des Gregor Suitz, dem tatsĂ€chlichen Onkel und Taufpaten Handkes angelegt, der 1943 in Russland an der Front ums Leben kam. In einem Brief, den Handke 1963 an seine Mutter schickte, berichtet er von einem Traum, in dem er selbst sich in der Gestalt seines Onkels Gregor im Krieg befindet und als dieser desertiert: „Er wollte desertieren, das begriff ich, denn ich war an seiner Stelle, und es war kein Unterschied zwischen uns.“ (Höller 2007, 7) Das in diesem Brief geschilderte Traumszenario scheint in ''Immer noch Sturm'' fĂŒr einen kurzen Moment zur ‚Wirklichkeit‘ zu werden, als sich Gregor – wenn auch abermals nur im Traum – an einem bestimmten Punkt entscheidet, nicht mehr an die Front zurĂŒckzukehren und sich stattdessen dem Partisanenkampf anschließt. Wenn das ‚Ich‘ und Gregor am Ende aufeinandertreffen und dieser vom ‚Ich‘ als „der Überlebende der drei BrĂŒder meiner Mutter“ (Handke 2010, 134) bezeichnet wird, widerspricht dies der Aussage eines anderen Bruders, Valentin, der sich zu Beginn vorstellt als „der einzige Sohn, der den Krieg ĂŒberlebt hat“ (Handke 2010, 14), sodass sich der Traum insbesondere auch als ein Mittel erweist, Geschichte anders zu erzĂ€hlen und zu schreiben.
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Der Höhepunkt des Traumgeschehens ist ein GesprĂ€ch des ‚Ich‘ mit seinem Onkel und Taufpaten Gregor. Diese Figur erinnert an viele weitere Gregor-Figuren im Werk Handkes und ist wie diese nach dem Vorbild des Gregor Suitz, dem tatsĂ€chlichen Onkel und Taufpaten Handkes, angelegt, der 1943 in Russland an der Front ums Leben kam. In einem Brief, den Handke 1963 an seine Mutter schickte, berichtet er von einem Traum, in dem er selbst sich in der Gestalt seines Onkels Gregor im Krieg befindet und als dieser desertiert: „Er wollte desertieren, das begriff ich, denn ich war an seiner Stelle, und es war kein Unterschied zwischen uns“ (Höller 2007, 7). Das in diesem Brief geschilderte Traumszenario scheint in ''Immer noch Sturm'' fĂŒr einen kurzen Moment zur ‚Wirklichkeit‘ zu werden, als sich Gregor – wenn auch abermals nur im Traum – an einem bestimmten Punkt entscheidet, nicht mehr an die Front zurĂŒckzukehren und sich stattdessen dem Partisanenkampf anschließt. Wenn das ‚Ich‘ und Gregor am Ende aufeinandertreffen und dieser vom ‚Ich‘ als „der Überlebende der drei BrĂŒder meiner Mutter“ (InS 134) bezeichnet wird, widerspricht dies der Aussage eines anderen Bruders, Valentin, der sich zu Beginn vorstellt als „der einzige Sohn, der den Krieg ĂŒberlebt hat“ (InS 14), sodass sich der Traum auch als ein Mittel erweist, Geschichte anders zu erzĂ€hlen und zu schreiben.
  
  
  
 
==Einordnung==
 
==Einordnung==
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''Immer noch Sturm ''ist ein sogenanntes Traumspiel. Als dramatisches Genre wurde das Traumspiel von August Strindberg mit seinem gleichnamigen Drama ''Ett drömspel ''(1902) etabliert, das erstmals als Ganzes einen Traum darstellt. Ob der Ko-PrĂ€senz von narrativem und dramatischem Darstellungsmodus verfĂŒgt ''Immer noch Sturm ''jedoch ĂŒber eine Ebene, die in Strindbergs StĂŒck selbst fehlt, in seiner Vorbemerkung zu ''Ett drömspel ''gleichwohl besonders hervorgehoben wird: „Aber ein Bewußtsein steht ĂŒber allen, das ist das des TrĂ€umers.“ (Strindberg 1920, 144) Im Unterschied zu Strindbergs StĂŒck, das ausschließlich aus der szenischen Darstellung des Traumgeschehens besteht, wird in ''Immer noch Sturm'' mit der Figur des trĂ€umenden ErzĂ€hler-‚Ich‘ das Bewusstsein des TrĂ€umers im StĂŒck immer prĂ€sent gehalten. Aufgrund der Gleichzeitigkeit von ErzĂ€hlen und Spielen kann ''Immer noch Sturm ''– in Anlehnung an Strindberg und gleichzeitig dessen Konzeption des Traumspiels weiterentwickelnd – als ein unmittelbar erzĂ€hltes Traumspiel bezeichnet werden.
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''Immer noch Sturm ''ist ein sogenanntes Traumspiel. Als dramatisches Genre wurde das Traumspiel von August Strindberg mit seinem gleichnamigen Drama ''Ett drömspel'' (Ein Traumspiel, 1902) etabliert, das erstmals als Ganzes einen Traum darstellt. Ob der Ko-PrĂ€senz von narrativem und dramatischem Darstellungsmodus verfĂŒgt ''Immer noch Sturm'' jedoch ĂŒber eine Ebene, die in Strindbergs StĂŒck selbst fehlt, in Strindbergs Vorbemerkung zu ''Ett drömspel ''gleichwohl besonders hervorgehoben wird: „Aber ein Bewußtsein steht ĂŒber allen, das ist das des TrĂ€umers“ (Strindberg 1920, 144). Im Unterschied zu Strindbergs StĂŒck, das ausschließlich aus der szenischen Darstellung des Traumgeschehens besteht, wird in ''Immer noch Sturm'' mit der Figur des trĂ€umenden ErzĂ€hler-‚Ich‘ das Bewusstsein des TrĂ€umers im StĂŒck immer prĂ€sent gehalten. Aufgrund der Gleichzeitigkeit von ErzĂ€hlen und Spielen kann ''Immer noch Sturm'' – in Anlehnung an Strindberg und gleichzeitig dessen Konzeption des Traumspiels weiterentwickelnd – als ein unmittelbar erzĂ€hltes Traumspiel bezeichnet werden.
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|Kristina Höfer]]</div>
  
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<div style="text-align: right;">[[Autoren|KH]]</div>
 
 
==Literatur==
 
==Literatur==
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===Quellen===
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===Ausgabe===
 
* Handke, Peter: Immer noch Sturm. Berlin: Suhrkamp 2010.
 
* Handke, Peter: Immer noch Sturm. Berlin: Suhrkamp 2010.
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* Strindberg, August: Ein Traumspiel. In: Strindberg, August: MĂ€rchenspiele. Ein Traumspiel. MĂŒnchen: Georg MĂŒller 1920, S. 143–224.
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(= zitierte Ausgabe; zitiert als InS)
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===Selbstzeugnisse und Bezugstexte===
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* Greiner, Ulrich/Peter Handke: „Ich komme aus dem Traum“. Ein ZEIT-GesprĂ€ch mit dem Schriftsteller Peter Handke ĂŒber die Lust des Schreibens, den jugoslawischen Krieg und das Gehen in den WĂ€ldern. In: DIE ZEIT 1.02.2006; [http://pdf.zeit.de/2006/06/L-Handke-Interv_.pdf online] (29.08.2016).
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* Handke, Peter/Thomas Oberender: Nebeneingang oder Haupteingang? GesprĂ€che ĂŒber 50 Jahre Schreiben fĂŒrs Theater. Berlin: Suhrkamp 2014.
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* Strindberg, August: Ein Traumspiel. In: August Strindberg: MĂ€rchenspiele. Ein Traumspiel. MĂŒnchen: Georg MĂŒller 1920, 143–224.
  
 
===Forschungsliteratur===
 
===Forschungsliteratur===
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* Abbott, Scott (2015): „Storm still. Klartext und Poesie in Peter Handke’s ''Immer noch Sturm''“. In: ''Handke''online ([http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/abbott-2015.pdf online], zuletzt aufgerufen am 29.09.2015).
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* Abbott, Scott: Storm still. Klartext und Poesie in Peter Handke’s ''Immer noch Sturm''. In: [http://handkeonline.onb.ac.at/forschung/pdf/abbott-2015.pdf Handkeonline]. Forschungsplattform Peter Handke, Originalbeitrag, 1.9.2015 (29.8.2016).
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* Amann, Klaus (2014): „‚Ein Traum von Geschichte‘. Zu ‚einigen Voraussetzungen von Peter Handkes ''Immer noch Sturm''“. In: Estermann, Anna / Höller, Hans (Hrsg.): ''Schreiben als Weltentdeckung. Neue Perspektiven der Handke-Forschung''. Wien: Passagen Verlag, S. 17–46.
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* Amann, Klaus: „Ein Traum von Geschichte“. Zu einigen Voraussetzungen von Peter Handkes ''Immer noch Sturm''. In: Anna Estermann/Hans Höller (Hg.): Schreiben als Weltentdeckung. Neue Perspektiven der Handke-Forschung. Wien: Passagen 2014, 17–46.
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* Bieringer, Andreas (2010): „‚HĂŒhnerleiter wird zur Jakobsleiter‘. Spuren der Liturgie in Peter Handkes StĂŒck ''Immer noch Sturm''“. In: ''Internationale Katholische Zeitschrift Communio ''39 (6), S. 701–708.
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* Bieringer, Andreas: „HĂŒhnerleiter wird zur Jakobsleiter“. Spuren der Liturgie in Peter Handkes StĂŒck ''Immer noch Sturm''. In: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 39 (2010), 701–708.
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* Dorowin, Hermann (2013): „Immer schon Sturm. Zum Theater Peter Handkes“. In: SchininĂ , Alessandra (Hrsg.): ''Studien ĂŒber das österreichische Theater der Gegenwart. Studi sul teatro austriaco contemporaneo''. St. Ingbert: Röhrig UniversitĂ€tsverlag, S. 15–37.
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* Dorowin, Hermann: Immer schon Sturm. Zum Theater Peter Handkes. In: Alessandra SchininĂ  (Hg.): Studien ĂŒber das österreichische Theater der Gegenwart/Studi sul teatro austriaco contemporaneo. St. Ingbert: Röhrig 2013, 15–37.
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* Greiner, Ulrich / Handke, Peter (2006): „Ich komme aus dem Traum. Ein ZEIT-GesprĂ€ch mit dem Schriftsteller Peter Handke ĂŒber die Lust des Schreibens, den jugoslawischen Krieg und das Gehen in den WĂ€ldern“. In: ''Die Zeit ''1.02.2006 ([http://pdf.zeit.de/2006/06/L-Handke-Interv_.pdf online], zuletzt aufgerufen am 14.10.2015).
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* Höller, Hans: Peter Handke. Reinbek: Rowohlt 2007.
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* Handke, Peter / Oberender, Thomas (2014): ''Nebeneingang oder Haupteingang?: GesprĂ€che ĂŒber 50 Jahre Schreiben fĂŒrs Theater. ''Berlin: Suhrkamp.
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* HannesschlĂ€ger, Vanessa : ''Immer noch Sturm''. Entstehungskontext; Quellenlage; Werkmaterialien; Daten zur UrauffĂŒhrung; ForschungsbeitrĂ€ge. In: [http://handkeonline.onb.ac.at/node/623 Handkeonline]. Forschungsplattform Peter Handke (29.08.2016).
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* HannesschlĂ€ger, Vanessa (o.J.): „''Immer noch Sturm.'' Entstehungskontext“. In: ''Handke''online ([http://handkeonline.onb.ac.at/node/623 online], zuletzt aufgerufen am 01.10.215).
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* Leskovec, Andrea: Peter Handkes ''Immer noch Sturm'' oder zur Hintergehbarkeit der Festschreibung. In: Zagreber Germanistische BeitrĂ€ge 22 (2013), 31–51.
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* Höller, Hans (2007): ''Peter Handke.'' Reinbek: Rowohlt.
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* Oberender, Thomas: „Ach, Geschichte. Ah, Leben“ – Wie Geschichte erzĂ€hlen? Über Peter Handkes ''Immer noch Sturm'' das StĂŒck des Jahres und ausgezeichnet mit dem MĂŒhlheimer Dramatikerpreis. In: Theater heute. Jahrbuch 2012, 54–64.
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* Leskovec, Andrea (2013): „Peter Handkes ''Immer noch Sturm'' oder zur Hintergehbarkeit der Festschreibung“. In: ''Zagreber Germanistische BeitrĂ€ge'' 22'', ''S. 31–51.
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* Oberender, Thomas (2012): „‚Ach, Geschichte. Ah, Leben‘ – Wie Geschichte erzĂ€hlen? Über Peter Handkes ''Immer noch Sturm'', das StĂŒck des Jahres und ausgezeichnet mit dem MĂŒhlheimer Dramatikerpreis“. In: ''Theater heute. Sonderheft. Jahrbuch der Zeitschrift'' ''Theater heute''. Berlin: Friedrich Verlag, S. 54–64.
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Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:
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Höfer, Kristina: "Immer noch Sturm" (Peter Handke). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2016; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Immer_noch_Sturm%22_(Peter_Handke) .
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[[Kategorie:21._Jahrhundert]]
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[[Kategorie:Drama]]
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[[Kategorie:Traumspiel]]
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[[Kategorie:Deutschsprachig]]
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[[Kategorie:Österreich]]
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[[Kategorie:Handke,_Peter|Peter Handke]]

Aktuelle Version vom 25. Februar 2022, 18:06 Uhr

Immer noch Sturm ist ein im Jahr 2010 erschienenes TheaterstĂŒck von Peter Handke (*1942), in dem ein Traum sowohl erzĂ€hlt als auch gleichzeitig gespielt wird. Das StĂŒck handelt von einer im Traum stattfindenden Begegnung eines ‚Ich‘ mit seinen bereits verstorbenen Vorfahren und ist thematisch eng verknĂŒpft mit der Geschichte KĂ€rntens und dem Widerstand der KĂ€rntner Slowenen wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs. Die UrauffĂŒhrung fand im August 2011 im Rahmen der Salzburger Festspiele als Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg auf der Perner Insel in Hallein statt. Regie fĂŒhrte Dimiter Gotscheff.


Autor

Der österreichische Schriftsteller Peter Handke wurde am 6. Dezember 1942 in Griffen (KĂ€rnten) geboren. Sein umfangreiches literarisches Werk umfasst sowohl ErzĂ€hl- als auch Theatertexte, aber auch Lyrik, Hörspiele sowie DrehbĂŒcher. DarĂŒber hinaus ist er auch als Übersetzer tĂ€tig. In Handkes Werk ist der Traum ein wichtiges und wiederkehrendes Moment, sowohl in seinen Texten in Form von TraumerzĂ€hlungen oder Traumsequenzen als auch als Inspirationsquelle fĂŒr Texte. Diese NĂ€he zum Traum wurde in der Forschung bislang noch nicht tiefergehend untersucht. Handke selbst misst dem Traum fĂŒr die Literatur generell, vor allem aber auch fĂŒr sein eigenes Schreiben eine große Bedeutung bei: „Und natĂŒrlich spielen TrĂ€ume eine Rolle. Die TrĂ€ume sind ja verschwunden aus der Literatur, dabei sind sie ihr Ursprung. Bei den meisten Schriftstellern sehe ich keinen Traum mehr. Ich komme aus dem Traum“ (Greiner/Handke 2006). Mit Blick auf seine TheaterstĂŒcke spricht er davon, dass das Traumspiel „immer mit dabeisein [muß]“ (Handke/Oberender 2014, 124).


Der Traum

Beschreibung

Immer noch Sturm stellt als Ganzes die PrĂ€sentation eines Traumgeschehens dar. Das StĂŒck beginnt mit einer erzĂ€hlerischen Erkundung der entstehenden Traumlandschaft: „Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo. Jetzt, im Mittelalter, oder wann. Was ist da zu sehen? Eine Sitzbank, eine eher zeitlose, im Mittelgrund, und daneben oder dahinter oder sonst wo ein Apfelbaum, behĂ€ngt mit etwa 99 Äpfeln, FrĂŒhĂ€pfeln, fast weißen, oder SpĂ€tĂ€pfeln, dunkelroten. Sanft abschĂŒssig erscheint mir diese Heide, heimelig. Wem zeigt sie sich? Wem erscheint sie so? Mir hier, im Augenblick“ (InS 7). WĂ€hrend sich die im Traum herrschende Zeit nicht eindeutig bestimmen lĂ€sst, wird die Heidesteppe im Verlauf des Traumgeschehens noch genauer verortet und als KĂ€rntner Jaunfeld bezeichnet. Dort erscheinen dem trĂ€umenden ErzĂ€hler-‚Ich‘ seine bereits verstorbenen Vorfahren: die Mutter, die Großeltern, die vier Geschwister der Mutter. Die Traumlandschaft und das Auftauchen seiner toten Ahnen im Traum hat das ‚Ich‘ in einem hohen Maße selbst evoziert, wie einer der herbeigetrĂ€umten Vorfahren ausspricht: „Zimmert aus seinem Daher- und DahingetrĂ€umten WeltenrĂ€ume. TrĂ€umt, und bestimmt, daß wir Toten nicht tot sind“ (InS 155).

Als ein ‚Ich im Traum‘ kommt das ‚Ich‘ mit seinen Vorfahren auf der Heidesteppe zusammen und erfĂ€hrt von diesen allerhand ĂŒber die Zeit und ihr Schicksal wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs. Berichtet wird von der UnterdrĂŒckung der KĂ€rntner Slowenen durch das NS-Regime, der stĂ€ndigen Bedrohung durch eine mögliche Aussiedlung, dem Verbot, Slowenisch zu sprechen sowie dem Versuch, aktiv, aber dennoch vergeblich, Widerstand gegen die Nationalsozialisten zu leisten. Das ‚Ich‘ erfĂ€hrt außerdem, wie zwei der Geschwister seiner Mutter, Benjamin und Valentin, an der Front ums Leben kommen; wie zwei weitere Geschwister, Ursula und Gregor, sich dem bewaffneten Partisanenkampf anschließen; wie Gregor zum Kommandanten der WiderstandskĂ€mpfer aufsteigt; wie Ursula gefangen genommen und zu Tode gefoltert wird; und wie seine Mutter auf der Suche nach seinem Vater ihre Heimat verlĂ€sst.

Der Traum endet mit dem erneuten Erscheinen aller Vorfahren zum gemeinsamen Singen einer Weltverdrußpolka und dem Auftritt „jener vielen, [
] die vorher zeitweise im Hintergrund vorbeigezogen waren. Jetzt drĂ€ngen sie nach vorn und wĂŒrfeln uns mir nichts, dir nichts, als gĂ€be es uns gar nicht, auseinander, so daß unsererseits wir bei unserem Abgesang sachte in den Hintergrund geraten, und beim Ausklang des Lieds zwischen und hinter den andern mehr oder weniger verschwunden sein werden, erkenntlich höchstens an den Handzeichen, mit denen wir einander noch zuwinken“ (InS 167).

Analyse und Interpretation

Der Traumcharakter des StĂŒcks ist zum einen auf die nur im Traum mögliche Begegnung des ‚Ich‘ mit seinen verstorbenen Vorfahren zurĂŒckzufĂŒhren. Zum anderen kommen beide – der Traumcharakter sowie die traumhafte Begegnung – vor allem durch eine ganze Reihe sogenannter Ko-PrĂ€senzen zustande, die sowohl auf formaler Ebene als auch innerhalb der Traumdiegese bestehen.

Die Vermittlung des Traumgeschehens betreffend zeichnet sich das StĂŒck auf formaler Ebene durch die Ko-PrĂ€senz eines dramatischen und eines narrativen Darstellungsmodus aus. Diese Gleichzeitigkeit zeigt sich besonders deutlich in der ‚Ich‘-Figur, die zum einen als ein ‚Ich im Traum‘, d.h. eine Gestalt im Traum, auftritt und als solches mit seinen Vorfahren auf der Heidesteppe zusammentrifft. Zum anderen ist die ‚Ich‘-Figur aber auch das trĂ€umende ‚Ich‘, das diese Begegnung nicht nur trĂ€umt, sondern seinen Traum auch unmittelbar im Moment des TrĂ€umens erzĂ€hlt. Mit Blick auf die besondere Darstellungsweise des Traums kann mit Thomas Oberender von einer „stĂ€ndigen Pendelbewegung von der Betrachtung zur Involviertheit“ gesprochen werden (Handke/Oberender 2014, 75), d.h. das ‚Ich‘ betrachtet als trĂ€umende ErzĂ€hlinstanz den Traum, in den es gleichzeitig als ein ‚Ich im Traum‘ involviert ist. Sowohl die ‚Ich‘-Figur als auch das StĂŒck selbst bewegen sich daher permanent an bzw. auf der Grenze zwischen ErzĂ€hlen und Spielen des Traums.

Diese Ko-PrĂ€senz des narrativen und des dramatischen Darstellungsmodus ist vor allem hinsichtlich des ErzĂ€hlt- bzw. Dargestellt-Werdens des Traums interessant. Üblicherweise können TrĂ€ume erst im Nachhinein, also nach dem Erwachen, erzĂ€hlt werden. Gerade fĂŒr dramatische Texte ist jedoch die Unmittelbarkeit des Geschehens ein charakteristisches Merkmal, sodass sich der Traum im Drama – im Gegensatz zu einem nachtrĂ€glich erzĂ€hlten Traum – unmittelbar szenisch ereignen kann. In Immer noch Sturm löst das bestĂ€ndige Ineinandergreifen der beiden Darstellungsmodi diese Grenze zwischen ErzĂ€hlen und Spielen des Traums auf: Der Traum ereignet sich nicht nur unmittelbar, sondern er wird auch unmittelbar im Moment des TrĂ€umens erzĂ€hlt. Hinsichtlich der Vermittlung des Traumgeschehens kann ob der Gleichzeitigkeit von ErzĂ€hlen und Spielen daher von einem performativen TraumerzĂ€hlen gesprochen werden.

Auf der Ebene der Traumdiegese besteht eine Gleichzeitigkeit von Zeiten, die insbesondere aufgrund des Aussehens und Alters der Figuren deutlich wird: Das ‚Ich‘ sieht sich selbst als eine „heutige Allerweltsfigur, eine von Millionen, im dazugehörigen Interkontinentalaufzug, schon auf den ersten Blick im Gegensatz zu dem zeitlosen lĂ€ndlichen Feiertagsgewand meiner Vorfahren. AuffĂ€llig an mir auch, wieder im Gegensatz zu den anderen, daß ich als einer erscheine, der schon in den Jahren ist, Ă€lter gar als das Großelternpaar“ (InS 10). Im Traum kommen zum einen der als ‚heute‘ zu bezeichnende Moment des TrĂ€umens, zum anderen das ‚damals‘, dem die Vorfahren entstammen und von dem sie erzĂ€hlen, zusammen und lösen sich in einem unbestimmten ‚hier und jetzt‘ auf, in dem sich das Traumgeschehen ereignet. Der Traum stellt somit einen Rahmen fĂŒr das Erscheinen der verstorbenen Vorfahren dar und ermöglicht dem ‚Ich‘ das (erneute) Zusammentreffen und den Dialog mit ihnen. Er ist ein Begegnungsraum fĂŒr Lebende und Tote, in dem fĂŒr die Dauer des Traums die toten Vorfahren kurzzeitig wieder lebendig erscheinen und Erinnerungen und Geschichte gegenwĂ€rtig und erfahrbar werden können.

Der Höhepunkt des Traumgeschehens ist ein GesprĂ€ch des ‚Ich‘ mit seinem Onkel und Taufpaten Gregor. Diese Figur erinnert an viele weitere Gregor-Figuren im Werk Handkes und ist wie diese nach dem Vorbild des Gregor Suitz, dem tatsĂ€chlichen Onkel und Taufpaten Handkes, angelegt, der 1943 in Russland an der Front ums Leben kam. In einem Brief, den Handke 1963 an seine Mutter schickte, berichtet er von einem Traum, in dem er selbst sich in der Gestalt seines Onkels Gregor im Krieg befindet und als dieser desertiert: „Er wollte desertieren, das begriff ich, denn ich war an seiner Stelle, und es war kein Unterschied zwischen uns“ (Höller 2007, 7). Das in diesem Brief geschilderte Traumszenario scheint in Immer noch Sturm fĂŒr einen kurzen Moment zur ‚Wirklichkeit‘ zu werden, als sich Gregor – wenn auch abermals nur im Traum – an einem bestimmten Punkt entscheidet, nicht mehr an die Front zurĂŒckzukehren und sich stattdessen dem Partisanenkampf anschließt. Wenn das ‚Ich‘ und Gregor am Ende aufeinandertreffen und dieser vom ‚Ich‘ als „der Überlebende der drei BrĂŒder meiner Mutter“ (InS 134) bezeichnet wird, widerspricht dies der Aussage eines anderen Bruders, Valentin, der sich zu Beginn vorstellt als „der einzige Sohn, der den Krieg ĂŒberlebt hat“ (InS 14), sodass sich der Traum auch als ein Mittel erweist, Geschichte anders zu erzĂ€hlen und zu schreiben.


Einordnung

Immer noch Sturm ist ein sogenanntes Traumspiel. Als dramatisches Genre wurde das Traumspiel von August Strindberg mit seinem gleichnamigen Drama Ett drömspel (Ein Traumspiel, 1902) etabliert, das erstmals als Ganzes einen Traum darstellt. Ob der Ko-PrĂ€senz von narrativem und dramatischem Darstellungsmodus verfĂŒgt Immer noch Sturm jedoch ĂŒber eine Ebene, die in Strindbergs StĂŒck selbst fehlt, in Strindbergs Vorbemerkung zu Ett drömspel gleichwohl besonders hervorgehoben wird: „Aber ein Bewußtsein steht ĂŒber allen, das ist das des TrĂ€umers“ (Strindberg 1920, 144). Im Unterschied zu Strindbergs StĂŒck, das ausschließlich aus der szenischen Darstellung des Traumgeschehens besteht, wird in Immer noch Sturm mit der Figur des trĂ€umenden ErzĂ€hler-‚Ich‘ das Bewusstsein des TrĂ€umers im StĂŒck immer prĂ€sent gehalten. Aufgrund der Gleichzeitigkeit von ErzĂ€hlen und Spielen kann Immer noch Sturm – in Anlehnung an Strindberg und gleichzeitig dessen Konzeption des Traumspiels weiterentwickelnd – als ein unmittelbar erzĂ€hltes Traumspiel bezeichnet werden.


Kristina Höfer

Literatur

Ausgabe

  • Handke, Peter: Immer noch Sturm. Berlin: Suhrkamp 2010.

(= zitierte Ausgabe; zitiert als InS)

Selbstzeugnisse und Bezugstexte

  • Greiner, Ulrich/Peter Handke: „Ich komme aus dem Traum“. Ein ZEIT-GesprĂ€ch mit dem Schriftsteller Peter Handke ĂŒber die Lust des Schreibens, den jugoslawischen Krieg und das Gehen in den WĂ€ldern. In: DIE ZEIT 1.02.2006; online (29.08.2016).
  • Handke, Peter/Thomas Oberender: Nebeneingang oder Haupteingang? GesprĂ€che ĂŒber 50 Jahre Schreiben fĂŒrs Theater. Berlin: Suhrkamp 2014.
  • Strindberg, August: Ein Traumspiel. In: August Strindberg: MĂ€rchenspiele. Ein Traumspiel. MĂŒnchen: Georg MĂŒller 1920, 143–224.

Forschungsliteratur

  • Abbott, Scott: Storm still. Klartext und Poesie in Peter Handke’s Immer noch Sturm. In: Handkeonline. Forschungsplattform Peter Handke, Originalbeitrag, 1.9.2015 (29.8.2016).
  • Amann, Klaus: „Ein Traum von Geschichte“. Zu einigen Voraussetzungen von Peter Handkes Immer noch Sturm. In: Anna Estermann/Hans Höller (Hg.): Schreiben als Weltentdeckung. Neue Perspektiven der Handke-Forschung. Wien: Passagen 2014, 17–46.
  • Bieringer, Andreas: „HĂŒhnerleiter wird zur Jakobsleiter“. Spuren der Liturgie in Peter Handkes StĂŒck Immer noch Sturm. In: Internationale Katholische Zeitschrift Communio 39 (2010), 701–708.
  • Dorowin, Hermann: Immer schon Sturm. Zum Theater Peter Handkes. In: Alessandra SchininĂ  (Hg.): Studien ĂŒber das österreichische Theater der Gegenwart/Studi sul teatro austriaco contemporaneo. St. Ingbert: Röhrig 2013, 15–37.
  • Höller, Hans: Peter Handke. Reinbek: Rowohlt 2007.
  • HannesschlĂ€ger, Vanessa : Immer noch Sturm. Entstehungskontext; Quellenlage; Werkmaterialien; Daten zur UrauffĂŒhrung; ForschungsbeitrĂ€ge. In: Handkeonline. Forschungsplattform Peter Handke (29.08.2016).
  • Leskovec, Andrea: Peter Handkes Immer noch Sturm oder zur Hintergehbarkeit der Festschreibung. In: Zagreber Germanistische BeitrĂ€ge 22 (2013), 31–51.
  • Oberender, Thomas: „Ach, Geschichte. Ah, Leben“ – Wie Geschichte erzĂ€hlen? Über Peter Handkes Immer noch Sturm das StĂŒck des Jahres und ausgezeichnet mit dem MĂŒhlheimer Dramatikerpreis. In: Theater heute. Jahrbuch 2012, 54–64.


Zitiervorschlag fĂŒr diesen Artikel:

Höfer, Kristina: "Immer noch Sturm" (Peter Handke). In: Lexikon Traumkultur. Ein Wiki des Graduiertenkollegs "EuropÀische Traumkulturen", 2016; http://traumkulturen.uni-saarland.de/Lexikon-Traumkultur/index.php?title=%22Immer_noch_Sturm%22_(Peter_Handke) .